Die digitale Zeitung, die Sarkozy in Haft brachte
Die französische Internetzeitung «Mediapart» feiert ihren zehnten Geburtstag. Sie ist erfolgreich, mit nichts als Journalismus. Aufgrund einer Mediapart-Recherche wurde nun ein Untersuchungsverfahren gegen Nicolas Sarkozy eingeleitet.
Von Marc Zitzmann, 22.03.2018
2008 war ein Schreckensjahr für Frankreichs Tagespresse. Noch ein weiteres Schreckensjahr, um genau zu sein, denn Auflagen und Werbeeinnahmen waren schon seit 2001 stetig am Schrumpfen. Aber die Finanzkrise, die sich 2008 zur Weltwirtschaftskrise ausweiten sollte, fügte der strukturellen Abwärtskurve noch einen massiven konjunkturellen Knick hinzu. Bei «Le Figaro» und «Le Monde» kam es zu zahlreichen Entlassungen. Auch «France-Soir» und «Libération» trennten sich von Mitarbeitern. Die kommunistische «Humanité» ging betteln und lancierte einen Spendenaufruf.
Doch im selben Jahr 2008 wurde auch ein Medium lanciert, das sich zum spektakulärsten Branchenerfolg seit Jahrzehnten mausern sollte: «Mediapart». Vieles an dieser Internetzeitung war untypisch, um nicht zu sagen dem Zeitgeist frontal entgegengesetzt. Sie hatte den Ehrgeiz, ein «Pure Player» zu sein, das heisst nur im Netz zu existieren, obwohl Frankreichs meistbesuchte Nachrichtenportale allesamt Nebenerzeugnisse von Printprodukten waren (und noch heute sind). Sie setzte auf ein Abonnement-Modell, obwohl alle gedruckten Blätter dabei waren, ihre Inhalte gratis ins Netz zu stellen. Und sie veröffentlichte Artikel von geradezu epischer Länge, obwohl die Tendenz fast überall Richtung Kurzfutter ging.
«Mediapart» aber ging eigene Wege, auch politisch: Von Beginn an bezog die Zeitung Stellung gegen Nicolas Sarkozy. Der hyperaktive Illusionist, der das geräuschvolle Auf-der-Stelle-Rotieren zu einer Kunstgattung eigener Art erhoben hatte, genoss Anfang 2008 noch den «état de grâce», die Schonfrist nach seinem Sieg bei der Präsidentenwahl des Vorjahrs. Er betörte beziehungsweise betäubte die Medien, indem er täglich ein Projekt ankündigte, eine Polemik vom Zaun brach, einen Untergebenen an den Pranger stellte. Der Tross der akkreditierten Elysée-Berichterstatter kam kaum mehr dazu, Fakten zu überprüfen und abseits der von Sarkozys PR-Maschinerie markierten Trampelpfade zu recherchieren. Hier sah «Mediapart» sein Betätigungsfeld.
Widerstand gegen Verlegermilliardäre
Gründer der Internetzeitung waren vier erfahrene Journalisten, die alle in den 1950er-Jahren geboren waren und alle in leitender Funktion für «Le Monde» (sowie für andere Tages- und Wochenzeitungen) gearbeitet hatten: François Bonnet, Gérard Desportes, Laurent Mauduit und Edwy Plenel. Dass sie ein neues Informationsmedium lancierten, entsprang auch der Frustration über die Unfreiheit von Frankreichs Druckmedien. Seit 2008 hat sich diese Unfreiheit, die in den Besitz- und Abhängigkeitsverhältnissen gründet, sogar noch verstärkt.
