«Was für ein Wunder haben wir denn hier?!»
Wie Wissenschaftler in den eisigen Weiten Sibiriens aus Füchsen Haushunde züchten – und damit der Evolution in Echtzeit zuschauen.
Von Lee Alan Dugatkin, 21.03.2018
Sechs Jahrzehnte ist es her, dass meine Kollegin und Freundin Ludmilla Trut eines der wohl aussergewöhnlichsten biologischen Experimente begann, das die Welt je gesehen hat. Genau genommen war es Truts Mentor, der die Saat dazu legte. Der Genetiker Dmitri Beljajew hatte den Plan gefasst, der Natur bei ihrer Magie zuzuschauen: Er wollte die evolutionäre Entwicklung vom Wolf zum Haushund nachspielen – in Echtzeit, und mit Füchsen statt mit Wölfen. 1959 also begannen Trut – eine damals erst 25-jährige Forscherin mit einer «fast pathologischen Liebe für Tiere», wie sie selber sagt – und Beljajew in den eisigen Weiten von Nowosibirsk ihr Experiment mit wilden Füchsen.
Aus jeder Generation würden sie jene Tiere auswählen, die am ruhigsten und offensten auf Menschen reagierten, die ihnen etwa die Hände leckten, und mit ihnen die nächste Generation von Füchsen züchten. Sechzig Jahre ist dieser Entscheid her – und was seither geschah, ist nichts weniger als atemberaubend. Vor allem stellten die verblüfften Forscher mit den Jahren fest: Obwohl sie ihre Tiere streng nur nach Verhalten selektionierten, begannen die Nachkommen gespenstisch auch immer mehr wie Haushunde auszusehen. Heute weiss man mehr darüber, warum das so ist – aber dazu gleich.
«Wir nannten sie Metschta (мечта)», sagt Ludmilla, das russische Wort für Traum. Sie wählten diesen Namen, weil sie ihren Augen kaum trauten, als die junge Füchsin 1969 zur Welt kam. Die ersten zehn Jahre des Experiments waren ordentlich gewesen. Alles lief besser, als Beljajew oder Trut das erwartet hatten, und sie waren zufrieden. Doch als Metschta* kam – das war noch einmal etwas ganz anderes.
Ein Meilenstein, ein Durchbruch
Das junge Tier gehörte zur zehnten Generation der domestizierten Füchse. Und Metschta war so aussergewöhnlich, dass Ludmilla noch heute zu strahlen beginnt, wenn sie an ihre alte Freundin denkt – und an das erste Mal, als Mentor Beljajew sie zu Gesicht bekam. «Was für ein Wunder», hatte er ausgerufen. «Was für ein Wunder haben wir denn hier?!»
Beljajew hatte in jenem Frühsommer 1969 bereits begonnen, einen Grossteil der Arbeit auf dem Fuchshof Trut zu überlassen. Der Forscher war zu einem Mann mit wenig Zeit geworden und schaffte es immer seltener, die Füchse zu besuchen. Es war ihm über die Jahre gelungen, das Institut für Zellforschung und Genetik, zu dem der Hof gehörte, zu einem der wichtigsten Wissenschaftszentren der damaligen Sowjetunion zu machen. Er hielt Vorlesungen in Genetik an der Universität in Nowosibirsk, nur wenige hundert Meter vom Institut entfernt. Mehr noch: Der Genetiker erhielt mitten im Kalten Krieg immer mehr Einladungen, seine Arbeit an Konferenzen rund um den Globus vorzustellen. Und wenn er nicht unterwegs war, frass die Administration seine Zeit.
Ludmilla litt unter Beljajews Abwesenheit, wie sie später erzählte. Er war für sie stets nicht nur ein brillanter Mentor und Wissenschaftler, sondern auch ihr Vertrauter. «Immer wenn die Lage für mich schwierig war und mir etwas in der Seele schmerzte, spürte er das», sagt sie heute. «Und wenn ich bereit zum Reden war, wusste er schon beim ersten Wort, was ich ihm sagen würde.» Auch Beljajew selber hätte gern mehr Zeit auf dem Hof verbracht, wie ein früherer Weggefährte berichtet. Der Genetiker war von Natur aus ein strenger und formeller Mann, seine Schultern waren zusätzlich beschwert von den Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs und von seinem Amt als Institutsleiter. «Doch sobald die Tiere um ihn waren, wurde er ein anderer Mensch», sagt der alte Kollege. «Wenn er Zeit mit den Tieren verbrachte, sie versorgte oder hochhob – dann stand ihm ein Lächeln im Gesicht. Er liebte diese Tiere.»
Als ihr Chef sich in jenem Juni 1969 endlich mal wieder auf dem Hof ankündigte, warteten Ludmilla und ihre Assistentin darum aufgeregt und voller Vorfreude auf ihn. Sie habe es kaum erwarten können, Beljajew Metschta zu zeigen, sagt Ludmilla. Sein Gesicht zu sehen – und zu hören, ob auch er glaubte, dass sie hier einen Meilenstein vor sich hatten. Einen Durchbruch.
Und tatsächlich: Spontan rief er das Wunder aus, als er Metschta unter den anderen Jungen im offenen Gehege entdeckte. Mit einer Mischung aus Schock und Hingerissenheit habe er sie angeblickt, berichtet Ludmilla. Er habe das junge Tier hochgehoben, gestreichelt und gestaunt. Metschta hatte hängende Ohren wie ein Hundewelpe. Überhaupt sah sie aus wie ein Hundejunges. «Dein Chef zeigt dem Publikum dieses Bild eines Hundewelpen und behauptet, es sei ein Fuchs», zitiert Ludmilla eine befreundete Biologin. «Denkt er eigentlich, wir nehmen ihm das ab?» Das, sagt Ludmilla, sei die wohl schönste Bestätigung für ihre Arbeit gewesen.
