Der Missbrauch des Missbrauchs
Während Jahrzehnten haben kirchliche Institutionen einen Pädophilieskandal verschwiegen. Als die Geschehnisse aufgearbeitet werden sollten, tut ein Schweizer Bischof alles, um andere Geistliche ins Messer laufen zu lassen.
Von Michael Rüegg, 29.03.2018
Das ist die Geschichte eines schockierenden Falls von Kindsmissbrauch. Es ist aber auch die Geschichte eines anderen Missbrauchs, dem von Einfluss. Die Taten des beschuldigten Geistlichen wiegen schwer. Doch nicht um sie geht es hier in erster Linie. Sondern darum, wie Würdenträger sich schützend vor ihre eigenen Institutionen stellten und andere ins Messer laufen liessen. Alles innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Und mit der Unterstützung eines Boulevard-Journalisten.
Im Jahr 1968 missbrauchte der damals 28-jährige Priester Joël Allaz den neunjährigen Messdiener Daniel Pittet zum ersten Mal. Während vier Jahren vergewaltigte der pädosexuelle Geistliche sein Opfer regelmässig. Auch in den folgenden Jahrzehnten tat Allaz diversen Jungen sexuelle Gewalt an. 24 Opfer sind heute bekannt. Ob es mehr sind, weiss niemand, weil nie eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung gelang. Die Verantwortung dafür trägt zu einem grossen Teil die Kirche. Sie versuchte, das Problem «intern» zu lösen. Doch hier beginnen bereits die Schwierigkeiten. Nämlich bei der Frage, wer denn überhaupt «die Kirche» ist. Denn Täter Joël Allaz war sowohl Priester des Bistums Freiburg als auch Angehöriger des Kapuzinerordens.
Daniel Pittet, heute 59 Jahre alt, hat trotz der furchtbaren Erlebnisse seiner Kindheit den Glauben an Gott und Kirche nicht verloren. Er heiratet, gründet eine Familie, bleibt in der kirchlichen Gemeinschaft aktiv. Seine Geschichte des Missbrauchs durch den Priester kursiert in der Westschweiz seit über 15 Jahren. Erst anonym, später mit Namen und Gesicht. Mehrmals prangert er im Verlauf seines Lebens kirchenintern den Täter an, weigert sich aber standhaft, bei den Strafverfolgungsbehörden Anzeige zu erstatten. Anfang 2017 steht er kurz davor, seinen Leidensweg als Kind in einem Buch zu veröffentlichen.
Hier beginnt die andere Geschichte.
Anfang Februar 2017: Am Sitz der Bischofskonferenz
«Beten Sie ein Vaterunser, damit die Sache gut herauskommt», sagt Encarnación Berger-Lobato zum Abschied zu ihren Gästen. Sie ist «Leiterin Marketing und Kommunikation» bei der Schweizerischen Bischofskonferenz in Freiburg. Es ist der 2. Februar 2017 und sie verabschiedet sich mit diesen Worten von Agostino Del Pietro und Willi Anderau. Del Pietro ist Provinzial des Schweizer Kapuzinerordens, also dessen Chef. Anderau ist im Orden und für Information zuständig. Mit der «Sache» meint Berger-Lobato die bereits angekündigten Medienbeiträge zu Daniel Pittets kurz darauf auf Französisch erscheinendem Buch, das heute auch unter dem deutschen Titel «Pater, ich vergebe Euch!» erhältlich ist. Es handelt vom Missbrauch Pittets durch den Kapuzinerpater Joël Allaz zwischen 1968 und 1972.
Ein «Vaterunser», das vor dem Schaden schützen sollte, den Pittets Veröffentlichungen über die Kirche bringen könnten.
Doch Berger-Lobato weiss bereits, dass kein Gebet der Welt für die Kapuziner noch etwas ändern wird. Gleichzeitig kann sie damit rechnen, dass sich der Schaden fürs Bistum in Grenzen hält. Denn das Drehbuch für die Boulevardkampagne, die als Begleitung der Buchlancierung erscheint, ist längst geschrieben. Und das Bistum hat eifrig daran mitgearbeitet, inklusive seines Chefs: Charles Morerod, Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz und ein im Vatikan bestens vernetzter klerikaler Karrierist.
