«Die Frage ist, ob sich Europa retten lässt»
Heiner Flassbeck ist die Ausnahmeerscheinung unter Deutschlands Top-Ökonomen. Der EU-Befürworter übt seit über zwanzig Jahren Kritik an der europäischen Wirtschaftspolitik.
Von Daniel Binswanger, Mark Dittli (Interview) und Laurence Rasti (Bilder), 03.04.2018
«Es ist für jemanden wie mich gar nicht schlecht, im Exil zu leben», sagt Heiner Flassbeck und lacht dabei, als er uns in seinem Haus in einem französischen Vorort von Genf empfängt. Flassbeck hat eine einmalige Position unter Deutschlands führenden Ökonomen: Er ist zugleich ein Insider und ein völliger Outsider.
Ein Outsider ist er durch seine stark von Keynes geprägten Positionen, die der in Deutschland dominierenden Lehre diametral entgegengesetzt sind. Schon 1997 hat er die deutsche Politik der Lohnzurückhaltung öffentlich kritisiert und darauf hingewiesen, dass sie die Eurozone in eine existenzbedrohende Schieflage zu bringen droht. Er hat sich damit in Deutschland keine Freunde gemacht, aber seine Voraussagen sind Jahre später auf dramatische Weise bestätigt worden.
Ein Insider ist Flassbeck, weil er phasenweise an wichtigen Schaltstellen der Macht gesessen ist und international hohe Reputation geniesst. Als Staatssekretär im deutschen Finanzamt unter Oskar Lafontaine (damals SPD) war er ein kritischer (und schnell kaltgestellter) Begleiter der Schröder-Reformen. Als Chefökonom der UNCTAD, der Uno-Organisation für Handel und Entwicklung, prägte er nicht nur die internationalen Debatten, sondern sass als Beobachter bei grossen Verhandlungen mit am Tisch. Er ist ein brillanter Theoretiker, aber er kennt die praktische Politik und das politische Personal.
Seit Jahren führt Flassbeck einen publizistischen Feldzug gegen die europäische Wirtschaftspolitik und das deutsche Spardiktat. Jüngst publizierte er gemeinsam mit Jörg Bibow «Das Euro-Desaster. Wie deutsche Wirtschaftspolitik die Euro-Zone in den Abgrund treibt». Zudem ist er Mitherausgeber des Online-Magazins «makroskop.eu», das sich mit wirtschaftspolitischen Analysen an ein breites Publikum richtet.
Herr Flassbeck, die europäische Konjunktur entwickelt sich aktuell recht positiv. Die Prognosen sind optimistisch. Ist die Krise vorbei?
Nein. Erstens geht es noch nicht überall wieder aufwärts. Zweitens geht es immer irgendwann aufwärts, wenn man tief genug abgestürzt ist. Das hat keine Bedeutung. Italien hat sechs Jahre Rezession hinter sich. Was bedeutet es da, wenn die Industrieproduktion drei Monate nach oben geht? Nichts. Frankreich hat sechs Jahre Stagnation durchlebt, auch hier ist die Erholung bescheiden. Die Arbeitslosigkeit liegt in Frankreich bei neun Prozent, in Italien bei elf Prozent, und auch das nur, wenn man die offiziellen Zahlen nimmt. Dass wir acht, neun Jahre nach Beginn der Rezession die Arbeitslosigkeit nicht weiter gesenkt haben, ist eine Katastrophe.
Was ist der Grund dafür?
Es hat nichts mit den sogenannten strukturellen Gründen zu tun, die immer genannt werden. Der Grund ist die gescheiterte europäische Wirtschaftspolitik, dieser Austeritäts- und Sparwahn, für den wir in Italien jetzt die politische Rechnung präsentiert bekommen haben. In Frankreich hätten wir sie fast bekommen, aber dann trat der Heiland Macron auf die Bühne und hat Europa noch einmal gerettet. Die Frage ist nur, ob sich Europa noch lange retten lässt.
Sie meinen also, die Erholung ist zu schwach und zu langsam?
Ja. Wenn es aus irgendeinem Grund zu einer globalen Krise oder einer grösseren Rezession kommt, dann wird es eng. Dann kommen in Frankreich und Italien zur aktuellen Arbeitslosigkeit von rund zehn Prozent noch einmal fünf bis sechs Prozent hinzu, und es wird wirklich ungemütlich. In Italien wird der Lega-Führer Matteo Salvini unter solchen Bedingungen nicht mehr 18, sondern 60 Prozent der Stimmen holen. Das einzige Land in Europa, das sich über die letzten Jahre gut entwickelt hat, ist Deutschland und in seinem Kielwasser vielleicht noch Österreich.
Warum ist das so?
Deutschlands Erfolg gründet darauf, dass sich seine Lohnstückkosten, also die Lohnkosten, die ein Unternehmer bezahlen muss, um ein bestimmtes Produkt zu produzieren, seit der Einführung des Euros 1999 kaum erhöht haben. In Deutschland sind über Jahre die Löhne nicht gestiegen. Deshalb blieb die Preisentwicklung unter dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank, das bei knapp zwei Prozent liegt. Es konnten aber nicht alle Länder unter diesem Ziel bleiben, denn dann hätten wir von Beginn des Euros an Deflation und eine wirtschaftliche Katastrophe gehabt. Den deutschen Erfolg können Deutschlands Nachbarn unmöglich wiederholen. Wenn alle dasselbe Rezept anwenden, funktioniert es nicht. Einer kann im Kino aufstehen, um die Leinwand zu sehen, aber wenn alle das tun, sieht keiner mehr etwas.