Heute gehören alle überregionalen, nichtspezialisierten Zeitungen und Zeitschriften schwerreichen Industriellen, deren wirtschaftliche Hauptinteressen in ganz anderen Bereichen liegen. «Le Figaro» ist im Besitz des Flugzeugbauers, Waffenhändlers und konservativen Politikers Serge Dassault. «Le Monde» wird seit 2010 von dem Geschäftsbankier Matthieu Pigasse und dem Internet- und Mobiltelefonanbieter Xavier Niel kontrolliert, neben der Wochenzeitung «Le Nouvel Observateur» und einem Halbdutzend weiterer Titel. Die Rivalen Bernard Arnault und François Pinault, Hauptaktionäre der Luxusgüterkonzerne LVMH beziehungsweise Kering, konkurrenzieren sich nebenbei auch als Verleger: Arnault besitzt die einzige Wirtschaftszeitung des Landes, «Les Echos», Pinault das Wochenmagazin «Le Point». Der Magnat Vincent Bolloré, dessen Geschäftstätigkeit grossmehrheitlich auf den afrikanischen Kontinent konzentriert ist, kontrolliert die Canal+-Gruppe und Havas, die sechstgrösste Werbegruppe der Welt. Der Rüstungsindustrielle Arnaud Lagardère zählt zwei einflussreiche Wochenzeitungen, «Paris Match» und «Le Journal du Dimanche», sowie den Radiosender Europe 1 zu seinem Imperium. Der Kabel- und Telekommunikationsunternehmer Patrick Drahi endlich hat in den letzten Jahren die linke Tageszeitung «Libération» und die bürgerliche Wochenzeitung «L’Express» übernommen.
Es ist unausweichlich, dass diese Besitzverhältnisse Unabhängigkeit und Objektivität der Berichterstattung beeinflussen. Bestenfalls üben die genannten Medien nur dann Selbstzensur, wenn es darum geht, kritisch über ihre jeweiligen Besitzer (oder deren Geschäftspartner oder politische Verbündete oder Freunde oder Verwandte …) zu berichten. Schlimmstenfalls greifen die Besitzer direkt oder indirekt ein, um unbequeme Artikel zu kippen, angriffige Sendungen abzuschaffen, streitbare Journalisten zu entlassen. «Mediapart» ist in Reaktion auf diese Zustände gegründet worden. Nicht von ungefähr lautet der Wahlspruch der Internetzeitung: «Einzig unsere Leser können uns kaufen».
Doch Unabhängigkeit muss man sich erst einmal leisten können. Edwy Plenel und Marie-Hélène Smiéjan steckten je 550’000 Euro in das Unterfangen, François Bonnet, Gérard Desportes und Laurent Mauduit gemeinsam 225’000 Euro. Das IT-Unternehmen Ecofinance und die Investmentgesellschaft Doxa schossen je eine halbe Million Euro zu, 46 Freunde und Verwandte der fünf Gründer rund 600’000 Euro. Das Startkapital von etwas über 2,9 Millionen Euro wurde später zweimal erhöht, im September 2008 um 800’000 Euro, im Juli 2009 um 2 Millionen Euro. Heute halten die Gründer (minus Desportes, der «Mediapart» 2010 verlassen hat) etwas über 42 Prozent des Kapitals, Doxa und Ecofinance gut 38 Prozent, die «Freunde» knapp 17 Prozent. Seit Herbst 2010 ist die Internetzeitung rentabel und finanziert ihr Wachstum allein durch ihre Gewinne.
Lanciert wurde «Mediapart» mit einer dreissigköpfigen Equipe. Plenel übernahm den Posten des Herausgebers, Smiéjan jenen der Generaldirektorin, Bonnet wurde «directeur éditorial», Desportes Politik- und Mauduit Wirtschaftsredaktor. Die 22 weiteren Redaktionsmitglieder waren im Schnitt um die dreissig Jahre alt. Die Jüngste, Marine Turchi, 25 Jahre, hatte erst ein halbes Jahr zuvor ihr Journalistikstudium abgeschlossen.
Der Kampf um Glaubwürdigkeit
Bei einem Kaffee im lichten Versammlungsraum des Redaktionssitzes erinnert sich Turchi, die heute die Dossiers «Rechtsextremismus» und «Sexualisierte Gewalt» betreut, an die harzigen Anfänge. «Wir bereiteten die Lancierung der Website Anfang 2008 in einem ehemaligen Fotoatelier im elften Arrondissement vor. Ein dunkles Loch – manche sagten: ‹eine Grotte› –, wo das drahtlose Internet nur an gewissen Stellen funktionierte und wo wir nur über ein einziges Festnetztelefon verfügten. Alle arbeiteten mit ihren privaten Laptops auf Klapptischen. Ansprechpartner verstanden unseren Namen stets falsch, sodass wir uns selbst im Scherz bald ‹Mediapark› nannten.» Sich einen Namen zu machen und zahlungsbereite Interessenten anzuziehen, war schwieriger als gedacht.
