«Du bist nicht der Einzige, dem es beschissen geht»
14 Jahre lang begleitete der japanische Fotograf Kosuke Okahara sechs junge Frauen, die sich ritzen.
Von Solmaz Khorsand, 22.03.2018
14 Jahre lang haben Sie sechs junge Frauen begleitet, die sich selbst verletzten. Herr Okahara, sind Sie ein Masochist?
Die Zeit war sehr schmerzhaft für mich. Ich hatte nicht geplant, dass es so lange dauert. Das ist einfach passiert.
Woher kam Ihr Interesse?
Es hat damit begonnen, dass ich mit einem ehemaligen Unikollegen eines Abends in einer Bar sass und mit einer seiner Studentinnen gesprochen habe. Sie hat mich gefragt: Bist du glücklich? Ich meinte: Ja, schon. Dann haben wir uns verabschiedet. In derselben Nacht hat sie mich angerufen und erzählt, wie unglücklich sie selbst sei und dass sie sich ritze und verletze, weil sie sich nicht im «Ibasyo» fühlt.
Was bedeutet Ibasyo?
Es ist ein japanisches Konzept. Übersetzt ist es jener Zustand, in dem du existierst, wenn Körper und Geist im Einklang sind. Viele fühlen diesen Zustand in Japan nicht. Es gab eine Zeit, zu der ich selbst nicht im Ibasyo war. Als diese Studentin mir davon erzählt hat, hat mich das sehr berührt. Sie hat mich zu dem Projekt inspiriert. Ich habe dann über Mixi, das japanische Facebook, einen Aufruf gestartet, dass ich Leute suche, die sich selbst verletzen, und dass ich das gern dokumentieren würde.
So haben Sie die sechs Frauen gefunden.
Ja, sie waren damals zwischen 14 und 23 Jahre alt. Meine Anfrage war sehr anspruchsvoll, weil ich sie ja begleiten wollte, sogar mit ihnen leben. Das habe ich dann auch wochenweise getan und sie dabei ununterbrochen fotografiert. Wenn ich sie nicht fotografiert habe, war ich ständig in Kontakt mit ihnen. Einige haben mich jeden Tag angerufen. Meistens nach Mitternacht. Ich war wie ein Freund für sie.
Eine Frau hat Sie sogar angerufen, als sie zu viele Tabletten gegen ihre Angstzustände geschluckt hatte.
Das war sehr heftig. Sie hat mich in der Nacht angerufen, und ich bin sofort in ihre Wohnung gerannt. Und da ist sie gelegen. Fast bewusstlos.
Hat Ihre Anwesenheit die Frauen nicht provoziert, sich erst recht zu verletzen? Jetzt wo sie ihren persönlichen Chronisten zur Seite hatten?
Das weiss ich nicht. Es gibt im Projekt nur zwei Bilder, auf denen man ihre Narben sieht. Mir war es wichtig, ihren Alltag zu zeigen. Sie haben sich selten vor mir verletzt. Einmal hat mich ein Mädchen dauernd gebeten, dass ich duschen soll. Das habe ich dann auch gemacht. Als ich zurückgekommen bin, war alles voller Blut. Sie hat gesagt: Ich hatte so Lust darauf, mich heute zu ritzen, wärst du dabei gewesen, hättest du versucht, mich zu stoppen, und das hätte mich nur mehr gestresst.
Hätten Sie sie gestoppt?
Ich habe nur beobachtet und fotografiert. Irgendwie haben die Mädchen mir auch gedroht.
Inwiefern?
Sie meinten, dass sie sich nur noch tiefer und stärker verletzen würden, wenn ich sie aufhalten würde.
Wie oft haben sie sich vor Ihnen verletzt?
Nur zweimal.
Was haben Sie empfunden?
Ich hatte grosse Angst vor diesem Moment.
Wie lange dauerte das Ritzen?
Nicht lange. Höchstens 15 Minuten. Sie machen es sehr langsam. Sie sind dann in einem anderen Zustand, als wären sie nicht da. Sie sagen selbst, dass sie im Moment des Ritzens den Schmerz gar nicht spüren.
Warum haben sich die jungen Frauen verletzt?
Das sind Mädchen, die vergewaltigt wurden, aus gewalttätigen Familien kommen, Depressionen haben oder in der Schule gemobbt wurden. Das Ritzen erfüllte für sie zwei Aufgaben. Einerseits bestätigte es ihre Existenz, andererseits war es eine Bestrafung für sie, weil sie der Meinung waren, dass sie keinen Wert hatten und kein Recht darauf zu existieren.
Autoaggressives Verhalten gibt es in allen Gesellschaften. Gibt es bestimmte Faktoren, die es in Japan begünstigen?
Das ist schwierig für mich zu sagen. Als ich in Paris gelebt habe, hatte ich Freunde, die immer dachten, dass sie die unglücklichsten Menschen auf der ganzen Welt seien, und sie haben das auch gezeigt. In Japan zeigt man das nicht.