Was ist falsch daran, dass Deutschland über Lohnzurückhaltung seine internationale Wettbewerbsfähigkeit gesteigert hat?
Das war nur möglich, weil Deutschland die Gemeinschaftswährung ausnutzte und die anderen Länder in der Eurozone es nicht merkten. So einen aussenwirtschaftlichen Schub wie unter der Währungsunion hat die deutsche Wirtschaft in ihrer ganzen Geschichte nie erlebt. Der Exportanteil ist von dreissig auf fünfzig Prozent gestiegen, in bloss zehn Jahren. Solche Zuwachsraten sind schlicht irre. Hätte Deutschland noch die D-Mark gehabt, hätte sich die Währung massiv aufgewertet und die Exportüberschüsse korrigiert. Deutschland war der grösste Nutzniesser des Euros.
Wieso können denn die anderen Länder der Währungsunion nicht dasselbe tun wie Deutschland?
Es funktioniert nur, wenn es nur wenige machen. Es können nicht alle gleichzeitig ihr Lohnniveau einfrieren und Exportüberschüsse erwirtschaften. Jedem Exportland muss ein Importland gegenüberstehen. Aber längerfristig funktioniert das exportgetriebene Wachstum für gar niemanden, auch nicht für den «Weltmeister» Deutschland. Durch die Handelsungleichgewichte wird die Währungsunion nämlich zu einer fürchterlichen Falle für die Defizitländer. Weil sie keine eigene Währung mehr haben, die sie abwerten könnten, bleibt ihnen als einziges Mittel, auf Deutschlands Preisvorteil zu reagieren, das eigene Lohnniveau zu senken. Wechselkurse abwerten kann man relativ leicht, starke, flächendeckende Lohnsenkungen hingegen sind für die betroffenen Länder eine Katastrophe.
Weshalb? Kann es nicht zur Gesundung einer Volkswirtschaft führen, wenn man den Gürtel enger schnallt?
Nein, das ist falsch. Nehmen Sie Griechenland: Die Löhne sind um knapp dreissig Prozent gesunken, und was kam dabei heraus? Eine tiefe Depression. Die Arbeitslosigkeit ist durch die Decke gegangen. Das kann die heute dominierende Wirtschaftslehre nicht erklären. Wenn die Löhne sinken, müsste die Beschäftigung doch steigen. Das geschieht aber nicht. Die Folge sind fürchterliche Zustände in Griechenland.
Würden die Neoklassiker unter den Ökonomen da nicht einfach sagen, dass die Gesundung halt noch etwas Zeit braucht?
Ja ja, langfristig sind wir doch alle tot. Nein, jetzt aber im Ernst: Das ist Quatsch. Das passiert nie, weil der Beschäftigungseffekt von Lohnsenkungen anders funktioniert, als das von der Neoklassik unterstellt wird. Es gibt gemäss der Theorie zwei Mechanismen, die Arbeitsplätze schaffen, wenn die Löhne sinken. Der eine ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland. Das ist das, was Deutschland gemacht hat nach 1999, und es hat nur wegen der Währungsunion geklappt. Ausserhalb der Währungsunion hätte es nicht geklappt, weil die D-Mark nach ein, zwei Jahren aufgewertet hätte, und damit wäre der Exportschub vorbei gewesen.
Und was ist der zweite Mechanismus?
Der zweite Mechanismus soll darin gründen, dass Lohnsenkungen die Produktionsstruktur verändern. Die theoretische Annahme besagt, dass die Unternehmen bei tieferen Löhnen mehr Arbeiter und weniger Maschinen brauchen, weil es lohnend wird, teure Maschinen durch billige Arbeit zu ersetzen. Doch dieser Substitutionseffekt lässt sich empirisch nicht beobachten. Die Unternehmen fangen nicht an, Maschinen einzumotten und Leute einzustellen. In Deutschland wird der Mythos aufrechterhalten, dass die Hartz-4-Reformen und die Agenda 2010 ein Beschäftigungswunder ausgelöst haben. Es ist richtig, dass das funktioniert hat, aber nur über den Export. Es gab keinen anderen Mechanismus. Die deutsche Binnennachfrage entwickelte sich wegen der Lohnzurückhaltung katastrophal schlecht.
Sie haben vorhin mit Griechenland ein Extrembeispiel erwähnt. Wie ist es mit Spanien? Spanien hat seinen Arbeitsmarkt reformiert und ist wieder gut auf die Beine gekommen.
Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei 15 Prozent in Spanien.
Sie war mal bei 25 Prozent. Die Richtung stimmt doch.
Spanien hat auch die Löhne gesenkt, allerdings deutlich weniger als Griechenland. Aber Spanien ist ein Sonderfall, denn es sieht danach aus, als wären die offiziellen Zahlen zum Bruttoinlandprodukt schlicht falsch.
Können Sie das beweisen?
Es gibt unter spanischen Ökonomen schon lange eine Diskussion darüber, dass die BIP-Zahlen nicht zutreffen können. Spanien hat in der Krise genau den gleichen Rückgang in der Industrieproduktion erlitten wie Griechenland. Es hatte genau den gleichen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Der Immobiliensektor ist vollkommen zusammengebrochen. Und um wie viel ist das spanische BIP gefallen? Um 10 Prozent. Das griechische BIP ist um 25 Prozent eingebrochen. Schon diese statistische Begebenheit ist kaum erklärbar. Jetzt soll das spanische BIP nach den offiziellen Zahlen wieder dramatisch gestiegen sein, obwohl sich im Land, wenn man die Zahlen zu den einzelnen Wirtschaftssektoren betrachtet, nur wenig bis gar nichts tut. Das geht nicht auf. Die Zahlen sind in meinen Augen – aber das ist eine Vermutung, die ich nicht beweisen kann – schlicht falsch.