Statt mit erwarteten 10’000 Abonnenten startete «Mediapart» mit 3500 – um die Gewinnschwelle zu erreichen, waren nach damaligen Schätzungen 55’000 zahlende Leser nötig! Wohl konnte die Zeitung von Beginn an mit exklusiven, brisanten Informationen aufwarten, etwa über die Finanzkrise bei der Bankengruppe Caisse d’Epargne oder über eine Korruptionsaffäre um die illegale Finanzierung der Regierungspartei durch Rückprovisionen aus Waffenverkäufen. Aber diese Enthüllungen wurden durch die etablierten Medien totgeschwiegen.
Das änderte sich am 16. Juni 2010, als «Mediapart» Ausschnitte aus Gesprächen der L'Oréal-Hauptaktionärin Liliane Bettencourt mit Besuchern veröffentlichte, die der Butler der reichsten Frau Europas heimlich mitgeschnitten hatte. Diese Aufnahmen liessen den Verdacht einer illegalen Finanzierung von Sarkozys erster Präsidentschaftskampagne und eines schweren Interessenkonflikts seines Budgetministers aufkommen. «Von diesem Tag an», erinnert sich Turchi, «blickten Berufskollegen ganz anders auf uns.»
Auch Stéphane Alliès, der im politischen Ressort die Linke betreute und Anfang März zusammen mit Carine Fouteau die Nachfolge von François Bonnet als Redaktionsleiter angetreten hat, erinnert sich an die schwierigen Anfänge. «Es gab Momente, da sah es so aus, als würden wir in drei Monaten nicht mehr existieren. Viele fragten sich, ob es nicht besser wäre, anderswo Arbeit zu suchen.» Als Wendepunkt sieht Alliès allerdings nicht die Bettencourt-Affäre Mitte 2010, sondern die Cahuzac-Affäre Ende 2012 an. Damals konnte «Mediapart» François Hollandes Budgetminister nachweisen, dass er nicht deklarierte Bankkonten in der Schweiz und in Singapur besass. Jérôme Cahuzac bestritt vier Monate lang mit beachtlichem Schauspieltalent alle Vorwürfe, legte am Ende aber ein Schuldgeständnis ab. 2016 wurde er erstinstanzlich zu drei Jahren Gefängnis unbedingt verurteilt.
Die Cahuzac-Affäre illustrierte bis zur Karikatur die Willfährigkeit vieler französischer Medien. Aus Opportunismus, aus Herdentrieb oder schlicht aus Faulheit liessen sie sich in den Dienst einer durch mächtige Interessengruppen orchestrierten Verteidigungskampagne des betrügerischen Ministers stellen. «Bis dahin waren unsere Informationen oft angezweifelt worden», erinnert sich Alliès. «Das politisch-wirtschaftliche Establishment und die journalistische Konkurrenz pflegte a priori die Seriosität unserer Berichterstattung infrage zu stellen. Die Cahuzac-Affäre, während der wir buchstäblich allein gegen alle gekämpft hatten, monatelang, führte zu einem Umdenken. Von da an setzte sich die Überzeugung durch, dass ‹Mediapart› nur dann Anschuldigungen erhebt, wenn es sich auf unumstössliche Beweise stützen kann.»
Das war auch der Fall in einer anderen Staatsaffäre, die an ein haarsträubendes Hollywood-Drehbuch gemahnt: die «Affaire Sarkozy-Ghadhafi». Im April 2012 veröffentlichte die Internetzeitung ein offizielles libysches Dokument aus dem Jahr 2006, gemäss dem das Regime des nordafrikanischen «Revolutionsführers» 50 Millionen Euro lockergemacht hatte, um Sarkozys Wahlkampagne 2007 zu finanzieren. Die Echtheit des Dokuments wurde 2014 durch Grafologen zertifiziert und 2017 auch durch die mit dem Fall betrauten Pariser Untersuchungsrichter bestätigt. In ihrem im Herbst erschienenen Buch «Avec les compliments du Guide» zeichnen die «Mediapart»-Spürhunde Fabrice Arfi und Karl Laske die Geschichte der tiefen Kompromittierung des Sarkozy-Clans durch den libyschen Diktator nach. Mehrere Zeugen, die die Journalisten ausfindig machen konnten, behaupten gar, Ghadhafi sei nach seinem Sturz durch französische Agenten liquidiert worden, damit er über seine Verbindungen mit dem Elysée nicht mehr reden kann.
