Am Gericht

Die Hollywood-Strategie

Eine Frau wurde vom Verlobten der Nachbarin fast getötet. Der Beschuldigte sieht sich selber als Opfer.

Von Sina Bühler, 21.03.2018

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Ort: Kreisgericht St. Gallen
Zeit: 28. Februar 2018, 9 Uhr
Fall-Nr: ST.2017.8142
Thema: Versuchtes vorsätzliches Tötungsdelikt, Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes

Es sind zwei sehr unterschiedliche Geschichten.

Hier erzählt der Staatsanwalt von einem vorsätzlichen Tötungsversuch, den er mit 9 Jahren Freiheitsstrafe bestraft haben will. Seine Version: Am 11. März 2017 wurde das Opfer, Frau L., in ihrer eigenen Wohnung fast zu Tode gewürgt. Die Liste der übrigen Verletzungen, der Blutungen und Brüche ist 19 Punkte lang.

Dort spricht der Beschuldigte – vor allem von sich selber. Von einem belastenden Nachbarschaftsstreit; mit «Plagereien und Beleidigungen». Der Mann spricht von gefällten Bäumen vor dem Fenster, die ihn traurig machen, von faulen Zucchetti und Hundekot im Milchkasten, von Autoreifen, aus denen die Luft gelassen wurde. Sogar den Kampf, bei dem er das Opfer fast tötete, schildert er vor Gericht so: «Sie hat mir etwas ganz, ganz Böses nachgerufen, da habe ich mich umgedreht und sie gepackt. Sie hat geschlagen und geschrien, ich habe sie gedrückt und verlangte Auskunft. Sie hat mich gekratzt, in die Hand gebissen sogar. Dann hat sie zu Stöhnen angefangen und nicht mehr geschrien.»

Der Beschuldigte M. ist Österreicher, 56 Jahre alt, gross gewachsen, kahl rasiert. Er trägt ein schwarzes Rollkragenshirt, Bequemschuhe und Fussfesseln über den schwarzen, locker sitzenden Hosen. Seine Verlobte B., eine attraktive 50-Jährige, sagt «Oh Schatz! Du hast so abgenommen», als er an ihr vorbeischlurft und sie ihn umarmen darf. Sie trägt wegen ihrer Sehbehinderung eine grosse Sonnenbrille und einen weissen Stock. Ihre Lippen und die Handtasche sind rot, die Frisur frisch gerichtet. Beide sagen, es sei eine grosse Liebe. Eine belastete Liebe. Sie sprechen dabei vom Nachbarschaftskonflikt. Nicht davon, dass L. beinahe starb oder dass M. im Gefängnis sitzt.

Die Verlobte B. sagt als Erste aus. «S hät en möge, dass sii en immer plooget hät», erklärt die St. Gallerin die Beziehung zur Nachbarin, die früher eine gute Freundin des Paars war. Deshalb sei M. am Abend, an dem sich die Tat zugetragen haben soll, zu L. in die Wohnung. Ihr Verlobter habe das Gespräch gesucht, weil es eben Sachen gegeben habe, die nicht so gut waren. «Boshaftigkeiten». Zeugin B. blieb unten in der Wohnung und wartete, bis er zurückkam. Er habe gesagt: «Ich hatte so Streit mit ihr.» Dann habe er zu weinen begonnen, «richtig fest». Sie ist aufgeregt und voller Mitgefühl für ihren Verlobten. Er habe gesagt, die Nachbarin L. sei umgefallen, es gehe ihr nicht gut. Er habe ihr an den Hals gefasst, jetzt komme sicher die Polizei. Nachdem sie, B., ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und ihn angewiesen habe, seine Hose zu wechseln, sei M. wieder rauf, um nach der Nachbarin zu sehen. Er kam mit der Polizei wieder runter. Diese war von einer anderen Nachbarin alarmiert worden. Sie und auch Passantinnen hatten Schreie gehört. Verlobte B. nicht. Sie war bei lauter Musik am Staubsaugen.

Von Gerichtsfilmen inspiriert

Die Polizei fand den Beschuldigten kniend über das Opfer gebeugt. An den Händen trug er Lederhandschuhe. Das sei so ein Tick von ihm, wird M. im Laufe der Verhandlung erklären. Eine Neurose, eine Angewohnheit. Er habe sie auch getragen, als er mit Frau L. am Tisch sass und geredet habe. Im Gerichtssaal bekommen die Handschuhe ihren filmreifen Auftritt. Die Verteidigerin will, dass er sie vor Gericht anprobieren darf, um zu zeigen, dass sie zu gross sind. Der Staatsanwalt willigt ein. M. streift sie über, hebt die Arme auf der Seite, winkt dem Gericht mit einer Drehung im Handgelenk zu. Der Staatsanwalt und alle Richterinnen und Richter reagieren ungerührt. Ob sie zu gross sind, ist schwer zu erkennen. Und überhaupt, was würde das beweisen?

