Nerds retten die Welt!
Folge 3: Gespräch mit Jens Foell, Neuropsychologe.
Von Sibylle Berg, 20.03.2018
Dr. Jens Foell ist Neuropsychologe mit dem Forschungsschwerpunkt Psychopathologie, Phantomschmerzen an der Florida State University in Tallahassee, USA. Und er ist Betreiber des Twitter-Netzwerkes @realsci_DE, in dem jede Woche andere Wissenschaftler aus ihrem Arbeitsalltag berichten.
Guten Morgen Herr Dr. Foell, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Das gehört momentan quasi zu meiner Morgenroutine. Bis vor kurzem war das noch anders.
Eventuell bevor unter Präsident Obama 2013 mit grosser Begeisterung die Brain Initiative gegründet wurde? Mit der «Brain Activity Map» wollen Wissenschaftler eine detaillierte Karte unseres Denkapparats erstellen. Ich raune dräuend: das Gehirn vermessen, so wie Google die Welt. Man vermisst nichts, was man sich nicht aneignen will. (PS: Funfact: Google ist einer der Mitinitiatoren.)
«Ich bin schon lange davon überzeugt, dass unsere Kinder klüger sind als wir selbst. Einerseits ist die Zukunft also in guten Händen.»
Ich unterstelle hier eigentlich keine böse Absicht, aber wenn man vom schlimmsten Fall ausgehen möchte, dann gibt es durchaus aktuelle und vergangene Beispiele, in denen ähnliche Forschungsinitiativen zu Konflikten über Geld und Patente geführt haben. Ein historisches Beispiel wird wunderbar beschrieben in «Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks» von Rebecca Skloot: In dem Fall hat ein Krankenhaus Zellen einer bestimmten Patientin verkauft, ohne Einwilligung oder Klärung der Rechtslage. Der Fall wird zudem dadurch moralisch schwieriger, weil die weitere Beforschung dieser Zellen zu medizinischen Durchbrüchen geführt hat, wie zum Beispiel die Entwicklung der HPV-Impfung.
Anthony Zador hat wohl gerade einen grossen Schritt in der Erforschung des Konnektoms gemacht. Mit Viren, die er als Spione – entschuldigen Sie meine laienhafte Formulierung – in die Nervenzellen schleust. Er arbeitet daran, das neuronale Netzwerk so zu begreifen, dass es zu einer Bauanleitung für künstliche Intelligenz wird. Eine wunderbare Vorstellung. Maschinen in unendlicher Zahl, die genauso einfältig sind wie Menschen …
Interessantes spielt sich auch gerade in der Genforschung ab, mit einem epischen Rechtsstreit über die CRISPR-Methode. Und es ist auch ein Thema bei genetisch modifizierter Nahrung. Wer weiss, ob da nicht die Vermessung des Gehirns zu ähnlichen Streitthemen führen wird.
Ein kurzes Aufbegehren einer Minderheit eventuell. Wie bei der biometrischen Überwachung. An tristen Tagen habe ich das Gefühl, dass dieses Entgleiten der Alten Welt ein Prozess ist, den es zu allen Zeiten gab. Mit ihren Warnern, der Angst vor dem Unbekannten. Vermutlich kann man das momentane Unwohlsein in einem Satz zusammenfassen: Wir werden uns an alles gewöhnen. Apropos Verdichtung. Können Sie Ihren Beruf in drei Sätzen erklären?
Ich versuche herauszufinden, wie das menschliche Erleben und Verhalten mit Vorgängen im Gehirn in Verbindung steht. Dafür verwende ich vornehmlich die Kernspintomografie. Inhaltlich geht es dabei manchmal um chronischen Schmerz und Körperwahrnehmung, manchmal um Angst, Aggression und Empathie.
Wenn Sie also klarer verorten können, in welchen Regionen im Hirn welche Aktivitäten stattfinden – wo zum Beispiel sich psychotische Prozesse abspielen –, geht es dann um das Weiterbegreifen der Hirnstruktur oder um die Möglichkeit medizinischer Interventionen?
