Lieber krepieren als therapieren
Bei der Freilassung des Bankräubers Hugo Portmann wurde eine Grundsatzfrage mitverhandelt: Wie geht die Gesellschaft mit unbequemen Zeitgenossen um, die sich partout nicht unterordnen?
Von Yvonne Kunz, 11.04.2018
Ort: Bezirksgericht Horgen
Zeit: 4. April 2018, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: DA180001
Thema: Vorzeitig bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug
Das Bezirksgericht Horgen hat entschieden: Der bekannte Bankräuber Hugo Portmann wird aus dem Strafvollzug entlassen. Am 16. Juli 2018, einen Tag vor Verbüssung der gesamten Haftdauer von sage und schreibe 35 Jahren. Dann wolle Portmann als einfacher Mann noch ein paar gute Jahre in Freiheit leben, wie er in der Befragung durch den Gerichtsvorsitzenden Bruno Derungs sagte. Wahrscheinlich als Müllmann, da macht er sich keine Illusionen.
Und so kam es zur rekordverdächtigen Strafe: Als revolverschwingender Outlaw überfiel Portmann von 1983 bis 1999 fünf Provinz- und Agglo-Banken, wofür er zwölf, fünf und zwei Mal neun Jahre kassierte. Sein Vorgehen zeugte von wenig Skrupel: Er kettete Direktorengattinnen an Heizungsradiatoren, lieferte sich mehrfach Verfolgungsjagden und Schiessereien mit der Polizei. Verletzt oder gar getötet wurde niemand, die Beute war bescheiden. Immer wieder wurde er gefasst, immer wieder gelang ihm die Flucht. Einmal, indem er beim Winterdienst in der Anstalt den Schnee so hoch auftürmte, dass er bequem über die Mauer steigen konnte.
Die Ausbrecheranekdote charakterisiert Portmann trefflich – gestern und heute. So «schulisch schwach» der schwere Legastheniker auch sein mag – einen klaren Kopf hat er allemal. Und um diesen Kopf ging es in dieser Verhandlung: Hat sich Portmann so weit gebessert, dass man ihn in die Gesellschaft entlassen kann – oder muss man ihn nach abgesessener Strafe verwahren? Zwar nennt er seine frühere Outlaw-Mentalität heute dumm. Aber auch wenn er in Cargopants und kühn gemustertem Strickpullover, mit Glatze und angegrautem Bart tatsächlich schon etwas Müllmann-Charme versprüht: Seiner unbeugsamen Gradlinigkeit konnten auch Jahrzehnte im Knast nichts anhaben. In den Worten des heute knapp Sechzigjährigen: «Ich war eingesperrt, aber immer auch zu zwanzig Prozent frei.»
Ohne Therapie keine Freiheit
Diese Unbeugsamkeit hat ihn sechs oder sieben Jahre seiner Freiheit gekostet. Hätte er sich nämlich, wie mehrfach geheissen, einer «freiwilligen deliktorientierten Psychotherapie» unterzogen, wäre er wohl schon lange frei. Seine Führungsberichte waren gut, zuletzt blendend. Doch die Behörden stellten sich auf den Standpunkt, hier sei die Aufarbeitung der Taten Voraussetzung für die entscheidende Senkung des Rückfallrisikos. Noch im letzten November verweigerte die Fachkommission vom Strafvollzug des Kantons Zürich Portmann deshalb wesentliche Hafterleichterungen. Ohne Therapie keine Freiheit.
Trotzdem: Den ganzen «Psychoschrott» habe er nie mitgemacht, sagte Portmann auch bei seinem letzten Auftritt vor Gericht. Sinngemäss: Lieber die harte Tour, als in der Zürcher Gefängnispsychiatrie zum willenlosen Psycho-Zombie zu verkommen, wie viele andere Langzeitsträflinge. Lieber krepieren als therapieren, so sein Motto. Stattdessen stählte er seinen Körper mit Yoga und hielt seinen Geist mit Meditation statt Medikamenten im Gleichgewicht. Er lebte asketisch, schläft bis heute auf einer dünnen Matte am Boden und fastete mit den Muslimen.
Dass er sich damit der Aufarbeitung seiner Delikte verweigert haben soll, wie ihm die Strafvollzugsbehörden vorwerfen, lässt Portmann nicht gelten. Er habe jede Menge Zeit zum Nachdenken gehabt, sagte er mit leisem Sarkasmus. Er wisse schon, was er getan habe. Gegen die Strafe habe er sich ja auch nie gewehrt und jeder Tag «drinnen» habe wehgetan. Aber seine inneren Angelegenheiten gingen den Staat nichts an.
Sein Verteidiger Bruno Steiner zitierte genüsslich aus dem neuesten Gutachten: «Herr Portmann zeigt auch ohne Therapie ein erhebliches Ausmass an Selbstreflexion.» Die mangelnde Motivation zur therapeutischen Auseinandersetzung mit seinen Taten sei ihm nicht anzulasten – weder im prognostischen Sinn noch moralisch. Allein schon, weil dazu schlicht keine Verpflichtung bestand. Somit steht für Verteidiger Steiner fest: Mit der Verweigerung von Hafterleichterungen haben die Zürcher Behörden gegen Artikel 3 und 5 der Menschenrechtskonvention verstossen, gegen das Verbot der Folter und das Recht auf Freiheit.