Längst ist festgelegt, wie sich die Kampagne in den Boulevardzeitungen entwickeln wird. Die nötigen Recherchen dafür wurden bereits Wochen zuvor geführt. Dafür gesorgt haben Buchautor Pittet und Bischof Morerod.
13. Februar 2017: Der Boulevard erblüht
Am Montag, 13. Februar 2017, starten die beiden Tageszeitungen «Blick» (Ringier) und «Le Matin» (Tamedia)* synchron eine die gesamte Woche anhaltende Artikelserie über den Pädophilieskandal: «Ich ging durch die Hölle», lautet der Titel des ersten Artikels. Die beiden Zeitungen zitieren ausführlich aus dem Buch, das erst Tage später erscheint. Ebenso aus dem Vorwort, das kein Geringerer als Papst Franziskus geschrieben hat.
Am Folgetag spricht der Täter Joël Allaz: «Ich bin ein Monster mit zwei Persönlichkeiten.» Zudem erscheint ein Interview mit Bischof Morerod, in dem er erwähnt, zu Pittets Buch «etwas beigetragen zu haben». Dass er damit nicht übertreibt, zeigen E-Mails und Aussagen von Beteiligten, die der Republik vorliegen.
Bereits am 15. Februar stehen für den «Blick» und «Le Matin» der für den Skandal Hauptschuldige fest: Ephrem Bucher, ehemaliger Chef des Kapuzinerordens und Leiter des Klosters Mels im St. Galler Rheintal. «Ich hätte Pater Joël anzeigen müssen», lautet der Titel. Zudem prangert die Zeitung an, dass ausgerechnet Bucher in einem Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz zum Thema sexuelle Übergriffe sitzt. Abermals meldet sich im «Blick» Bischof Morerod zu Wort: Ihm sei nicht bewusst gewesen, wie sehr der Kapuziner Bucher an der «lückenhaften Aufarbeitung des Falls» beteiligt gewesen sei. Morerod stützt damit die «Vertuscher»-These der Boulevardzeitungen. Er und andere Schweizer Bischöfe würden sich einen Rücktritt Buchers aus dem Gremium wünschen.
Vom «Blick» als grosser «Vertuscher» entlarvt, tritt Bucher aus dem Gremium der Bischofskonferenz aus. «Blick» und «Le Matin» führen die Story bis zum Ende der Woche weiter.
In keinem dieser Artikel wird auch nur die Frage aufgeworfen, ob verantwortliche Personen das Bistums Freiburg-Genf eine Mitschuld haben könnten. Im Fokus steht einzig der Kapuzinerorden. Doch nicht die Kapuziner setzten den Täter als Priester, Seelsorger und Pädagoge ein. Sondern das Bistum. Dessen Chef heute Charles Morerod ist.
Werfen wir einen Blick zurück.
Sommer 2016: Der Bischof öffnet Klosterpforten
Bischof Morerod wird schon Monate vor der Veröffentlichung von Daniel Pittets Buch über dessen Missbrauchsgeschichte aktiv. Er sichert dem Missbrauchsopfer Pittet frühzeitig seine Unterstützung zu. Bereits im Sommer 2016 besucht Bischof Morerod in Absprache mit Pittet den mittlerweile gesundheitlich stark angeschlagenen Täter Joël Allaz im Kloster Wil, in dem er heute lebt. Mit dabei: Pittets Ghostwriterin Micheline Repond. Sie soll ein Interview mit dem Täter führen.
Die Kapuziner haben dem Treffen vorab ihren Segen gegeben – unter der Bedingung, das Manuskript vor der Veröffentlichung lesen zu dürfen. Zudem sollte der fehlbare Priester nicht mit richtigem Namen genannt werden. Beidem stimmt Pittet zu, beides hält er nicht ein.
Nach dem Treffen schickt Ghostwriterin Repond ein Gesprächsprotokoll, in dem Joël Allaz «Pater Gérard» genannt wird. Aber der Text, der später erscheint, ist nicht derselbe. Und der Täter wird im Buch mit seinem richtigen Namen genannt. Die Kapuziner wurden ein erstes Mal getäuscht.