Metschta löste bei Menschen aus, was gewöhnliche Hundewelpen oft auslösen: Jeder, der sie sah, wollte sie hochheben, halten und streicheln. Wie ein Hundewelpe leckte Metschta ausserdem Menschen die Hände und wedelte dazu mit dem Schwanz. Aber das Aussergewöhnlichste an ihr waren tatsächlich ihre Ohren: In allen wilden Fuchspopulationen richten sich die Ohren wenige Wochen nach der Geburt auf – nicht bei Metschta. Sie war das erste von Ludmillas vielen hundert Fuchsjungen, das die Ohren hängen liess wie ein Schosshund. Sie war, in der Tat, der Durchbruch.
Als Ludmilla über Metschta spricht, zitiert sie einmal Antoine de Saint-Exupérys kleinen Prinzen: «Du bist ewig für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.» Bei Saint-Exupéry ist es ein Fuchs, der mit dem kleinen Prinzen diese Weisheit teilt. Für sie sei es gewesen, als würde Metschta genau dasselbe zu ihr sagen, sagt Ludmilla. Sie hatte jetzt Verantwortung. Das Experiment funktionierte.
Für immer verantwortlich
Mit den Jahren und Jahrzehnten stellten Ludmilla und ihr Team – Beljajew ist 1985 verstorben – fest: Metschta war zwar die Erste gewesen, aber sie war nicht die Letzte. Obwohl sie die Füchse zur Weiterzucht stets streng nur nach deren Verhalten auswählten – aus jeder Generation jene rund 10 Prozent, die Menschen weder aggressiv begegneten noch sie zu fürchten schienen, sondern ruhig und freundlich reagierten –, ähnelten die Tiere mit der Zeit auch äusserlich immer mehr Haushunden.
Inzwischen beginnen Forscher etwas besser zu verstehen, warum nach dem Verhalten selektionierte Füchse sich auch äusserlich zu verändern beginnen. Der Evolutionsbiologe Richard Wrangham und sein Team postulieren, dass dies mit einer bestimmten Art von Stammzellen zu tun hat, den sogenannten Neuralleistenzellen. Sie könnten eine Erklärung dafür sein, warum die sibirischen Füchse mit vielen anderen domestizierten Spezies ähnliche äusserliche Eigenschaften teilen: Hängeohren, gebogene Schwänze, veränderte Fellfarben und kindliche Gesichtszüge.
In einer sehr frühen embryonalen Entwicklungsphase bewegen sich Stammzellen entlang einer stark von Nerven durchzogenen Kante, eben der sogenannten Neuralleiste, um von dort aus später zu den verschiedenen Körperteilen zu wandern und sie aufzubauen – Gehirn, Haut, Kiefer, Zähne, Kehlkopf, Ohren, Knorpel. Nach Wranghams Beobachtungen verändert eine Selektion nach Verhalten möglicherweise die Neuralleistenzellen. Und weil diese Zellen am Aufbau vieler verschiedener Äusserlichkeiten beteiligt sind, kann eine einfache Auswahl nach Verhalten gleichzeitig so viele andere Charakteristika mitverändern.
Das sibirische Fuchsexperiment wird bald sechzig Jahre alt, was es zu einem der am längsten dauernden biologischen Experimente überhaupt macht. Dennoch: Aus evolutionärer Perspektive sind sechs Jahrzehnte ein Wimpernschlag. Was wird geschehen, wenn das Experiment noch einmal sechzig Jahre weiterläuft? Oder hundert Jahre? Gibt es Grenzen, wie zahm Füchse überhaupt werden können? Wie viel stärker können sie Hunden äusserlich noch gleichen? Wer weiss? «Eines wissen wir bereits jetzt», sagt Ludmilla. «Dass wir eine weitere Tierart bekommen haben, mit der sich Menschen verbunden fühlen und mit der sie das Leben teilen können.»
2010 begannen Ludmilla und ihr Team, ein paar ihrer zahmen Füchse an Interessenten in Russland, Westeuropa und Nordamerika zu verkaufen. Die Erlöse fliessen in die Weiterführung des Experiments. Ihre Kundinnen halten die Füchse als Haustiere, wie gewöhnliche Hunde. Viele von ihnen schreiben regelmässig nach Sibirien und berichten Ludmilla von den Erlebnissen und Streichen der Tiere. «Adis ist wunderbar», heisst es in einem der Briefe. «Jedes Mal, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, kommt er angerannt, wedelt mit dem Schwanz und will mich abküssen.»
2017 ist Ludmilla Trut 84 Jahre alt geworden. Sie hat ihr gesamtes Leben auf dem Fuchshof verbracht, all ihre Jahre den Füchsen geschenkt. Noch immer steht sie jeden Morgen auf und geht auf den Hof. Eines Tages werde sie nicht mehr da sein, sagt sie. «Doch ich wünschte, meine Füchse könnten für immer leben.»
Dieser Text ist exklusiv für die Republik entstanden. Die ganze Geschichte des Fuchsexperiments erzählen der Evolutionsbiologe Lee Alan Dugatkin und Ludmilla Trut gemeinsam in «How to Tame a Fox (and Build a Dog)», erschienen 2017.
* In einer früheren Version hatten wir das russische Wort мечта mit «Mechta» übersetzt. Dankenswerterweise hat uns ein Verleger darauf hingewiesen, dass es korrekt «Metschta» heissen muss.