Frankreichs Justizbehörden ermitteln seit 2013. Am Dienstag wurde Sarkozy bei Paris in Polizeigewahrsam genommen, um durch Beamte des zentralen Antikorruptionsamts in dieser Sache verhört zu werden. Am Mittwoch wurde ein offizielles Untersuchungsverfahren eingeleitet. Aktuell sieht es ganz so aus, als sollten sich die Enthüllungen von «Mediapart» bewahrheiten. Es wäre der grösste Politikfinanzierungsskandal der fünften Republik. Ein französisches Watergate – ausgelöst durch eine Handvoll kompromisslose Rechercheure.
Neben aussergewöhnlichen Affären wie Bettencourt, Cahuzac und Sarkozy-Ghadhafi enthüllt «Mediapart» auch «gewöhnliche» Missstände, viele davon in der Wirtschaftswelt. Die Bandbreite reicht von der illegalen Vermietung von Verkehrsdienstleister-Lizenzen durch eine Uber-Filiale bis zur potenziell existenzbedrohenden Unternehmensstrategie des staatlichen Stromkonzerns EDF. Gern recherchiert die Internetzeitung auch kritisch über Medienmagnaten wie Vincent Bolloré, Patrick Drahi oder Xavier Niel, über welche die übrigen Blätter allenfalls zaghaft berichten.
Entscheidend ist der Investigativjournalismus
Für seine grossen Untersuchungen, die oft in drei, vier, fünf Lieferungen von je 20’000 oder noch mehr Zeichen über mehrere Tage verteilt erscheinen, gibt sich «Mediapart» Mittel, wie sie selbst Weltblätter nur selten aufwenden. Die Journalisten, die mit den Affären Karachi und Cahuzac betraut waren, verbrachten fünf, sechs Monate nur mit dem Sammeln von Information, ohne während dieser Zeit viel zu schreiben.
Das Recherchieren in Zweierteams ist eine Spezialität der Internetzeitung. Diese Arbeitsmethode sei nicht nur «teuflisch effektiv», erklärt Bonnet im Gespräch, sondern auch ein probates Gegenmittel gegen die Selbstvergiftung, die «obsessiven» Investigativjournalisten drohe. So hat praktisch jedes Redaktionsmitglied mindestens einen Artikel mit praktisch jedem anderen verfasst. Bei weitverzweigten Affären legt die halbe Redaktion Hand an. Die Bettencourt-Affäre etwa beleuchteten nicht weniger als siebzehn Redaktorinnen und Redaktoren unter dem Gesichtspunkt ihres jeweiligen Spezialgebiets: politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell.
Heute ist «Mediapart» Frankreichs führendes Medium für investigativen Journalismus. Einzig der trotz seines hohen Alters noch immer bissige «Canard enchaîné» vermag der Internetzeitung das Wasser zu reichen. Ein Vergleich zwischen den beiden Publikationen ist lehrreich. Der «Canard» verweigert sich konsequent jedem Internetauftritt und erscheint gedruckt einmal pro Woche. «Mediapart» existiert ausschliesslich in digitaler Form und stellt jeden Tag zu festen Zeiten eine neue Ausgabe mit zwei bis fünf frischen Artikeln ins Netz – dreimal an Wochentagen, zweimal am Wochenende. Beide Zeitungen haben den investigativen Ansatz auf eine breite Palette von Themengebieten ausgedehnt, von Wirtschaft und Gesellschaft über Umwelt und Gesundheit bis hin zu Sport und Kultur. Doch während der «Canard» einen dezidiert satirischen Stil pflegt und sich auch an Indiskretionen, Polit-Klatsch und Promi-Gossip delektiert, verschmäht «Mediapart» derlei Naschzeug und huldigt einer sachlichen, selbst bei Reportagen oft etwas kühlen Sprache.