Auf lange Sicht soll uns das Verständnis dieser Mechanismen helfen, neue Diagnose- und Behandlungsmethoden zu finden. Die Medizin hat die längste Zeit im Trial-and-Error-Verfahren gearbeitet; wenn wir davon für das Gehirn wegkommen wollen, müssen wir erst mal wissen, woher Angst, Schmerz und Aggression eigentlich kommen und welche Regionen dafür auf welche Art zusammenarbeiten müssen. Im weiteren Sinne geht es mir auch um die Grundlagenforschung, selbst bei Themen, bei denen es keine Aussicht auf neue medizinische Interventionen gibt. Es ist meine Überzeugung, dass darin eine grosse Stärke der Forschung liegt. Über den Treibhauseffekt zum Beispiel wissen wir nur Bescheid, weil jemand mehr über die Atmosphäre der Venus herausfinden wollte.
Es ist grossartig, dass die Menschheit so viel weiss. Um das Wissen im Anschluss zu ignorieren. Ehe ich zu pessimistisch werde: Gibt es denn für Sie eine Art normalen Tagesablauf?
Man könnte denken, mein normaler Tagesablauf finde vor allem im Scannerraum statt – tatsächlich ist das aber nur ein kleiner Teil. Die meiste Zeit verbringe ich im Büro mit Datenanalyse, Schreiben von Forschungsberichten, Planen der nächsten Studie und so weiter.
Das klingt nach einer wunderbaren Abwesenheit anderer Menschen. Galt Ihr Fachinteresse ursprünglich mehr der Funktionsweise des Gehirns oder eher dem Organ als Ursache alles Elenden unserer Spezies?
Eigentlich wollte ich eher in die Kunst oder zum Film. Dann fiel mir auf, dass das, was mich eigentlich am meisten daran interessierte, immer mit Psychologie zu tun hatte: die unterschiedliche Wahrnehmung derselben Filmszene durch verschiedene Zuschauer, das Auslösen von Emotionen durch bestimmte Stilmittel und so weiter. Während des Studiums wurde mir dann immer mehr klar, dass die Antworten auf meine Fragen vor allem in der Hirnforschung liegen.
Ich träume oft, dass ich, meiner Neigung folgend, Gehirnoperationen durchführe. Haben Sie jemals Lust dazu verspürt?
Das überlasse ich anderen, aber es war durchaus eine wertvolle Erfahrung, mal ein menschliches Gehirn in den Händen zu halten.
Lassen Sie uns vollkommen unzusammenhängend über Lobotomie reden. Halten Sie es für möglich, dass Smartphones eine ausgelagerte Form der Lobotomie sind?
Nein, da geht es aus meiner Sicht um etwas ganz anderes. Die Smartphones, oder genauer gesagt die Möglichkeit, ständig auf alles Wissen der Menschheit zugreifen zu können, ist eine nie da gewesene Herausforderung für unser Gehirn und unsere Gesellschaft. Wenn ich will, kann ich jetzt in diesem Moment anfangen, das Lesen von akkadischer Keilschrift zu lernen. Oder nachschauen, ob heute ein Feiertag in Jakarta ist. Bis vor ein paar Jahren waren diese Fähigkeiten noch nicht mal den Königen vergönnt, heute kann das jedes Kind. Es ist aus meiner Sicht kein Wunder, dass wir damit vollkommen überfordert sind und massive Probleme damit haben, unser Leben um die Technologie herum zu planen. Bei unseren Kindern, die damit aufwachsen, wird das aller Wahrscheinlichkeit nach vollkommen anders sein.
Ihr Optimismus ist bewundernswert. Ich habe eher das Gefühl, dass 99 Prozent des verfügbaren Wissens im Netz ungenutzt bleiben, während die Mehrzahl der Menschen sich mit der Bewertung ihrer Gesichter oder Manipulations-Trash wie «Breitbart» aufhält. Apropos: In Amerika forschen Sie zum Thema Psychopathologie. In Deutschland widmeten Sie sich dem Phantomschmerz. Fast als wollten Sie herausfinden, woran die Länder leiden.