Am 12. November 2016 sind Bischof Morerod und Ghostwriterin Repond abermals im Kloster Wil, diesmal in Begleitung des Opfers, Daniel Pittet. Josef Haselbach, der Vorsteher des Klosters, wundert sich über die herzliche Begegnung zwischen Opfer und Täter, wie er später in einer E-Mail an einen Ordensbruder schreibt: Pittet habe Allaz wie einen alten Freund begrüsst.
Januar 2017: Auch der Journalist darf ins Kloster
Der Verfasser der «Blick»-Kampagne, der auch für «Le Matin» arbeitende freie Journalist Laurent Grabet, recherchiert seine Artikel, lange bevor Marketingchefin Encarnación Berger-Lobato in Freiburg zum Gebet des «Vaterunser» aufruft. Nach dem Besuch vom 12. November kündigt Opfer Pittet an, seinen früheren Peiniger noch einmal in Wil besuchen zu wollen – das sei mit Bischof Morerod so abgesprochen. Ihn begleite ein guter Freund, der einen Artikel über ihn geschrieben habe und nun noch das eine oder andere korrigieren wolle, schreibt er dem Klostervorsteher. Der Name des Freundes: Laurent Grabet.
Der Termin wird auf den 6. Januar 2017 angesetzt. Doch am Tag des Besuchs fehlt von Pittet jede Spur. Stattdessen stehen Journalist Grabet und ein Fotograf auf der Matte. Der Vorsteher des Klosters und Täter Allaz sind überrumpelt. Aus dem Treffen entsteht der Artikel vom 14. Februar 2017, der mit den Worten beginnt: «Eine Begegnung mit dem Teufel höchstpersönlich war an diesem kalten, verschneiden Freitagmorgen zu erwarten gewesen.»
Journalist Grabet reist am 10. Februar 2017 auch nach Mels im St. Galler Rheintal, wo er den ehemaligen Kapuzinerchef Ephrem Bucher trifft. Also jenen Mann, den der «Blick» später als grossen «Vertuscher» brandmarkt. Als «Blick» und «Le Matin» in der Nacht auf den 13. Februar die Druckerei verlassen, sind die Zutaten für die einwöchige Kampagne längst eingetütet, die Kampagne vorbereitet.
Die Indizien sprechen eine deutliche Sprache:
Da ist Bischof Morerod, der seit Monaten aktiv an der Entstehung des Buches mitarbeitet. Und seine Kontakte in den Vatikan nutzt, damit der Papst ein Vorwort beisteuert.
Da ist der Westschweizer Boulevardjournalist Laurent Grabet, der auf den von Bischof Morerod gepfadeten Wegen in den Klöstern der Kapuziner die Zutaten für seine Artikelserie findet.
Und, Zufall oder nicht: Die Bischofskonferenz, die Morerod präsidiert, hat zwei Monate vor Erscheinen von Pittets Missbrauchsbuch medienwirksam in einer Walliser Basilika eine Bussfeier für Opfer sexueller Übergriffe zelebriert.
Kein «Vaterunser» hätte den Kapuzinern angesichts dieser Ausgangslange noch etwas genützt. Bischof Morerod, Buchautor Pittet und Boulevardjournalist Grabet sind längst ein eingespieltes Team. Der Bischof lenkt die Scheinwerfer auf den Kapuzinerorden. Pittet erhält grossflächige Werbung für sein Buch. Und Grabet kann seine Story an zwei auflagenstarke Zeitungen verkaufen.
Februar 2017: Die bischöflichen Gedanken gelesen
Zurück zu den Geschehnissen in jener Woche, in der «Blick» und «Le Matin» aus vollen Rohren schiessen.
Im Sturm der täglichen Schlagzeilen sind die Kapuziner heillos überfordert. Sie protestieren im Nachgang bei der Bischofskonferenz per E-Mail gegen die Äusserung von Bischof Morerod im «Blick»: Dieser wünschte sich Ephrem Buchers Rücktritt aus dem Fachgremium zu sexuellen Übergriffen. Doch Sprecherin Berger-Lobato wiegelt ab, das sei lediglich ein «Missverständnis» gewesen. Bischof Morerod selber verteidigt sich in einem Communiqué, er habe das nicht so gesagt. Der Journalist habe lediglich «gemerkt, dass ich solches in der Tat denke».