Aber es gibt doch auch harte Indikatoren für eine Besserung. Das Leistungsbilanzdefizit ist verschwunden. Spanien erwirtschaftet heute im Handel mit dem Ausland einen Überschuss.
Das ist einfach zu erklären. Der Grund ist der Rückgang der Importe in der schweren Krise. Auch Italien hat heute einen Überschuss, aber sicher nicht, weil es gut dasteht, sondern weil es wegen der Wirtschaftskrise immer weniger importiert. Das ist normal: In einer tiefen Rezession sinken die Importe so stark, dass ein Handelsüberschuss entsteht. Aber das hat keine Bedeutung.
Sie sagen also, die Erholung sei ungenügend. Aber man kann das auch anders sehen: Die Kurven bewegen sich in die richtige Richtung. Es wird wieder besser in Europa.
Schauen Sie nach Italien. Die Lage dort ist schlimm. Die politische Entwicklung ist besorgniserregend. Ich kenne das politische Personal in Italien gut, ich bin oft da. Das Ergebnis der Wahlen ist absolut anti-europäisch. Bei Cinque Stelle gibt es eine Basisbewegung, die gegen den Euro ist. Die Lega ist massiv und offen gegen den Euro. Das ist das Ergebnis der deutschen Politik, die sechs Jahre Rezession in Italien verursacht hat. Ich habe immer gesagt: Natürlich sind Völker leidensfähig, aber irgendwann geht das mit der Demokratie nicht mehr zusammen. Dann bekommt man Wahlergebnisse, die die Demokratie gefährden. Die italienischen Wahlergebnisse sind eine Katastrophe, jedenfalls von einem europäischen Gesichtspunkt betrachtet.
Und Sie sagen: Die Ursache für das Wahlresultat in Italien liegt in acht Jahren falscher europäischer Politik?
Eindeutig.
Es wird ja heute auch in Berlin akzeptiert, dass die Europäische Union und die Währungsunion grossen Reformbedarf haben. Denken Sie, die neue Bundesregierung wird nun handeln? Hat Angela Merkel den Spielraum?
Ich fürchte nein. In der CDU hat niemand die Probleme begriffen. Die CDU ist vollkommen uneinsichtig in den entscheidenden Fragen.
Kriegen Sie Signale aus der SPD, dass die neue Regierung einen Kurswechsel vornehmen wird?
Nein, bisher keine. Aber ich bin gespannt. Ich kenne enge Mitarbeiter von Olaf Scholz, dem neuen Bundesfinanzminister. Mal sehen.
Wenn Herr Scholz Sie fragen würde: Was muss Deutschland tun?
Das ist ganz einfach. Zunächst muss er sich vor Augen führen, dass eine Volkswirtschaft aus vier Sektoren besteht: die Privathaushalte, der Unternehmenssektor, der Staat und das Ausland. Jeder dieser Sektoren kann entweder sparen – das heisst, er gibt weniger aus, als er einnimmt – oder sich verschulden. Man spricht von positiven oder negativen Finanzierungssalden. Wichtig ist nun aber: In einer Volkswirtschaft müssen sich die Finanzierungssalden der vier Sektoren per Definition immer auf null summieren. In Deutschland sieht das nun so aus: Die Haushalte und die Unternehmen haben riesige Sparüberschüsse. Der Staat will sich ebenfalls nicht verschulden. Da bleibt nur das Ausland. Genau das zeigt sich im irrwitzig grossen Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands. Er ist das Resultat einer ungenügenden Binnennachfrage: Wenn Haushalte, Unternehmen und der Staat alle sparen, dann bleibt nichts anderes übrig, als weiterhin Geld ins Ausland zu transferieren. Das geht aber nur, wenn das Ausland sich noch mehr verschuldet. Wenn die anderen Euroländer aus ihrer Verschuldungsfalle je herauskommen sollen und wenn die deutschen Haushalte und Unternehmen nicht mehr ausgeben wollen, dann hilft nur eines: Der deutsche Staat muss Schulden machen und seine Ausgaben erhöhen. Deutschland muss endlich abrücken von diesem Wahnsinn der schwarzen Null – auf die man auch noch besonders stolz ist. Das gilt übrigens in gleichem Masse für die Schweiz.
Das wäre Ihr Rat zu den Staatsfinanzen: die Schulden erhöhen. Was noch?
Die Löhne in Deutschland müssen steigen. Alles andere ist eine Illusion. Deutschland muss weg von der Sparpolitik. Es muss die Binnennachfrage anregen, und dazu gibt es zwei Kanäle: über die Löhne – und damit über den Konsum – sowie über die staatliche Nachfrage.
Aber die gängige Analyse ist genau gegenteilig. Man sagt nicht: Deutschland muss sich ändern, man sagt: Die übrigen Europäer müssen werden wie die Deutschen.
Wie erwähnt: Das kann gar nicht funktionieren. Es ist logisch unmöglich – und es ist irre, wie solche Mythen sich halten können. Zum einen sagt die offizielle Politik: Das Inflationsziel ist weiterhin knapp zwei Prozent. Zum anderen sagt sie: Ihr müsst werden wie die Deutschen. Wenn alle diesen Weg gehen, dann haben wir Deflation in der ganzen Eurozone und eine Zerstörung der Binnennachfrage in allen Euroländern. Auch über Exporte ausserhalb der Eurozone wird sich das nicht kompensieren lassen. Dafür sorgt jetzt gerade Herr Trump mit seiner Handelspolitik.