Ich denke nicht, dass man den unterschiedlichen Ländern verschiedene Psychopathologien zuordnen kann. Wenn überhaupt, dann leiden sowohl die USA wie auch Deutschland an einer posttraumatischen Belastungsstörung beziehungsweise an einer Anpassungsstörung.
Die Anpassung an ein neues digitalisiertes und neoliberales Zeitalter. Oder verstehen Sie etwas anderes darunter?
Ich dachte eigentlich eher an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland und die Sklaverei in den USA. Beides sind Dinge, bei denen viele aus meiner Sicht im Alltag unterschätzen, wie grausam sie waren und wie kurz sie erst her sind. Aber natürlich kann man das nicht unabhängig sehen von dem neuen Zeitalter, das Sie erwähnen. Es führt zu der Frage, wie sehr man die eigene Vergangenheit verarbeitet haben muss, um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein.
Gute Überleitung zur Weltrettung. Was haben Sie in Ihrer Doktorarbeit «Verhaltensbezogene und neuronale Auswirkungen von gespiegelten Bewegungen auf chronische Phantomschmerzpatienten und gesunde Kontrollprobanden» herausgefunden?
Es ging darum, wie sich widersprechende Sinneswahrnehmungen über die eigenen Gliedmassen im Gehirn verarbeitet werden. Der Hauptteil war eine Studie mit Patienten mit chronischem Phantomschmerz nach einer Armamputation: Diese haben für vier Wochen die sogenannte Spiegeltherapie angewendet, bei der man dem Gehirn quasi vorgaukelt, die verlorene Gliedmasse wäre wieder vorhanden. Es hat sich schon vor etwa zehn Jahren gezeigt, dass diese Behandlung bei manchen Patienten gut anschlägt. Da sie zudem nahezu kostenlos und frei von Nebenwirkungen ist, ist es natürlich besonders interessant herauszufinden, wie und warum sie wirkt. Daher haben wir Patienten vor und nach der Therapie in den Scanner gelegt, um zu zeigen, dass sich das Gehirn dadurch verändert.
Wie?
Zum einen konnten wir zeigen, dass sich die kortikale Organisation im Gehirn ändert: Der Bereich im Gehirn, der für die Verarbeitung von Signalen von der Hand zuständig ist, verändert sich nach einer Amputation. Bei den Patienten, für die die Spiegeltherapie Wirkung gezeigt hat, verändert sich dieser Bereich durch die Therapie wieder zurück. Nach vier Wochen ähnelt er wieder dem Zustand von vor der Amputation. Aber wir haben auch festgestellt, dass die Therapie nur bei etwa vierzig Prozent der Patienten wirkt. Ähnliche Zahlen haben auch andere Forscher dazu gefunden. Unsere Studie gibt Hinweise darauf, warum das sein könnte, aber dazu muss noch mehr geforscht werden. Die Hoffnung ist, dass man die Spiegeltherapie auf eine Art modifizieren kann, dass sie einer grösseren Zahl von Patienten helfen kann.
Und schon glaube ich wieder an die Menschheit. Jetzt versuchen Sie zu erforschen, ob sich Aggression und mangelnde Empathie in Gehirnarealen nachweisen lässt. Wie ist da der aktuelle Stand?
Mein derzeitiger Chef und Mentor, Christopher Patrick, war derjenige, der herausgefunden hat, dass sich Psychopathie vor allem aus drei unterschiedlichen Persönlichkeitsvariablen zusammensetzt: Furchtlosigkeit, Impulsivität und Empathielosigkeit. Besitzt man alle drei in hohem Mass, ist eine Psychopathiediagnose wahrscheinlich. Das heisst für mich, dass ich mehrere Angriffspunkte habe, um das Phänomen zu untersuchen. Ich schaue zum Beispiel nach Hirnaktivität bei Leuten mit einem hohen Grad an Impulsivität. Oder nach der Hirnstruktur bei anderen mit hohen Werten an Angst. Oder ich versuche, verschiedene Arten von Empathie zu unterscheiden oder gemeinsam zu erklären. Daraus setzt sich dann – hoffentlich – ein Bild zusammen, das die Psychopathie in ihren verschiedenen Ausprägungen erklären kann. Eine Sache, die ich herausgefunden habe, ist, dass es so scheint, als würde sich das Gehirn von sehr impulsiven Menschen schlechter auf bevorstehende emotionale Ereignisse vorbereiten.