Doch es kommt noch dicker für den Kapuzinerorden. Aus einem anderen Bistum, nämlich Chur, meldet sich Bischofssprecher Giuseppe Gracia als anonymer Informant via Mail bei befreundeten Journalisten. Darin lenkt er die Aufmerksamkeit auf Mauro Jöhri. Als Generalminister der Kapuziner führt Jöhri heute den Weltorden. Doch während der Nullerjahre war er drei Jahre lang Chef der Schweizer Kapuziner. Gracia schwärzt Jöhri als den wahren Schuldigen an. Einige Medien nehmen die Finte auf. «Reicht der Skandal bis nach Rom?», mutmasst die Luzerner Zeitung.
Das eigentliche Ziel dieser Aktion ist jedoch ein anderes: Mauro Jöhri gilt als möglicher Nachfolger für den bald frei werdenden Bischofsstuhl in Chur. Und wer mit der Vertuschung eines Missbrauchsskandals in Verbindung gebracht wird, kann sich im Vatikan aktuell keine grossen Chancen ausrechnen. Die konservativen Intriganten des Bistums erreichen, was sie wollen: Der als progressiv geltende Jöhri fällt aus dem Rennen.
Währenddessen wehrt sich der als «Vertuscher» gebrandmarkte Ephrem Bucher in einer E-Mail an Bischof Morerod. Er wirft ihm vor, «bis jetzt nur über mich geredet» zu haben, «aber nie mit mir». Er fügt weiter an: «Wenn schon Verantwortliche für die Deckung des Täters zu suchen sind, [...] dann findet man sie in der Diözesankurie von Fribourg», also im Bistum. Bucher schreibt Klartext: «Ich bin mir vorgekommen wie der Bodenlappen, auf dem man herumtrampelt, damit andere ihre Schuhe reinigen können.»
Die Kapuziner fühlen sich in die Ecke gedrängt. Sie beauftragen drei unabhängige Experten mit der Aufarbeitung der Missbräuche: einen ehemaligen Freiburger Kantonsrichter, einen emeritierten Geschichtsprofessor und einen Religionsrechtler der Universität Freiburg.
27. März 2018: Experten beleuchten dunkle Ecken
Bevor wir uns den Ergebnissen dieser Untersuchungskommission zuwenden, noch ein kurzer Blick auf den Sommer 2017: Opfer Pittet will noch einmal in Wil seinen ehemaligen Vergewaltiger besuchen. Er sei in der Gegend und wolle ihm Schokolade bringen, schreibt er. Mit dabei neben der versprochenen Schokolade ist wiederum Journalist Grabet. Ein weiterer Artikel im «Blick» und «Le Matin» erscheint – zur selben Zeit wie die deutsche Übersetzung von Pittets Buch.
Am 27. März 2018 veröffentlichen die von den Kapuzinern eingesetzten unabhängigen Experten die Ergebnisse ihrer fast einjährigen Arbeit. Ihr Untersuchungszeitraum begann mit der Geburt von Täter Joël Allaz und endete mit dessen Rauswurf aus dem Ordens- und dem Priesterstand am 20. Mai 2017. Dazwischen liegt eine Geschichte von Missbräuchen, des Kleinredens und Wegschauens.
Doch es wurde nicht nur weggeschaut. Kirche und Orden handelten auch. Mal schoben sie den Täter, mal versuchten sie ihn hinter Klostermauern einzusperren.
Bereits 1989 spricht das Opfer, Daniel Pittet, beim Offizial vor, dem obersten Richter des Bistums Freiburg: Jean-Claude Périsset. Ihm erzählt Pittet von Pater Joël Allaz’ Übergriffen. Périsset rapportiert das Gehörte an seinen Chef, den Freiburger Bischof Pierre Mamie. Dieser ruft den damaligen Chef des Kapuzinerordens, Gervais Aeby, herbei. Die drei suchen – und finden eine Lösung: Der fehlbare Priester soll ins Ausland abgeschoben werden, nach Grenoble, in Frankreich.
Doch weder Bischof Mamie noch sein Richter Périsset berichten dem dortigen Bischof die wahren Gründe für die Versetzung. Das gibt Allaz die Möglichkeit, in Frankreich weitere Jungen zu missbrauchen.