Es gibt ein weiteres Argument gegen Lohnerhöhungen: Deutschlands Konkurrenten sitzen in Asien, und dort sind die Löhne viel niedriger.
Das ist ein falsches Argument. Erstens gibt es gegenüber Asien ja Wechselkurse, die Ungleichgewichte im Handel kompensieren. Zweitens ist es falsch, zu glauben, man könne ein Niedriglohnland konkurrenzieren, indem man die Löhne senkt. Das ist absurd. Das muss man im Übrigen auch gar nicht, weil ein Niedriglohnland deshalb ein Niedriglohnland ist, weil seine Produktivität gering ist. Deshalb haben sie auch keinen systematischen Preisvorteil gegenüber entwickelten Ländern. Der entsteht nur dann, wenn deutsche Produzenten mit ihrer Technologie nach China gehen und diese dann mit billiger Arbeit kombinieren.
Sie fordern also, dass die Löhne in Deutschland steigen müssen. Genau das geschieht doch seit einiger Zeit.
Im Schnitt dürften sie dieses Jahr immer noch um weniger als drei Prozent steigen. Das reicht nicht.
Wie viel müsste es sein?
Man muss sich bewusst sein, wie wichtig es ist, dass in Deutschland der Konsum stimuliert wird. Es geht um das politische Überleben Europas. Damit sich die Situation entscheidend verbessert, müssten die Löhne in Deutschland fünf Jahre lang um fünf, sechs Prozent pro Jahr steigen. So könnte die Eurozone wieder ins Gleichgewicht kommen.
Und das würde nicht zu höherer Arbeitslosigkeit führen?
Ach bitte, davor muss sich nur fürchten, wer an die neoklassische Arbeitsmarkttheorie glaubt. Ich glaube nicht daran, weil sie einfach nicht stimmt. Die Neoklassik geht ja vom Grundsatz aus, dass Arbeitslosigkeit die Folge von zu hohen Löhnen ist. Sinken die Löhne, sinkt auch die Arbeitslosigkeit. Aber Sie können so ziemlich alle Länder in Europa anschauen: Die Lohnquote ist seit 1970 ständig gefallen, das heisst, die Löhne sind im Verhältnis zu den Unternehmensgewinnen gesunken. Nach der neoklassischen Theorie hätte deshalb auch die Arbeitslosigkeit sinken müssen. Trotzdem sind die Arbeitslosenraten nicht gesunken. Einzig in Deutschland war das der Fall, doch das war wie erwähnt dem einmaligen Exportboom als Folge der Euro-Einführung zu verdanken.
Seit bald zwanzig Jahren gibt es einen Pakt zwischen der deutschen Regierung und den Gewerkschaften. Letztere halten sich zurück bei Lohnforderungen, die Regierung bekämpft im Gegenzug die Arbeitslosigkeit. Sie sagen, das funktioniert nicht?
Stimmt, es gab 1999, drei Monate nachdem ich als Staatssekretär aus der Regierung ausschied, in Deutschland ein Bündnis für Arbeit, das explizit beschloss, von nun an den Produktivitätszuwachs in Deutschland «für Beschäftigung zu reservieren», nicht mehr für Löhne. Dieses Statement haben die Gewerkschaften tatsächlich unterschrieben. Man kann Produktivität aber nicht reservieren, man muss sie den Leuten auszahlen, damit die Güter, die durch die Produktivität erzeugt werden, auch abgesetzt werden können. Andernfalls kann man sie nicht verkaufen – beziehungsweise nur im Ausland. Das Bündnis für Arbeit war absoluter Blödsinn. Aber die Gewerkschaften haben mitgemacht. Was nützt es, laufend Produktivitätsfortschritte zu erzielen, wenn die deutschen Arbeitnehmer nichts davon haben? Deutschland hat durch seine Lohnpolitik aktiv Marktanteile gewonnen, während die Franzosen verloren haben.
Was haben die Franzosen denn falsch gemacht?
Nichts! Frankreich hat seit der Einführung des Euros alles richtig gemacht. Es hat sich vorbildlich verhalten in der Währungsunion und eine Lohnpolitik verfolgt, die genau den Inflationszielen entsprach. Wenn das Inflationsziel knapp zwei Prozent pro Jahr ist, müssen auch die Löhne pro Jahr um zwei Prozent plus die Produktivitätsgewinne steigen. Die Franzosen haben sich genau so verhalten, wie Deutschland es gewollt hat. Sie haben die Inflationsziele respektiert. Nur Deutschland hat sich nicht an den Plan gehalten.
Emmanuel Macron versucht nun, die französisch-deutsche Achse neu zu beleben. Er hat als ersten Schritt einschneidende Arbeitsmarktreformen eingeleitet. Was halten Sie davon?
Das ist nichts anderes als die Fortsetzung des Versuchs seines Vorgängers François Hollande, den französischen Arbeitsmarkt flexibler zu machen. Aber die müssen ihren Arbeitsmarkt gar nicht flexibler machen, ihre Lohnentwicklung entspricht ja den Vorgaben. Und jetzt kommen die Deutschen und sagen: Ihr müsst euren Arbeitsmarkt reformieren.
Frankreich hat Deutschland gegenüber aber ein anderes Problem: ein Handelsbilanzdefizit von rund 40 Milliarden. Ist das nicht bedrohlich?
Insgesamt hat Frankreich ein Handelsbilanzdefizit von etwa drei Prozent des BIP. Das bringt Frankreich nicht um. Das Problem liegt darin, dass der Unternehmenssektor, obwohl er per Saldo noch Schuldner ist, zu wenig investiert und dem Staat wegen des Stabilitätspaktes die Hände gebunden sind. Wenn der französische Staat acht Prozent Defizit machen könnte, wäre das Problem gelöst. Aber unter der Bedingung, dass sie sich nicht verschulden dürfen und Deutschland Überschüsse produziert, sind sie verloren.