Warum?
Das Kollektiv ist wichtiger als das Individuum. Wenn du in Japan in einer beschissenen Situation bist, weisst du, dass es irgendwo andere Menschen gibt, denen es ähnlich geht. Du bist nicht der Einzige, dem es beschissen geht. Alle leiden.
Japan wird in westlichen Medien als resiliente Gesellschaft verklärt, zuletzt nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011, als sich ausländische Journalisten wunderten, wie scheinbar gelassen die Japaner ihr Schicksal hinnahmen.
Nach der Katastrophe von Fukushima hat man das sehr stark gesehen. Die Gesellschaft schien so normal, so organisiert und so ausgeglichen zu sein. Einerseits hat diese japanische «Das Leben geht weiter»-Haltung etwas sehr Positives. Andererseits ist das individuelle Leid ein grosses Tabu. Daher ist es für das Individuum sehr hart, Hilfe zu finden, weil du mit niemandem über dein Leiden sprechen kannst, weil es alle als Schwäche wahrnehmen.
Ist die Hemmschwelle, sich in diesen Situationen fotografieren zu lassen, nicht umso höher?
Es ist sehr hart. In Amerika beispielsweise sagen dir die Opfer eines Hurrikans, dass du sie fotografieren sollst. «Wir wollen, dass die Leute wissen, wie es uns geht», sagen sie. In Japan würde das niemand sagen. Sie wollen nicht, dass jemand sieht, dass es ihnen schlecht geht.
Weil es ein Tabu ist.
Das ist mit sehr viel Scham behaftet, selbst wenn du wie bei einer Naturkatastrophe nichts für deine Situation kannst. Deswegen denke ich, dass die Mädchen in meinem Projekt viel mehr Mut aufbringen mussten, sich fotografieren zu lassen, als Mädchen aus anderen Kulturen.
Was war die Motivation der sechs Frauen?
Sie alle kannten Leute, die sich ritzen. Sie wollten ihnen mit den Fotos Mut machen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Ausserdem wollten sie sich auch einmal von aussen sehen. Sie wollten wissen, wie sie die anderen wahrnehmen. Und sie wollten sehen, dass sie existieren.
Welche Rolle spielt das japanische Frauenbild im Verhalten der Mädchen?
In Japan ist das grösste Kompliment, das man einer Frau machen kann, ihr zu sagen, dass sie «kawaii» sei. Das bedeutet süss. Das Idealbild ist diese süsse Frau, nicht die heisse, unabhängige oder selbstbestimmte Frau. Ich denke schon, dass das einen gewissen Druck bei Frauen und Mädchen verursacht, bewusst oder unbewusst.
Wie geht es den sechs Frauen jetzt?
Von fünfen hat sich der Zustand sehr verbessert. Zu einer, die zu Beginn des Projekts 14 Jahre alt war, habe ich leider den Kontakt verloren. Ihr Vater, mit dem ich mich gut verstanden habe, hat vor ein paar Jahren gemeint, dass etwas passiert sei und dass er nicht mehr reden möchte. Ich weiss nicht, ob sie noch lebt oder nicht.
Leid ist ein guter Verkaufsschlager. Waren Sie je in einem moralischen Dilemma wegen Ihres Projekts?
Ich weiss nicht, ob es wichtig ist, dass ich das Projekt moralisch rechtfertigen kann. Ich habe den Mädchen allen offen gesagt, was ich konkret vorhabe, und sie wussten es auch. Ausserdem beschränkt sich das Projekt auf sechs Bücher. Ein Buch über jedes Mädchen. Ich habe diese sechs Bücher dreieinhalb Jahre durch die Welt geschickt, sodass fremde Leute den Mädchen ihre Gedanken zu ihnen oder den Bildern schreiben können und sie sehen, dass es da draussen Leute gibt, die sehr wohl ihre Existenz anerkennen. Das halte ich für moralisch schon gerechtfertigt.
Kosuke Okahara, 37, arbeitet als Fotojournalist. So dokumentierte er unter anderem den Drogenkrieg in der kolumbianischen Stadt Medellín, besuchte Chinas ehemalige Leprakolonien und begab sich auf Identitätssuche in Moldawiens abtrünniger Republik Transnistrien. In seinem aktuellen Projekt «Ibasyo» begleitete er sechs Frauen mit autoaggressivem Verhalten 14 Jahre lang. Die Fotos hat er in sechs Bildbänden veröffentlicht – jeweils ein Band für eine Frau. Diese sechs Bücher schickte er drei Jahre lang durch die Welt und ein halbes Jahr durch Japan. Fremde sollten ihre Gedanken und Erfahrungen in den Büchern für die Frauen festhalten. Am Ende sollte jede Frau ihr ganz persönliches Exemplar erhalten. Derzeit arbeitet Okahara an einem Buch, das die Reise der sechs Fotobücher rekonstruieren soll. Das Buch «Ibasyo» erscheint am 30. März 2018.