Im selben Jahr sitzt Ordensvorsteher Aeby in Afrika in einem Flugzeug, das libysche Terroristen als Ziel für einen Anschlag wählen. Mit seinem Tod geht das Wissen um Allaz’ Taten bei den Kapuzinern verloren. Nicht aber im Bistum. Bischof Mamie tritt erst 1995 von seinem Amt zurück. Und Offizial Périsset macht eine glanzvolle kirchliche Karriere: Er wird vom Papst zum Erzbischof geweiht, tritt in den diplomatischen Dienst ein und geht als päpstlicher Nuntius erst nach Bukarest, dann nach Berlin. Seine Rolle an der Vertuschung von Joël Allaz’ Taten kommt ihm dabei nie in die Quere.
Justiz beschäftigte sich viermal mit dem Täter
Tatsächlich steht der pädosexuelle Priester Joël Allaz im Verlauf der Jahre viermal im Visier der Justiz, wie die unabhängige Expertenkommission feststellt. Aufgrund einer Anzeige eines anderen Opfers ermitteln die Walliser Strafverfolgungsbehörden gegen den Priester. Allerdings stellt der Untersuchungsrichter das Verfahren ein, noch bevor er den Beschuldigten überhaupt vernommen hat. Der Fall ist verjährt. Allerdings liegen zu diesem Zeitpunkt auch Übergriffe vor, die noch nicht verjährt sind. Aber der Untersuchungsrichter stellt keine weiteren Fragen. Die Expertenkommission wirft ihm heute «mangelnde Neugier» vor.
2002 wird in Grenoble ein kirchenrechtliches Verfahren gegen den pädosexuellen Priester Joël Allaz eröffnet, das später versandet. Zu dieser Zeit ist der vom «Blick» als Vertuscher bezichtigte Ephrem Bucher gerade erst ein Jahr lang Ordenschef der Schweizer Kapuziner. Bucher erbt das «Problem» Joël Allaz. Und er bleibt nicht untätig, sucht die Fakten zusammen und fragt bei einem Oberrichter und einem Bezirksanwalt um Rat. Sein Ziel – das er allerdings erst viel zu spät erreichen wird: Joël Allaz soll in einem Kloster versorgt werden, damit er keinerlei Zugang mehr zu möglichen Opfern hat.
Zur selben Zeit, also 2002, verlangt Opfer Daniel Pittet eine finanzielle Wiedergutmachung. Die Kapuziner und des Bistum bezahlen ihm insgesamt 157’000 Franken. Täter Joël Allaz verbleibt derweil in Frankreich.
Am Bischofssitz in Freiburg bemüht man sich, die Angelegenheit unter dem Deckel zu halten. Vor allem, was die Mitverantwortung des mittlerweile zum päpstlichen Nuntius avancierten Jean-Claude Périsset und von Ex-Bischof Pierre Mamie angeht, heutiger Ehrenbürger der Stadt Freiburg. Sie waren direkt beteiligt an der Abschiebung des Täters nach Frankreich.
In den Nullerjahren wird deutlich, dass man Allaz aus Frankreich raushaben will. Im Gegensatz zur Schweiz herrscht im Nachbarland Anzeigepflicht bei sexuellen Delikten mit Minderjährigen. Auf Druck der französischen Kirchenleute nehmen die Kapuziner ihren ungeliebten Bruder ohne Begeisterung zurück: 2005 zieht Joël Allaz wieder in die Schweiz, nach Delémont, was beim Bistum Basel «Unzufriedenheit» auslöst.
Im Jahr 2008 leitet die Freiburger Staatsanwaltschaft eine Untersuchung ein. Die Untersuchungsrichterin Yvonne Gendre stellt Nachforschungen an. Bischof Genoud muss ihr Red und Antwort stehen, sie führt sogar eine Hausdurchsuchung am Bischofssitz durch. Doch obschon das Bistum über Joël Allaz’ Taten Bescheid weiss, verzichtet es auf die vollumfängliche Zusammenarbeit mit der Justiz. Ein 1989 angelegtes Dossier über den Täter Joël hält das Bistum unter Verschluss.