Sie haben mehrmals gesagt, die Staaten sollten ihre Schulden erhöhen. Gibt es nicht so etwas wie eine obere Grenze, wo kein budgetpolitischer Spielraum mehr da ist?
Nein. Kürzlich wurde ich gefragt, wann denn der Staat seine Schulden zurückzahlen müsse. Das muss er aber nicht, er darf es sogar nicht. Wenn der Staat seine Verschuldung abbaut, heisst das ja, dass er das kaum zu lösende Sparproblem, also den Überschuss an Sparkapital, zusätzlich vergrössert. Deutschland hat bereits heute riesige Sparüberschüsse und eine zu schwache Nachfrage im Inland. Wenn jetzt auch noch der Staat anfängt, Schulden abzubauen, dann vergrössert er das Problem. Ob der Staat Schulden von 80, 90, 100 oder 300 Prozent des BIP hat – wie Japan –, ist vollkommen egal.
Das heisst, der Staat könnte erst anfangen, seine Schulden abzubauen, wenn die Unternehmen wieder investieren und sich verschulden würden?
Richtig. Das war ja die Hoffnung, dass ein Aufschwung kommt und die Unternehmen wieder Schulden aufnehmen und investieren. Dann kann der Staat sich entschulden. Genau so lief es in den Sechzigerjahren in Deutschland. Ich bin der Letzte, der sagen würde, der Staat müsse sich verschulden, wenn die Finanzierungssalden auch anders ins Gleichgewicht zu bringen sind. Ich bin kein dogmatischer Schuldenbefürworter. Aber wenn der Unternehmens- und der Haushaltssektor derart hohe Sparüberschüsse erzielen, darf der Staat nicht auch noch sparen.
Wie erklären sich die Überschüsse des Unternehmenssektors? Unternehmen sollten doch Schulden machen, investieren und so das Wachstum vorantreiben.
Die Überschüsse des Unternehmenssektors sind ein neues Phänomen der letzten zehn Jahre. Wir finden sie in einem grossen Teil der Welt, auch in den USA und in der Schweiz. Meine Hypothese ist, dass wir durch die Schwäche der Lohnentwicklung ein permanentes, globales Nachfrageproblem haben. Seit dem Beginn der Massenarbeitslosigkeit in den Siebzigerjahren haben die Gewerkschaften nicht mehr die Macht, vernünftige Lohnerhöhungen durchzusetzen. Wegen der Nachfrageschwäche investieren die Unternehmen weniger, und dann werden sie von den Staaten auch noch durch Steuersenkungen gefördert. Die Folge ist, dass ihre Cashflows angeschwollen sind und sie nicht mehr wissen, wohin sie sollen mit dem ganzen Geld. Es gibt zu wenige Investitionsprojekte, weil die gesamte Nachfrage nicht genug gross ist. Wir haben heute einen permanenten Angebotsüberhang, nie einen Nachfrageüberhang. In den Sechzigerjahren war das umgekehrt.
Wie werden wir diesen Angebotsüberhang los?
Eigentlich müsste man antworten: durch eine systematische Stärkung der Gewerkschaften. Aber da die deutschen Gewerkschaften so dramatisch versagen, bin ich inzwischen dafür, dass der Staat die Regeln macht. Er müsste dafür sorgen, dass der Anstieg der Produktivität plus Zielinflationsrate den Arbeitnehmern immer ausbezahlt wird. Die Löhne einfach den sogenannten Marktkräften zu überlassen, funktioniert nicht.
Weil die Arbeitsmärkte anders funktionieren?
Weil die Arbeitsmärkte gar nicht funktionieren. Sie können nicht funktionieren, einfach weil für den Arbeitsmarkt die Nachfrage der Arbeitnehmer nach Gütern existenziell und unendlich wichtig ist. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat das schon vor achtzig Jahren erkannt. Er sagte, am Arbeitsmarkt seien Angebot und Nachfrage nicht voneinander unabhängig. Dann können sich die Angebots- und die Nachfragekurve aber auch nicht kreuzen. Der Arbeitsmarkt kann nicht «geräumt» werden. Deshalb ist auch die Ableitung, wenn der Lohn sinkt, sinkt die Arbeitslosigkeit, falsch.
Auch die deutsche Sozialdemokratie hat sich aber der Überzeugung verschrieben, dass Tüchtigkeit und Sparsamkeit auf dem Weltmarkt zu Erfolg führen.
Die deutsche Sozialdemokratie ist klinisch tot. Geistig und intellektuell ist sie tot. Ich weiss nicht, ob es da noch jemanden gibt, den man ansprechen könnte, ausser ein paar versprengten Figuren vielleicht. Es war mir immer klar, dass man in Deutschland gegen diesen Sparwahn nicht ankommt, weil es die deutsche Überschussstrategie schon seit 150 Jahren gibt. Ein Überschussland fühlt sich immer als das beste, das siegreiche, das produktivste Land der Welt. Es verteidigt seine Überschüsse gegen jede Vernunft. Überschussländer begreifen nie, dass sie etwas falsch gemacht haben könnten. So hat Merkantilismus immer funktioniert. Und weil das so ist, habe ich wenig Hoffnung gehabt, dass wirtschaftspolitische Veränderungen in der Eurozone von Deutschland ausgehen werden. Ich habe gedacht, dass die Franzosen und die Italiener viel früher begreifen, was Sache ist. Und dass sie aufstehen würden.