Wie viel Abweichung ist erlaubt?
Man braucht nicht so weit zu gehen wie Portmann oder Steiner, die im «Zürcher System» eine menschenverachtende Hirnwäscherei erblicken. Es fällt auch so auf, wie sehr sich das Blatt wendete, als ein ausserkantonaler Gutachter beigezogen wurde. Zuvor hatten Portmann und sein Verteidiger 38 vom Kanton Zürich vorgeschlagene Gutachter als befangen abgelehnt.
Befangen, weil gefangen im «System Urbaniok», wie sie glauben. Frank Urbaniok ist der einflussreiche Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) im Amt für Justizvollzug des Kanons Zürich. Mit Fotres, seinem Qualitätsmanagement- und Prognoseinstrument, wird im Kanton Zürich das Rückfallrisiko von Straftätern und Straftäterinnen eingeschätzt. Mit 70-prozentiger Treffsicherheit, wie es heisst.
Das ist in einer auf Sicherheit bedachten Gesellschaft beruhigend, die Berechenbarkeit ungern infrage stellt. Doch Fotres ist umstritten. Man könnte genauso gut TV-Wahrsager Mike Shiva fragen, ätzte Bruno Steiner in seinem Plädoyer. Die Ergebnisse seien weder überprüfbar noch wissenschaftlich, sagen andere Kritiker. Mehr noch, meint der lauteste unter ihnen: Der profilierte forensische Psychiater Mario Gmür nennt die Methode «statistische Menschenvermessung».
Der Wochenzeitung «Die Zeit» sagte Gmür kürzlich, mit der Methode liessen sich in jeder Persönlichkeit hochproblematische Aspekte finden. Abzug gebe es zum Beispiel für Scheidungskinder und Schulklassenrepetierer. Aber auch für Widerspruchsgeist oder ein haltloses Sexleben. Das erscheint vor allem in Verbindung mit dem Entscheid des Bundesgerichts etwas ungemütlich, wonach zur Verwahrung eine psychische Krankheit nicht mehr zwingend ist. Eine «akzentuierte Persönlichkeit» reicht.
Doch wie viel Abweichung braucht es zur Akzentuierung? Von welcher Norm? Reicht Therapieverweigerung? Was ist dann mit, sagen wir, Impfgegnern? Inwiefern ist Angepasstheit überhaupt ein Kriterium für die Gefährlichkeit eines Menschen? Sind all die Fragen nicht ein Zeichen für arg viel Raum für Willkür? Es gilt ja nicht festzustellen, ob der Täter allenfalls zu einem notorischen Falschparkierer wird oder sonst wie mühsam in Erscheinung treten könnte. Sondern ob, wie im vorliegenden Fall, Portmann seinen Lebensunterhalt alsbald wieder mit bewaffneten Raubüberfällen bestreiten wird. «Deutlich unwahrscheinlich», sagt der ausserkantonale Gutachter Marc Graf.
Trotzdem: Oberstaatsanwalt Martin Bürgisser bleibt dabei. Portmann habe sich schlicht geweigert, seine Delikte aufzuarbeiten. Stattdessen habe er sich auf «das System» eingeschossen. Diese Haltung sei «eher tragisch als heldenhaft». Portmann habe nämlich etwas missverstanden: Bei der deliktorientierten Therapie gehe es nicht darum, einen gesunden Menschen noch gesünder zu machen, wie Portmann behaupte, sondern gesellschaftsfähig. Und das gehöre nun mal mit dazu. Deshalb könne auch von einem Verstoss gegen Menschenrechte keine Rede sein. Er sei ohnehin nicht hier, um eine Grundsatzdebatte zum Strafvollzug zu führen, sagt Bürgisser in einem Seitenhieb gegen Steiner. «Ein Spiegelgefecht.»
Verwahrung als Motivationsspritze
Im Grundsatz sind sich die beiden Rechtsvertreter dennoch einig: Portmann ist bereit. Man habe eine «Reifung der Persönlichkeit» festgestellt, sagt jetzt auch das Amt für Justizvollzug. Die drohende Verwahrung auf unbestimmte Zeit hätte Portmann deutlich gemacht: Er hat viel zu verlieren und viel zu gewinnen. Er wisse, was auf dem Spiel steht. Die Verwahrung als Motivationsspritze.
«Sie müssen jetzt mitmachen!» Gerichtspräsident Derungs feuerte Portmann bei der Verkündigung der Freilassung geradezu an. Nutzen Sie die Bewährungshilfe! Er solle sie nicht als staatlichen Druck sehen – sie sei dazu da, für ihn die besten Lösungen zu finden. Drei Jahre hat Portmann jetzt Zeit, sich zu bewähren, so lange dauert seine Probezeit. Und drei Monate, um ein Leben in Freiheit aufzugleisen.
Illustration Friederike Hantel