Das wäre einleuchtend. Und scheint mir bei vielen Männern sehr verbreitet zu sein. Erst handeln, dann erstaunt die Wirkung betrachten.
Durch das Verhalten kommt es später zu einer Art emotionaler Überreaktion in dieser Gruppe, die der Forschung schon länger bekannt ist. Jetzt versuche ich, Wege zu finden, diese Impulsivität besser zu messen und die neuralen Mechanismen besser zu verstehen.
Ich bin eine grosse Freundin von Experimenten, Versuchsanordnungen, die ich zu Hause mit Streichholzschachteln nachstelle. Dazu läuft Wagner. Haben Sie eines für mich?
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sitzen am Computer und müssen eine schnelle Abfolge einer simplen Aufgabe bewältigen – sagen wir, eine linke oder rechte Taste drücken, je nachdem, ob links oder rechts auf dem Bildschirm ein Bild auftaucht. Das machen Sie so schnell und oft, wie Sie können.
Ja, hab ich …
Allerdings taucht zwischendurch ein roter Punkt auf dem Schirm auf, der Ihnen sagt, Sie sollen die nächste Runde aussetzen und nichts tun. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, fällt einem das manchmal schwer, wenn man erst mal in Fahrt ist. Impulsive Versuchsteilnehmer haben damit grössere Schwierigkeiten als nichtimpulsive; man sieht das etwa daran, dass ein schlechtes Abschneiden in diesem Test in der Jugend mit höherem Substanzmissbrauch im Erwachsenenalter zusammenhängt.
Substanzmissbrauch, man könnte auch sagen: Substanzen, die einen die Demütigung des Lebens vergessen lassen, in ausreichendem Masse einnehmen. Haben Sie noch ein Experiment für mich?
Bei einem anderen interessanten Test wird den Versuchspersonen Geld angeboten: entweder ein kleiner Betrag heute oder ein grösserer zu einem späteren Zeitpunkt. Wenn es um 5 Euro heute gegen 5.50 Euro in einem halben Jahr geht, dann werden wahrscheinlich die meisten den kleineren Betrag wählen. Aber bei anderen Kombinationen aus Beträgen und Zeiträumen scheiden sich die Geister, und da kann der Test zwischen mehr und weniger impulsiven Probanden differenzieren.
Hervorragend. Wenn es so etwas wie ein Weltgehirn gäbe, wie würden Sie den Zustand beschreiben, in dem es sich gerade befindet?
Ein wenig ist das ja schon so: Wir sind Milliarden von Menschen, jeder mit seinen eigenen Zielen, aber auch mit virtuellen oder physischen Verbindungen zu Tausenden anderen. Das ist nicht so weit entfernt von dem Zustand, in dem sich die Neuronen unseres Gehirns befinden. Auch da muss jede Nervenzelle schauen, wo sie bleibt, und mit den vernetzten Nachbarn kommunizieren. Und auch die Neuronen verändern dabei ihr Verhalten, bauen sich um, erstellen oder zerstören ihre Verbindungen zu anderen. Und auch im Gehirn widersprechen sich die unterschiedlichen Teile manchmal klar, und irgendwie muss das Gehirn dann schauen, dass trotzdem etwas Sinnvolles dabei rauskommt.
Wir – ich schliesse mich mal mit ein, denn schliesslich mache ich Versuchsanordnungen – wissen immer mehr darüber, in welchen Arealen im Hirn welche Zuständigkeiten verortet sind. Wissen WIR auch, wie man Einfluss darauf nehmen kann?