2012 wird Joël Allaz in Grenoble doch noch der Prozess gemacht: Der Priester wird zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Es ist das einzige Urteil gegen ihn, alle anderen Fälle sind längst verjährt.
Die Experten bemängeln noch etwas: Bis auf zwei haben alle als Zeugen geladenen Personen vor der Untersuchungskommission ausgesagt. Geweigert haben sich ausgerechnet zwei ehemalige Generalvikare des Bistums Freiburg.
Der Bischof findet keine neuen Erkenntnisse
Wer also hat in Freiburg was vertuscht? Seine Exzellenz Bischof Morerod kündigte im Februar 2017 an, dass er Pittets Enthüllungsbuch zum Anlass nehme, auch die Verantwortlichkeiten in seinem eigenen Bistum zu ergründen.
Nachdem die Untersuchungskommission am 27. März 2018 über ihre Ergebnisse berichtet, lässt der Bischof über seine Pressestelle verlauten: «Mgr. Morerod versuchte Licht in die Möglichkeit von weiteren beteiligten Personen innerhalb seiner Diözese zu bringen, unter Einbezug mehrerer Zeugen, welche mit [Joël Allaz] zu tun hatten. Das Treffen mit diesen Zeugen führte jedoch zu keinen neuen Erkenntnissen.»
Und Journalist Laurent Grabet? Er wird weiter durch das Bistum mit Botschaften gefüttert. In einem Artikel, der am Tag der Medienkonferenz zum Untersuchungsbericht in «Le Matin» erscheint, kritisiert er den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Genau an dem Morgen feiere Bischof Morerod eine wichtige Messe in Lausanne. Es war exakt dieselbe Kritik, die der Bischof selber gegenüber den Kapuzinern geäussert hatte.
Die Arbeit des Expertengremiums diskreditiert Grabet zur Sicherheit bereits vor Erscheinen des Berichts: Opfer Daniel Pittet habe sich bei der Befragung durch die Kommission wie vor Gericht gestellt gefühlt. Und sei deprimiert gewesen, lässt er sich in «Le Matin» zitieren. Der Grund: Der Kommissionspräsident hatte ihn nach seinen Besuchen bei Täter Joël Allaz im Kloster Wil gefragt.
War die Intrige nötig?
Blendet man in dieser Geschichte Täter und Opfer aus, verbleiben etliche Verantwortliche. Viele haben falsche, manche fatale Entscheidungen getroffen. Vergleichsweise wenig Schuld hat Bischof Morerod auf sich zu nehmen. Ihm kann man einzig vorwerfen, dass auch er wie alle anderen es versäumt hat, seiner Pflicht nachzukommen und die Taten in Rom anzuzeigen. Doch Morerod schanzte sich selbst eine unrühmliche Rolle zu, die des Intriganten. Indem er lieber mit dem Finger auf andere zeigte, als in den dunklen Ecken seines eigenen Bistums nachzusehen. Die Intrige war unnötig.
Oder doch nicht? Bereits heute sei der Bischof fast häufiger in Rom als daheim in Freiburg, wird erzählt. Nach diesem Glanzstück wird er ja womöglich seinen Wirkungsort ganz in den Vatikan verlegen.
* In einer früheren Version dieses Artikels wurde «Le Matin» fälschlicherweise dem Ringier-Verlag zugeordnet. «Le Matin» gehört zu Tamedia. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler.
Das sagen Ringier und das Bistum Freiburg
Die Republik hat bei der Ringier-Pressestelle nach den Kontakten zwischen Laurent Grabet und dem Bistum Freiburg von Bischof Charles Morerod gefragt. Der Medienkonzern hält fest, dass er über Details von Recherchen keine Auskunft erteilt. Zum Vorwurf, der «Blick» habe Kapuziner Ephrem Bucher als Hauptschuldigen dargestellt, schreibt Ringier: «Bucher wurde nicht als Schuldiger dargestellt, sondern als einer der Mitschuldigen am Nicht-Eingreifen.» Man habe ihm viel Platz eingeräumt, um seine Sicht darzulegen. Das Bistum Freiburg sagt auf Anfrage, Laurent Grabet sei nicht anders als andere Journalisten behandelt worden.