Haltung und Zivilcourage
Die Internetzeitung hält es mit dem Journalisten und Soziologen Robert E. Park (1864–1944), für den ein mit Informationen bewehrter Journalist ein wirksamerer Reformer ist als ein Leitartikler, der von der Kanzel herab wettert. «‹Mediapart› steht seit je auf zwei Beinen: Information und Engagement», schreibt Plenel in «La Valeur de l’information», einem jüngst erschienenen journalistischen Glaubensbekenntnis. Carine Fouteau, die Anfang März gemeinsam mit Stéphane Alliès die redaktionelle Leitung übernommen hat, betont jedoch auch die Wichtigkeit des zweiten Standbeins: «Mediapart» sei die Zeitung der Alternativen, der Empörungen, der sozialen Bewegungen.
Nicht von ungefähr ist das Logo des Unternehmens – ein Zeitungsausrufer – in abstrahierter Form von Editions Maspéro abgekupfert, jenem im Algerienkrieg gegründeten Verlag, aus dem später die Editions La Découverte hervorgegangen sind. Dieses Verlagshaus steht bis heute für eine undogmatische, wissensdurstige Linke, die Aufklärung mit Pädagogik zu verbinden weiss und intellektuelle Redlichkeit mit Zivilcourage. In dem gallischen Glaubensstreit, der die Definition des «wahren Laizismus» zum Gegenstand hat, vertritt «Mediapart» die Position der Väter des Gesetzes von 1905 über die Trennung von Kirche und Staat, wonach der Laizismus jedem Landesbewohner die grösstmögliche Freiheit bieten müsse, zu glauben oder nicht zu glauben – und nicht als ein Kampfinstrument gegen die Religionen im Allgemeinen und gegen den Islam im Besonderen missbraucht werden dürfe.
Edwy Plenel, der die Internetzeitung nach aussen hin repräsentiert und 2014 ein Plädoyer für ein unverkrampftes Zusammenleben mit dem programmatischen Titel «Pour les musulmans» veröffentlicht hatte, wurde im November durch zwei Vorkämpfer für den «streitbaren Laizismus» aufs Schärfste angegriffen: «Charlie Hebdo» und Manuel Valls. Während das Satireblatt ohne die Spur eines Beweises unterstellte, Plenel habe von den Vergewaltigungen gewusst, deren der Islamwissenschafter Tariq Ramadan derzeit beschuldigt wird, polterte der ehemalige sozialistische Premierminister, «Mediapart» und dessen Herausgeber müssten «in die Knie gezwungen, aus der öffentlichen Debatte entfernt» werden. So viel zum Risiko, im heutigen Frankreich eine konziliante, liberale Haltung gegenüber dem Islam und seinen Anhängern einzunehmen.
Der Trumpf der Unvollständigkeit
Doch zurück zum Redaktionssitz der Internetzeitung. Jeden Morgen um halb elf Uhr findet im Grossraumbüro im ersten Stock eine Redaktionskonferenz statt. Am 15. März waren rund zwei Dutzend Mitarbeiter um den zentralen Freiraum versammelt – die einen auf herbeigerollten Sesseln sitzend, die anderen an Schreibtischen lehnend oder frei stehend. Viele scrollen, während Kollegen sprechen, auf ihrem Handy; andere nuckeln an einem dampfenden Pappbecher oder starren tagträumend in den hohen, weiss getünchten Saal. Diesem verleihen Apple-Computerbildschirme sowie Kabel, die von der Decke baumeln, einen Start-up-Charakter. Die wie Blattwerk gemusterten Metallblenden der raumhohen Fenster temperieren das technologische Ambiente. Bücher in Riesenregalen setzen Farbtupfer und sorgen für einen Hauch von Vergeistigung.