Das Einflussnehmen auf Gehirnaktivität steht auf einem etwas anderen Blatt – ja, man kann mit elektromagnetischen Instrumenten direkten Einfluss auf die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn nehmen, entweder von ausserhalb des Kopfes oder über implantierte Elektroden (jeweils mit verschiedenen Vor- und Nachteilen). Aber wir sind weit davon entfernt, auf diese Weise bestimmte Gedanken zu erregen oder zu blockieren; vielmehr wird mit diesen Methoden versucht, Epilepsien oder Depressionen zu lindern (oder auch einfach mehr über das Gehirn selbst zu erfahren).
Die Beeinflussung des Gehirns wird ja bereits erprobt, Nanochips und Elektroimpulse, die natürlich auch zum Massen-Nudging genutzt werden können. Aber vielleicht ist das nur eine Art zukünftiger Fernsteuerung mit anderen Mitteln. Haben Sie sich selber schon auf, sagen wir: Unregelmässigkeiten Ihrer Gehirnaktivität untersucht?
Ich setze es mir immer zum Ziel, alle Versuche einmal an mir selbst anzuwenden, bevor Probanden eingeladen werden. Auf diese Weise kann ich ehrlich sagen, ob der Versuch anstrengend oder unangenehm ist. Gerade wenn es um Schmerzstimulationen geht, bin ich das meinen Versuchsteilnehmern schuldig. So habe ich auch bereits festgestellt, für welche Arten von Schmerz ich ungewöhnlich empfindlich oder unempfindlich bin. Aber abgesehen davon habe ich mich noch nicht wirklich selbst durchleuchtet.
Sie haben über Nekrophilie geforscht. Ein relativ schlecht erforschtes Hobby. Was haben Sie herausgefunden?
Ich habe mir für ein Buchkapitel das Ziel gesetzt zu erklären, wie die Nekrophilie im Gehirn funktioniert. Das ist eine gewisse Herausforderung, da es dazu noch keine richtigen Studien gibt. Wahrscheinlich wird es die auch nie geben, da man dafür Studienteilnehmer brauchen würde, die sich zu ihren nekrophilen Neigungen bekennen, und dafür ist das gesellschaftliche Stigma zu gross. Stattdessen habe ich mich darauf konzentriert, wie sexuelle Erregung oder auch die Verarbeitung von Ekel im Gehirn funktionieren, und eine Theorie darüber aufgestellt, wie das zusammen zu Nekrophilie führen könnte. Aber meistens, wenn man das Thema aufbringt, wollen sich die Leute nur über moralische und rechtliche Aspekte der Nekrophilie unterhalten, und dafür bin ich nicht zuständig.
Wie lässt es sich erklären, dass wir relativ viel über die Ursachen pädophiler Neigungen wissen und über Nekrophilie so gut wie nichts? Ist es, wenn wir also von Moral reden, gesellschaftlich akzeptierter, sich in Kinder zu verlieben (davon ist ja in vielen Fällen, die man kennt, die Rede) als in tote Menschen?
Man könnte natürlich auch anders herum argumentieren: Pädophilie ist so viel schockierender, dass ständig darüber diskutiert werden muss, während Nekrophilie unter den Tisch fällt. Tatsächlich hat der Unterschied aus meiner Sicht aber mehr mit den Konsequenzen für das Opfer zu tun und mit dem Tatverhalten an sich. Wenn es okay ist, würde ich dazu weiter ausholen.
Gerne.
