Gegen die Empörungsspirale
Warum wird der öffentliche Diskurs immer aggressiver und gereizter? Was kann die Sachlichkeit retten?
Von Daniel Binswanger, 07.04.2018
Die Schweizer Nachrichtenlage wird von zwei Ereignissen geprägt, die gemeinsam die ganze Spannweite des Politik- und Öffentlichkeitswandels durch soziale Medien abstecken, im Guten wie im Bösen. Zum einen schleppt sich die Facebook-Saga dahin, und die Zahl der von Cambridge Analytica potenziell ausgewerteten User-Datensätze ist mittlerweile auf 87 Millionen gestiegen. Rund 30’000 sollen aus der Schweiz stammen. Immer fulminanter bestätigt sich, dass Facebook als globales Organ, das Verschwörungstheorien, Propaganda-Aktionen, ja vermutlich geheimdienstlich organisierte Cyber-Kriegsakte ausspielt, die Grundlagen der westlichen Demokratien zu zerstören droht.
Zum anderen beweisen eine Handvoll Schweizer Privatpersonen, unter ihnen die Schriftstellerin Sibylle Berg, der Campaigner Dimitri Rougy und der Rechtsanwalt Philip Stolkin, welch gewaltiges Aktivierungs-, Partizipations-, und Aufklärungspotenzial die sozialen Medien haben. Die drei haben sich nicht nur kennengelernt über soziale Medien, auf denen sie ihrer Empörung über das neue «Gesetz zur Überwachung von Versicherten» Luft machten, sondern sie haben durch Aufrufe auf Facebook und Twitter in kürzester Zeit auch eine beträchtliche Zahl von Befürwortern eines Referendums gegen das Überwachungsgesetz mobilisiert und über die Internetplattform wecollect.ch Unterschriften (bis Freitagmittag über 6000) und Spendengelder gesammelt.
Ohne Internet-Campaigning und Social Media wäre es undenkbar, dass ein paar verstreute Bürgerinnen ohne Rückhalt bei einer Partei oder sonst einer «referendumsfähigen» Organisation eine Aktion dieser Art auf die Beine stellen. Ob sie letztendlich Erfolg haben werden, bleibt offen, aber allein die Medienresonanz, die sie auslösen, ist beachtlich. Es stellt einen eigentlichen Akt des zivilgesellschaftlichen Widerstands dar gegen die Übergriffigkeit von Wirtschaftsinteressen, denen sich weder das Parlament noch die Parteien in den Weg zu stellen wagen. Ganz offensichtlich ist das Internet 2.0 zum Besten und zum Schlimmsten fähig – zur Manipulierung demokratischer Prozesse genauso wie zur Ermächtigung der Zivilgesellschaft.
In seinem Essay «Die grosse Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung» bringt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen genau diese Zweischneidigkeit des heutigen Mediensystems brillant auf den Begriff. Den zunehmenden Autoritätsverlust von Gatekeepern der Information – also von professionellen Journalisten – und die Tatsache, dass jede Bürgerin und jeder Bürger mit einem Smartphone die Grundausstattung in der Tasche trägt, um Informationen live zu verbreiten und in den öffentlichen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess einzugreifen, sieht er als grosse Chance für die Zukunft der Demokratie. Er analysiert jedoch auch messerscharf die Pathologien, von denen das heutige Mediensystem – das professionelle und das soziale – befallen ist.
Die Öffentlichkeit werde immer mehr beherrscht von Gereiztheit, von sich gegenseitig emporschraubenden Erregungsspiralen, sagt Pörksen. Das eigentliche Problem der heutigen Medien sind nicht die «filter bubbles», die Einengung des Informationsflusses auf Nachrichten und Meinungen, die dem entsprechen, was ich ohnehin schon glaube. Das eigentliche Problem ist der permanente «Clash der Codes». Die heutige Informationslage werde bestimmt durch ständige «Sofortkonfrontation und Ad-hoc-Vergleichbarkeit», sagt Pörksen. Es fehlen «Rückzugsräume der Unbefangenheit». Zwar hat der Medien-User heute die Möglichkeit, die Weltanschauungsblase seiner Gesinnung kaum mehr zu verlassen, aber er wird dennoch permanent irritiert durch Medienechos aus anderen Gesinnungsräumen. Ständig sei er konfrontiert mit Live-Bildern, Tweets, Provokationen von Akteuren, die wir im traditionellen Mediensystem nur aus der Ferne hätten wahrnehmen müssen, denen wir uns heute aber kaum mehr entziehen können, sagt Pörksen.