Zu Beginn der Hollande-Präsidentschaft schien sich ja eine mediterrane Achse mit dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi abzuzeichnen. Aber das Einzige, was gekommen ist, sind Arbeitsmarktreformen.
Es gab ein paar Fälle von Widerstandsversuchen. Der Fall des griechischen Premiers Tsipras ist der tragischste. Ich habe Tsipras schon früh gesagt, für Griechenland gibt es nur eine einzige Chance, hier vernünftig rauszukommen: eine Koalition zu bilden mit Italien und Frankreich, um gegen Deutschland anzugehen. Das hat er dann versucht, aber bei Hollande ist er abgeblitzt, und Renzi hat sich dann auch nicht getraut. Ein enger Berater von Macron, als dieser noch Wirtschaftsminister war unter Hollande, hat mir gesagt, er teile meine Position und Macron teile sie partiell, aber es sei aussichtslos. Hollande weigere sich, über eine Oppositionspolitik gegenüber Deutschland auch nur nachzudenken.
Wie werden sich die südlichen Euroländer denn jetzt verhalten?
Wenn jetzt eine radikale Regierung in Italien übernähme, müsste die sehr geschickt vorgehen. Eine Koalition gegen Deutschland zu bilden, wäre auch heute ungeheuer schwer. Macron zögert. Er versucht, Deutschland zu Zugeständnissen zu bewegen.
Macrons Strategie scheint zu sein, Vertrauen zu schaffen: Frankreich gibt den Deutschen eine Arbeitsmarktreform und bekommt dafür von ihnen das europäische Budget.
Das ist sein fundamentaler Fehler. Macron kann bei diesem Spiel nur verlieren. Am Ende wird er Applaus bekommen, und alle werden ihn beglückwünschen, wenn er tatsächlich ein europäisches Budget bekommen hat. Aber das Problem wird sein: Gemessen am BIP der EU wird es so verschwindend klein sein, dass es irrelevant bleibt.
Die Grosse Koalition in Berlin hat Macron bisher keine Zusagen gemacht. Man will seine Pläne lediglich mit Wohlwollen prüfen.
Deutschland ist in eine unfassbare Europafeindlichkeit hineingesteigert worden. Und wenn ich Deutschland sage, meine ich: die Bevölkerung. Das ganze Land lebt heute mit diesem Vorurteil: Schulden sind böse, die Südeuropäer sind faul, und Deutschland macht alles richtig. Es gibt heute keinen deutschen Politiker, der es wagt, gegen dieses Vorurteil anzutreten. Oder sagen wir, fast keinen. Ein Oskar Lafontaine könnte es, aber ich bin mir nicht sicher, wie weit er sich exponieren will.
Wenn Emmanuel Macron Sie fragen würde, was zu tun sei, was würden Sie ihm raten?
Ich würde ihm sagen: Steh auf und sag, so geht es nicht mehr weiter! Was die Südeuropäer und die Franzosen nicht begreifen, ist, dass es in Deutschland eine Schwachstelle gibt, und die heisst deutsche Industrie. Die Südländer müssten nicht aus dem Euro austreten, sie müssten nur damit drohen. Ein Nord-Euro, oder wie auch immer man ihn nennen würde, würde nach einem Austritt der mediterranen Länder massiv aufwerten. Dann wären die heiligen Marktanteile und die Exportüberschüsse der deutschen Industrie akut gefährdet. Die Industrievertreter würden sofort im Kanzleramt auf der Matte stehen und sagen: Angela mach was, damit die nicht austreten. Sie haben viel zu verlieren.
Man muss Deutschland drohen?
Man muss Deutschland drohen. Deutschland hat einen Exportanteil von fünfzig Prozent, was enorm viel ist für eine grosse Volkswirtschaft. Es hat deshalb am meisten zu verlieren in einer Handelsauseinandersetzung.
Ist die europäische Währungsunion, mit all den von Ihnen denunzierten Mängeln, in Ihrem Urteil denn überhaupt überlebensfähig?
Nein, es ist nur eine Frage der Zeit, bis das ein böses Ende nimmt. Dass es in Italien so kommen wird, wie es jetzt gekommen ist, war vorauszusehen.
Ist denn Italien wirklich das schwächste Glied?
Griechenland ist viel zu klein, es kann es sich gar nicht leisten, aus dem Euro auszusteigen. Aber ein Land wie Italien könnte sich dazu entschliessen. Alberto Bagnai, in meinen Augen einer der besten italienischen Ökonomen, ist nun für die Lega angetreten. Er bezeichnet sich selber als Marxisten. Stellen Sie sich vor: ein Marxist in der Lega! Er hat mir gesagt: Du kannst nicht verstehen, was ich tue, aber ich sage dir: Es gibt keine Alternative. Wenn die Lega in eine Koalitionsregierung kommt – sie hat ja noch einen zweiten sehr guten Ökonomen, Claudio Borghi –, wird sie alles daran setzen, entweder Druck für eine Politikänderung aufzubauen oder aber den Euro zu verlassen. In Frankreich ist ein Euro-Austritt immer noch ein Tabu. In Italien ist das nicht mehr so.
In Deutschland erzählt man über die Probleme Italiens aber eine andere Geschichte. Die seien einfach nicht solide genug, heisst es. Die mussten vor dem Euro alle paar Jahre die Lira abwerten.