Die amtliche Verteidigerin will einen Freispruch für ihren Mandanten. Ihre Argumentation scheint ganz von amerikanischen Gerichtsfilmen inspiriert. Nach dem O.-J.-Simpson-Moment mit den Handschuhen zweifelt sie den Charakter und die Ehrlichkeit des Opfers an. Erstens gehe es ihr gut: Frau L. leide heute nicht mehr unter den Folgen des Kampfes, sagt die Anwältin und stellt den Antrag, dass ein gemeinsamer Bekannter der Beteiligten Auskunft geben dürfe darüber, wie sie sich in der Öffentlichkeit bewegt. Die Aussage, so die Verteidigerin, demonstriere, wie unehrlich das Opfer sei und dass es ihr eigentlich gut gehe. Der Antrag wird abgelehnt.

Zweitens lüge L.: beispielsweise, als sie abstritt, die Waschmaschine von Frau B. absichtlich gestoppt zu haben. Oder Luft aus den Reifen gelassen zu haben. Einem Richter reicht das nicht. Er fragt nach: «Woher wissen Sie, dass das Frau L. war?» Der Beschuldigte meint: «Sie wissen sicher, dass man oft etwas weiss. Und man kann es nicht beweisen.»

Die Flucht in Details

Dass M. die Nachbarin würgte, daran zweifelt auch die Verteidigung nicht. Aber er sei nicht «mittelgradig schuldfähig», wie das psychiatrische Gutachten festhält – er sei überhaupt nicht schuldfähig. Nicht nur habe er vor der Tat vier Starkbier getrunken, Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Antibiotika geschluckt. An diesem Tag kaufte und schnupfte er auch Kokain. Zum allerersten Mal überhaupt. Das wird M. jedes, aber auch wirklich jedes Mal sagen, wenn das Wort «Kokain» fällt. Obwohl in seiner Vorarlberger Wohnung leere Kokainsäckchen gefunden wurden. Er sagt, sie gehörten ihm nicht.

Überhaupt versteifen sich der Beschuldigte und seine Anwältin auf wenige Details, in der Hoffnung, dass sie ihn entlasten. Dass er das Opfer nur von hinten und nicht von vorne gewürgt habe, beispielsweise, oder dass er keine Zigarette mit Frau L. geraucht habe. An vieles kann er sich nicht erinnern, weil er «nicht Herr seiner Gedanken war». Im ersten Kokainrausch seines Lebens. Anderes weiss er ganz präzis. Nur stimmt es nicht immer mit den Aussagen der Polizei oder des Opfers überein. Frau L. ist nicht anwesend, sie ist von der Verhandlung dispensiert worden, nur ihre Anwältin ist da.

«Der Beschuldigte hat seine Geschichte immer wieder an die Fakten angepasst, damit sie aufging», meint der Staatsanwalt: «Vermeintliche Entlastungsmomente? An die kann er sich sehr gut erinnern. Aber es sieht schlecht aus für ihn. Und das weiss er. Darum kommen dann die Erinnerungslücken.» M. beugt sich seitlich leicht vornüber, während der Staatsanwalt spricht. Seine Augen sind halb geschlossen, immer wieder schüttelt er den Kopf.

Einsicht und Reue berücksichtigt

Diese Entrüstung kommt bei der Gerichtspräsidentin und ihren Richterkolleginnen nicht gut an, wird sie an der Urteilsverkündung sagen. Das Gericht verurteilt M. wegen vorsätzlicher versuchter Tötung zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe, zu einer Busse von 200 Franken wegen Betäubungsmittelkonsums und neun Jahren Landesverweis. Ausserdem muss er dem Opfer verzinste 15’000 Franken Genugtuung bezahlen. «Ihre Aussagen sind widersprüchlich», begründet die Gerichtspräsidentin, «und es ist unglaubwürdig, dass Sie sich an gewisse Details genau erinnern, an andere gar nicht.» M. habe den Vorfall bagatellisiert und sich selber als Opfer wahrgenommen: «Aber das Opfer ist Frau L.!»

Dennoch berücksichtigt das Gericht die Einsicht und Reue des Beschuldigten beim Strafmass, die er – wenn auch erst im Schlusswort – bekräftigt hat. Die Tat sei kaltblütig und eventualvorsätzlich gewesen, die Schuld aber reduziert durch eine lange Konfliktsituation, den Druck der Partnerin, den schlechten psychischen Zustand des Beschuldigten, so die Richterinnen und Richter: «Es hat Sie schlussendlich einfach verjagt, vertätscht.» Bis das Urteil rechtskräftig ist, bleibt M. in Sicherheitshaft, wo er bereits seit einem Jahr ist. In den angenehmeren vorzeitigen Haftvollzug wollte er bisher nicht wechseln.

Zuletzt geht es noch um Verfahrens- und Anwaltskosten: Die amtliche Verteidigerin habe eine viel zu hohe Rechnung eingereicht, 39’000 Franken Honorar wollte sie, 9000 Franken werden ihr zugesprochen. «Ich weise Sie noch einmal darauf hin, dass ‹amtliche Verteidigung› auch ‹nur das Notwendige› heisst», mahnt die Richterin, ihre Klientenbesuche seien nicht in dem Ausmass notwendig gewesen: «Das war wohl eher eine psychologische Unterstützung.»

Illustration Friederike Hantel