In der vernetzten Kommunikation werden wir «in eine Art Nachbarschaft hineingezwungen». Man denke nur an Donald Trump, den obszönen News-Anarchisten, der bei allen grotesken Widersprüchen, bei aller wahnwitzigen Sprunghaftigkeit, bei aller Verachtung, mit der wir ihm begegnen mögen, unser Leben durchdringt wie vor ihm noch nie ein amerikanischer Präsident. In seiner Mischung aus lodernder Substanzlosigkeit und Omnipräsenz erscheint er als der «negative Held» unserer Epoche.
Die Informationsverbreitung und die Informationsverarbeitung driften immer weiter auseinander. Die Verbreitung der Information wird immer schneller und flächendeckender, weil jedes Smartphone dieser Welt in Echtzeit senden kann. Die Verarbeitung wird immer langwieriger und unübersichtlicher, weil immer mehr Quellen sowohl zur Verfügung stehen als auch zweifelhaft werden. Das Resultat ist die grosse Gereiztheit. Und eine öffentliche Konfliktkultur, die sich immer mehr vom eigentlichen Gegenstand des Konflikts entfernt und sich auf eine Metaebene der Empörung emporschraubt. Es geht immer mehr um Wut, Betroffenheit und was der Gegner Respektloses gesagt hat – und immer weniger um die Sache.
Man nehme die deutschen Auseinandersetzungen über die Flüchtlingskrise. Eigentlich gibt es zwischen den verfeindeten Lagern beinahe keine Möglichkeit mehr für eine nüchterne Diskussion über Sachfragen. Die Kritiker von Angela Merkels Einwanderungspolitik haben nur noch eine Ansage, die in obsessiver Endlosschleife wiederholt wird (vorzugsweise in der NZZ oder der BaZ): Nicht Einwanderung ist schlecht, sondern ich darf nicht mehr sagen, dass Einwanderung schlecht ist. Nicht ich bin konservativ, sondern ich werde in die rechte Ecke gestellt. Nicht wir haben ein Problem, sondern ich bin das Opfer einer unkorrekten Vorverurteilung (den Ausdruck «politisch unkorrekt» verwendet man ausschliesslich als Kampfbegriff gegen links). Die konservativen deutschen Meinungsführer haben aktuell die gesellschaftliche Mehrheit und die Macht hinter sich, aber sie agieren wie eine bedrohte #MeToo-Gruppe. Jede weitere Sachdiskussion erübrigt sich.
Natürlich hat auch die Gegenseite nicht unähnliche Reflexe: Die Befürworterinnen der Flüchtlingspolitik stellen tatsächlich schnell den Vorwurf in den Raum, Merkel-Kritiker machten sich gemein mit dem Rechtspopulismus – was nun weiss Gott nicht immer falsch ist. Aber auch das bedient zwangsläufig eine reflexive Ebene der Entrüstung. Die Reflexion hat hier selten die Aufgabe, die Ansätze zur Sacherkenntnis zu schärfen. Sie führt stattdessen in die von allen Realitätschecks entlasteten Höhen einer Meta-Empörung.
Trotz seiner deprimierenden Analyse der heutigen Situation bleibt Pörksen jedoch optimistisch. Er entwickelt die «konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft». Da die klassischen Medien ihr Gatekeeper-Monopol verloren haben, bleibt nichts anderes übrig, als der gesamten Gesellschaft minimale Medienkompetenzen anzuerziehen. Ob sich das so einfach bewerkstelligen lässt, muss dahingestellt bleiben. Grundsätzlich stimmt es eher skeptisch, wenn die Antwort auf ein politisches Fundamentalproblem darin bestehen soll, dass man die Gesellschaft umerzieht. Solche Lösungsansätze klappen bekanntlich selten. Trotzdem ist die Forderung, dass Informationsbeschaffungs-Kompetenz zum Schulfach werden müsste, ein simples Gebot des gesunden Menschenverstandes. Was könnte wichtiger sein?
Die konkreten Manifestationen der «fünften Gewalt», des aufgeklärten und zur Kritik der Macht befähigenden Umgangs mit sozialen Medien, sind vielleicht bedeutungsvoller. Wie zum Beispiel eben das Referendum gegen die Überwachung. Es wäre gut möglich, dass es nicht nur für die Sozialpolitik, sondern auch für den Diskurs der Öffentlichkeit in der Schweiz einen Wendepunkt markiert. Ganz nüchtern: Hoffen wir es.
Illustration Alex Solman