Ja, das mussten sie, aber nur weil die Löhne stark gestiegen sind, nicht weil sie unproduktiv waren. Die Löhne sind stärker gestiegen als die Produktivität. Italien hatte noch vor zwanzig Jahren mit Deutschland zusammen den besten Maschinenbausektor der Welt. Inzwischen ist das vorbei. Weil sie durch den Euro dauernd aufgewertet haben, ist viel weggebrochen. Aber Italien, besonders Norditalien, ist eine hochkreative und produktive Volkswirtschaft. Sie brauchen jedoch die richtigen Rahmenbedingungen und die richtigen Stimulanzien. Die können nur von der Nachfrageseite kommen. Unter dem Euro wurden die Rahmenbedingungen in Italien zerstört. Die guten italienischen Ökonomen verstehen das.
Was wird jetzt konkret geschehen?
Die Entwicklung in Italien wird entscheidend sein. Was sich da herausbildet, ist schwer abzuschätzen. Die Lega und Cinque Stelle hatten ja bisher nichts miteinander zu tun. Bei Cinque Stelle war ich im Herbst zu einem Vortrag eingeladen. Man hat den Eindruck, die haben niemanden, der von Ökonomie eine Ahnung hat. Luigi Di Maio hat in der Veranstaltung gesessen und mit grossen Augen geguckt. Ich fragte mich, was macht denn dieser wirklich sehr junge Mann hier. Und dann kam raus: Es ist der Spitzenkandidat. Ich dachte mir, das gibts überhaupt nicht.
Sind Sie der Ansicht, dass eine Fiskalunion mit Transfermechanismen nötig ist, damit die Europäische Währungsunion überlebensfähig wird?
Nein, die Fiskalunion ist nicht die Lösung, das sieht man am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung. Die wurde abgefedert durch eine Fiskalunion und durch riesige Transfers, aber Ostdeutschland ist heute noch tief frustriert und strukturschwach. Die Fiskalunion ist keine Lösung. Die Länder müssen aus eigener Kraft leben können. Die Franzosen wollen doch nicht abhängig sein von Deutschland.
Was also wäre die Lösung?
Die Lösung ist, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben. Das wäre gewährleistet in einem Festkursverbund mit vernünftiger Lohnkoordination. Das ist das Einzige, was sinnvoll wäre.
Welche Rolle müsste die Europäische Zentralbank spielen?
Die neueste Forderung von Deutschlands konservativen Ökonomen ist ja nun, dass es eine EZB eigentlich gar nicht mehr geben darf. Nach deren Vorstellung darf die EZB nicht mehr helfen, keine Staatsanleihen mehr kaufen. Die Eurozone soll so rekonstruiert werden, dass kein Land mehr eine Notenbank hat, weil die EZB nicht für einzelne Länder zuständig sein darf. Es muss aber genau umgekehrt sein: Die EZB sollte zuständig sein für jedes Land der Eurozone, nicht für keines. Aber nun soll jedes Land immer damit rechnen müssen, für Bankrott erklärt zu werden. Und gegen diese Drohung soll es keine geldpolitischen Mittel mehr geben, sondern nur noch die Arbeitsmarktflexibilität. Das ist vollkommener Irrsinn.
Was ist denn Ihre Meinung zur EZB-Politik in den letzten Jahren?
Die hat sich dramatisch verbessert. Unter Jean-Claude Trichet war es katastrophal, damals haben sie alle Entwicklungen verschlafen. Und dann kam die Krise, und die EZB hat viele Fehler gemacht. Sie hat nicht verstanden, dass sie auch die Zentralbank Griechenlands ist. Sie hätte diesem Land helfen müssen. Stattdessen hat sie diese brutalen Aktionen gemacht in Griechenland und in Zypern und den beiden Ländern den Geldhahn zugedreht, sodass das Bankensystem in den nächsten Stunden zusammengebrochen wäre. Das war eine schwere Verfehlung. Der europäische Gerichtshof hat das im Übrigen klar gesagt. Die EZB hätte nicht in die politischen Verhältnisse eingreifen dürfen. Das hat sich in den letzten Jahren, unter Mario Draghi, aber dramatisch geändert. Die EZB begreift heute sehr gut, was ihre Rolle ist.
Draghi ist noch 18 Monate im Amt. Haben Sie einen Wunschkandidaten für seine Nachfolge?
Nein, ich habe nur den Wunsch, dass Jens Weidmann (Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied des EZB-Rates, d. Red.) es nicht wird. Draghi hat enorm gelernt. Ich kenne ihn aus meiner Zeit im Bundesfinanzministerium, da war er in Rom mein Gegenpart. Er ist wirklich an seiner Aufgabe gewachsen. Es wäre schade, wenn das verloren ginge.
Was ist der Pfad zu einem guten Ende der Europäischen Währungsunion?
Schwer zu sagen. Es müsste in Deutschland ganz viel passieren. Aber ich kann mir das politisch schwer vorstellen. Wenn die Spitzenpolitiker nicht vorangehen und mit vollem Herzen und Verstand die Realität zu vermitteln suchen, dann kann das nur gegen die Wand laufen. Und die CDU wird nun dauernd auf die AfD schielen und alles machen, was unvernünftig ist in der Welt, nur um die AfD klein zu halten.
Also ist Ihre beste Hoffnung der Druck von Südeuropa?
Das ist die einzige Möglichkeit. Die Südländer beginnen zu begreifen, dass Drohungen die einzige Sprache sind, die Berlin versteht. Denn das Einzige, was die CDU beeindrucken kann, ist Druck von der deutschen Industrie.
Blicken wir über Europa hinaus. Präsident Trump beschwört allmählich einen Handelskrieg herauf. Wie bedrohlich ist das?