Die gängige Vermutung ist, dass es in beiden Fällen eine gewisse Zahl Menschen in der Bevölkerung gibt, die Fantasien hegen und diese entweder gar nicht ausleben oder in harmloser Form, zum Beispiel als Rollenspiel mit Partner nach Konsens. Das hiesse, dass die vollzogene Pädophilie oder Nekrophilie sozusagen einen Extremfall darstellt. Die Frage ist dann, wo ein Opfer gefunden werden kann und wie die Tat vor den Behörden verheimlicht werden kann. Ich gehe davon aus, dass es bei Nekrophilie für den Durchschnittsmenschen deutlich schwieriger ist, ein Opfer zu finden, und dass dadurch die vollzogene Nekrophilie seltener vorkommt. Gleichzeitig gibt es bei ihr kein Opfer, das die Tat bezeugen kann, sodass sie hinterher schwieriger nachgewiesen werden kann. In Kombination führt das dazu, dass es weit mehr bekannte Fälle von Pädophilie denn für Nekrophilie gibt. Das spiegelt sich in den entsprechenden Studien wider: Die meiste Forschung von Pädophilie findet im Strafvollzug statt, wohingegen es zur Nekrophilie fast ausschliesslich Einzelfallstudien gibt, die meistens aus einem Extremzusammenhang hervorgehen, zum Beispiel im Kontext von Serienmördern. In beiden Fällen wäre es elementar wichtig, und zwar für die Forschung wie auch für die Gesellschaft an sich, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich Menschen mit entsprechenden Fantasien in der Lage fühlen, diese zu besprechen und zu bearbeiten. Wenn jemand den Drang spürt, seine pädophilen oder nekrophilen Fantasien auszuleben, dann sollte er die Möglichkeit haben, sich anonym und möglichst kostenfrei in professionelle Behandlung zu begeben. Aber es hat sich gezeigt, dass Outreach-Programme in diese Richtung von der Gesellschaft abgelehnt werden – dafür ist einfach das Stigma zu gross.
Die Gesellschaft hat ja, wie es im Moment scheint, kollektiv vor allem: Angst. Beunruhigt Sie der Zustand unserer Welt?
Ja, aber ich habe auch Hoffnung. Ich bin schon lange davon überzeugt, dass unsere Kinder klüger sind als wir selbst. Das sehe ich inzwischen auch bei meiner eigenen Tochter. Einerseits ist die Zukunft also in guten Händen. Andererseits wird es auch nie da gewesene Herausforderungen geben. Durch Klimawandel und Ressourcenverbrauch ist es unwahrscheinlich, dass unser Lebensstandard aufrechterhalten werden kann. Ein Gedanke, der mir dabei Angst macht, ist der folgende: In den letzten Jahrhunderten haben wir alle einfach zu erreichenden Ressourcen aufgebraucht. Sollte bei unserer Zivilisation das Licht ausgehen, und wir müssten wieder in der Bronze- oder Steinzeit anfangen, dann wäre eine zweite industrielle Revolution unmöglich. Wir als Menschheit haben also nur noch diese eine Chance.
Haben Sie Ideen, wie die Menschheit zu retten wäre?
Dazu habe ich eine ganz klare Meinung: Wir müssen früher damit anfangen, Methoden zum Wissensgewinn zu lehren. Es gibt massive Missverständnisse darüber, wie Forschung funktioniert und woher neues Wissen eigentlich kommt – und das führt zu einem Misstrauen gegenüber der Wissenschaft, zur Verbreitung von Quacksalberei und zu einer verringerten Mündigkeit der Bevölkerung. Es gibt sehr talentierte Wissenschaftskommunikatoren, die verstehen, wie man schon Kindern beibringen kann, wie Forschung funktioniert – nur leider hört denen niemand zu.
Dazu tragen Sie ja auch mit Ihrem Account bei.
Ja, das ist Teil meiner Motivation für den @realsci_DE Account: Ich will den Leuten zeigen, wie Forschung funktioniert, wo die Ergebnisse herkommen und wie die Forscher aussehen, die sie erzeugen. Ein Stück weit geht es mir dabei darum, meine eigene Begeisterung für die Forschung auf andere zu übertragen. So kann sich jeder selbst anschauen, woher die Ergebnisse stammen, die am nächsten Tag in den Nachrichten kommen und zehn Jahre später an der Schule gelehrt werden.
Herr Doktor Foell, ich danke Ihnen für das Gespräch und Ihren Optimismus.
Illustration Alex Solman