Carine Fouteau fasst rasch den Inhalt der 9-Uhr-Ausgabe zusammen, dann melden Redaktorinnen und Redaktoren Beiträge für die 13-Uhr-Edition an. An diesem Tag gibt es keine Staatsaffären: Proteste gegen diverse Reformen, Kritik am Internationalen Strafgerichtshof sowie die Anhörung eines «sexueller Korruption» verdächtigten Ministers bilden das «menu du jour». Neue Artikel kommen eine Zeitlang auf die «Titelseite» der Internetzeitung, dann werden sie durch frischere ersetzt und verschwinden peu à peu in den Tiefen der Rubriken, denen sie jeweils zugeordnet werden: «International», «France», «Economie», «Culture» – wie in einer gedruckten Zeitung. Zusätzlich hat «Mediapart» aber auch attraktive Digital-Inhalte im Angebot: Im «Studio» werden wöchentlich mehrere Live-Gesprächssendungen mit führenden Politikern oder Intellektuellen sowie Dokumentarfilme und Fotoreportagen online gestellt. Im «Club» können Abonnenten Blogs anlegen und mit den Journalisten diskutieren. Renommierte Historiker, Politologen und Soziologen wie Philippe Corcuff, Eric Fassin, Claude Lelièvre, Philippe Marlière, Laurent Mucchielli und Benjamin Stora zählen zu den aktiven «Club»-Mitgliedern.
Mit 140’000 Abonnenten ist «Mediapart» heute Frankreichs drittgrösste überregionale Tageszeitung. Der Abstand zu «Le Figaro» und «Le Monde» verringert sich von Jahr zu Jahr. Trotz des Verzichts auf Werbeeinnahmen und auf Subventionen steigen Umsatz und Gewinn stetig. Die Rendite beträgt 16 Prozent, was für die Branche schlichtweg sensationell ist. So verfügt die Internetzeitung über Mittel, um in die Zukunft zu investieren. Zählte die Belegschaft ursprünglich 30 Mitarbeiter, so sind es heute 83 (darunter 45 Journalisten). Die Gründer werden in absehbarer Zeit ins zweite Glied zurück- oder ganz abtreten. Überlegungen sind im Gang, nicht nur ihre Aktien, sondern das gesamte Kapital in eine Art Stiftungsfonds zu überführen.
Die nachrückende Generation, angeführt durch Alliès und Fouteau, hat ehrgeizige Pläne: Die Berichterstattung über die Bereiche Agrobusiness, Ernährung und Gesundheit soll ausgebaut, die Produktion von Videos intensiviert, eine mögliche Leserschaft im Maghreb angesprochen werden. Jüngst hat die Internetzeitung, die schon länger «feste» freie Mitarbeiter im Ausland beschäftigt, ihren ersten festen Korrespondentenposten geschaffen – Trumps «Wilder Westen» war einfach zu verlockend.
Doch je mehr Ruhm und Reichtum «Mediapart» erringt, desto mehr droht die Normalisierung. Alliès meint im Gespräch, die Zeitung werde sich kraft ihrer Originalität stets von den etablierten Konkurrenten abheben. Es ist jedoch leichter, sein Profil zu schärfen, solange man nur selektiv über das Tagesgeschehen berichtet. Einst stiess sich niemand daran, wenn die Internetzeitung ein aktuelles Thema nicht behandelte. Doch heute schnauben anspruchsvolle Leser und hämische Konkurrenten sogleich: «Warum bringt ‹Mediapart› nichts?» Der Ruf nach Vollständigkeit wird lauter – womit «Mediapart» gedrängt wird, sich einen Schritt weiter zur gewöhnlichen Zeitung zu entwickeln. Wie als Exorzismus gegen Routine und Konformismus haben seit letztem Sommer elf Redaktorinnen und Redaktoren die Dossier-Zuständigkeiten gewechselt. Damit dürfte die Gefahr, dass der Erfolg von «Mediapart» eine Wachstums- und Identitätskrise auslöst, nicht aufgehoben sein. Aber immerhin aufgeschoben.
Marc Zitzmann wurde 1973 von deutschen Eltern in einem Pariser Vorort geboren. Er hat den grössten Teil seines Lebens in oder bei Frankreichs Kapitale verbracht. Zwischen 1997 und 2017 war er daselbst als Kulturkorrespondent für eine Schweizer Tageszeitung angestellt, berichtete aber auch über politische, gesellschaftliche und touristische Themen. Heute setzt er diese Tätigkeit als freier Journalist für deutschsprachige Blätter wie «FAZ» und «NZZ am Sonntag» fort. Viele seiner Leidenschaften tragen den Buchstaben «K» im Namen: Kunst und Kultur im Allgemeinen (klassische Musik und Klavierspiel im Besonderen), Katzen, Cocktails, Schokolade. Und ganz generell alles Kulinarische.