Für Deutschland sehr. Deswegen sind auch alle so nervös. Die Prämisse der deutschen Politik ist immer gewesen, dass der gute Freund in Amerika nie etwas Böses tun wird. Tut der gute Freund jetzt aber. Was die Leute nicht begreifen, ist, dass diese Drohung schon lange im Raum stand. Ich habe Delegierte der Obama-Administration erlebt an den G-20-Finanzministertreffen. Die haben gebrüllt, die Deutschen sollen endlich aufhören mit ihren verdammten Überschüssen. Mit Timothy Geithner, dem Finanzminister unter Barack Obama, bin ich seit zwanzig Jahren befreundet. Er hat deutlich gesagt, es sei inakzeptabel, dass die Deutschen solche Überschüsse erzielen. Berlin hats aber nie ernst genommen. Eine grosse Volkswirtschaft wie Deutschland kann sich nicht dauerhaft von riesigen Exportüberschüssen abhängig machen. Allen anderen werfen wir Strukturprobleme vor, aber das grösste Strukturproblem in Europa ist die deutsche Wirtschaft.
Primär richtet sich die Aktion der USA doch gegen China.
Bilateral ist China auch das Hauptproblem der USA. Der bilaterale Handelsüberschuss Chinas mit den USA beträgt mehr als 200 Milliarden Dollar, der deutsche ist 60 Milliarden. Deswegen steht China in Washington immer im Fokus. Das Verrückte ist jedoch, dass China sehr viel getan hat, um seine Überschüsse abzubauen. Die Chinesen haben das Problem gelöst, indem sie die Löhne und die Staatsausgaben erhöht haben – genau das, was nötig war. Als Folge davon sind auch die Importe gestiegen; gemessen am BIP sind Chinas Überschüsse nur noch zweieinhalb Prozent, lächerlich wenig im Vergleich zu Deutschland.
Im Prinzip hat China also genau das getan, was Deutschland tun müsste?
Ja. Die haben alles richtig gemacht. Ich sage immer: Die einzig gut geführte Marktwirtschaft der Welt wird von einer kommunistischen Partei geführt.
Welche Politik von Trump würde denn Deutschland richtig wehtun?
Automobilzölle natürlich. Aber Trump ist ja blöd. Er könnte einfach den Dollar runterreden, dann wäre das Problem elegant gelöst. Wenn der Dollar von 1.25 auf 1.50 pro Euro fällt, dann sind die deutschen Exporte erst mal tot. Aber das ist für Trump wohl zu wenig spektakulär.
Kurz vor seiner Amtseinführung hat Trump gesagt, es würden zu viele BMWs in New York herumfahren. Die Drohung mit Automobilzöllen kam sofort.
Trump hat wohl ein relativ klares Gefühl, dass hier etwas schiefläuft. Das amerikanische Leistungsbilanzdefizit wächst wieder. Es liegt wieder auf vier Prozent, weil die USA die einzige wirklich wachsende Volkswirtschaft waren in den letzten Jahren. Und natürlich auch weil der Euro so schwach war. Ende der Achtzigerjahre haben die Amerikaner an der Konferenz im Plaza-Hotel in New York klar gesagt, der Wechselkurs müsse runter. Und dann ging er auch runter. Der Dollarkurs hat sich halbiert. Die Deutschen hatten Glück, weil die Wiedervereinigung kam und sie dann erstmal keinen Überschuss mehr hatten. Aber die Japaner haben damals brutal auf die Nase gekriegt.
Sie könnten sich vorstellen, dass es eine Art zweites Plaza-Abkommen gibt?
Wenn die Amerikaner sagen, so geht es nicht weiter, können sie das übermorgen veranstalten. Da könnte niemand etwas dagegen sagen. Die Euroschwäche hat ja auch niemand skandalös gefunden. Als der Euro von 1.50 auf 1.10 zum Dollar gefallen ist, war das brutal für die USA. Der Euro ist heute immer noch unterbewertet. Er müsste bei etwa 1.50 Dollar stehen.
Deutschland ist also heute der grösste Währungsmanipulator?
Keine Frage. Die Amerikaner halten das regelmässig in ihrem «Currency Report» fest. Hauptsächlich kommen in diesem Bericht China und Deutschland vor. Aber China kann man eigentlich nichts mehr vorwerfen, die bilateralen Salden im Verhältnis zu China sagen nichts, denn die Gesamtbilanz der Chinesen ist heute relativ ausgeglichen. Kommt hinzu, dass immer noch fünfzig bis sechzig Prozent der chinesischen Exporte auf das Konto von westlichen Konzernen gehen, die in China produzieren. Das sind eigentlich keine chinesischen Exporte.
In Ihrer Gesamteinschätzung, global betrachtet, ist es also die deutsche Wirtschaftspolitik, die am meisten Schaden anrichtet?
Ja. Ich hätte das auch nie für möglich gehalten. Die Deutschen werden stur bleiben – ausser wenn es jetzt richtig kracht. Trump hat begriffen, dass mit Reden nichts erreicht wird. Da hat er sich gesagt, na dann hauen wir ihnen eben eins vor den Sack. Zu Recht, fürchte ich. Und was glauben Sie, was geschieht, falls Deutschland einen Wachstumseinbruch erleidet? Die deutsche Industrie würde zu Merkel gehen und sagen: Gib gefälligst Geld aus! Das ist auch schon beim Konjunkturprogramm 2008/2009 geschehen, obwohl sich Frau Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück vor die Presse gestellt und gesagt haben: «Konjunkturprogramm niemals!» Zwei Tage später haben die beiden eine Abwrackprämie und Kurzarbeitsprogramme vorgestellt. Wie ist das möglich? Ganz einfach. Die deutsche Industrie war in der Zwischenzeit bei Frau Merkel und hat gesagt: Du machst jetzt was! Und die Kanzlerin hat gehorcht.