Mit Youtube und gelben Quietschenten gegen Putin
Alexei Nawalny ist der wichtigste Oppositionspolitiker Russlands. Obwohl er zur Präsidentschaftswahl vom 18. März nicht antreten darf, macht er Wahlkampf – und mobilisiert Tausende für den Wahlboykott.
Von Simone Brunner, 12.03.2018
Humor ist in Moskau die «Rache von unten». Als unlängst schwere Schneefälle über die russische Hauptstadt zogen und die Einsatzkräfte ihre liebe Not damit hatten, alle Strassen und Fusswege von den Schneemassen zu räumen, startete eine Moskauerin ein Experiment.
In grellgrüner Farbe sprühte sie in ihrem Hinterhof ein Wort in den Schnee. Ein Wort, der die Schneeschaufeln so zuverlässig wie kein Wintereinbruch der Welt auf den Plan rufen sollte: der Familienname des Oppositionellen Alexei Nawalny. Wenige Stunden später war der Schnee geräumt. Schnell verbreitete sich die Kunde von der wundersamen Räumung im Internet, und viele Russen im ganzen Land machten es der Moskauerin nach.
Der Wahlkampf, der keiner ist
Alexei Nawalny ist in Russland, zumindest im öffentlichen Raum, ein Tabu. Im Staatsfernsehen wird er kaum genannt, Präsident Wladimir Putin selbst nimmt seinen Namen erst gar nicht in den Mund.
Im offiziellen Parteienregister des Justizministeriums sucht man den Namen der Partei des Oppositionellen vergebens: 2015 wurde die Fortschrittspartei aus dem Register gestrichen. Auch am kommenden Sonntag, dem 18. März, wenn die Russen aufgerufen sind, ihren Präsidenten Wladimir Putin erneut im Amt zu bestätigen, wird der Name auf den Wahlzetteln fehlen.
18 Jahre ist es bereits her, dass Wladimir Putin zum ersten Mal zum russischen Präsidenten gewählt wurde. Während sich der Westen über Interventionen in digitalen Wahlkämpfen ärgert, wirkt das System Putin innenpolitisch heute so stabil wie noch nie. Es ist durch alle Institutionen durchdekliniert, von den Amtsstuben über die Gerichte bis zu den Medien. Das russische Parlament ist nur noch da, um die Vorgaben aus dem Kreml durchzuwinken.
Politologen streiten sich darüber, wie man das russische System nun korrekt benennen soll, die Bandbreite reicht von «gelenkter Demokratie» über «Putinismus» bis zum «competitive authoritarianism». Der ehemalige Putin-Berater Wjatscheslaw Wolodin verstieg sich sogar zur Aussage, dass die Begriffe Putin und Russland synonym zu setzen seien. «Es gibt kein Russland, wenn es keinen Putin gibt.»
So ist auch der russische Präsidentschaftswahlkampf ein Wahlkampf, der keiner ist. Der Sieger steht schon fest, die Kandidaten sind vom Kreml handverlesen, und der Wahlkampf folgt einem ungeschriebenen Drehbuch, kleine Skandale rund um die oppositionelle Kandidatin und TV-Moderatorin Xenia Sobtschak inklusive.
Ein Mann des Rechts
Über allem schwebt ein staatsmännischer Putin, der sich erst gar nicht in die Niederungen eines Wahlkampfs herablässt und sich in Fussballstadien lieber als Führer eines «starken Russlands» inszenieren lässt.
Dabei wäre Nawalny gar keine grosse Gefahr für Putin. Im Gegenteil: Es könnte der Wiederwahl Putins für eine vierte Amtszeit mehr Legitimität verleihen, wenn der wichtigste Oppositionelle mit dem Präsidenten in den Ring stiege und letztlich auch klar unterläge, so die Logik.
Während laut Umfragen noch immer die meisten Russen hinter Putin stehen (es sind 70 Prozent) – was auch daran liegt, dass der Macht- und Medienapparat seit Jahren keine politische Konkurrenz zulässt –, kommt Nawalny in Umfragen nur auf 2 Prozent.
Der 41-jährige Nawalny ist ein Mann des Rechts, in vielerlei Hinsicht. 2008 begann der Anwalt, Anteile der grössten russischen Unternehmen zu kaufen. Die Absicht dahinter: Zugang zu den Informationen zu erhalten, die jedem Aktionär rechtlich zustehen, und diese zu publizieren.
Aus seinem Ein-Mann-Blog formte er eine professionelle Organisation, den «Fonds zur Bekämpfung von Korruption», der heute vierzig Mitarbeiter beschäftigt. Politisch bekannt wurde Nawalny durch seinen Ausspruch «Gauner und Diebe», eines der Schlagworte der Anti-Putin-Proteste 2011/12.
Zugleich erwarb er sich in seiner politischen Frühzeit durch seine fremdenfeindlichen Aussagen (er bezeichnete Migranten als «Kakerlaken») einen zweifelhaften Ruf als Nationalisten, den er bis heute nicht losgeworden ist – wenngleich er zuletzt nicht mehr mit rassistischen Parolen aufgefallen ist.
Der Kreml will sich die Finger nicht verbrennen
Nawalny versucht sich mit dem Rückgriff auf russische Institutionen Gehör zu verschaffen. Denn immerhin ist Russland keine Diktatur, sondern eine Demokratie. Zumindest auf dem Papier. Mit Gewaltenteilung, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Gerichten und Wahlen, wie in der Verfassung festgeschrieben. Institutionen, auf die sich Nawalny immer wieder bezieht.
«Sie verhalten sich so, als würde das Gesetz etwas zählen und die Gerichte wirklich über etwas richten», schrieb zuletzt die russische Journalistin Masha Gessen über die Nawalny-Unterstützer im «New Yorker».
«Ich werde um den Sieg kämpfen», sagte Nawalny vor rund einem Jahr in einer Videobotschaft, als er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen ankündigte. Denn wenn es in Russland wirklich Politik, Demokratie und freie Wahlen gäbe, dann wäre das ja auch möglich. Als könnte Putin wirklich morgen abgewählt werden, wenn es die Russen nur wollten. So lautet die Botschaft.
Und eben auch die Theorie. Der Kreml zog es vor, sich nicht die Finger an dem charismatischen Anwalt zu verbrennen – und ihm keine Plattform zu geben. Denn er erzielte einen Achtungserfolg: Immerhin hat Nawalny bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 aus dem Stand 27 Prozent der Stimmen geholt.
Offiziell wurde Nawalnys Kandidatur zum Jahreswechsel einstimmig von der Zentralen Wahlkommission abgelehnt, weil er zuvor in einem umstrittenen Verfahren wegen Unterschlagung rechtskräftig verurteilt, aber auf Bewährung freigelassen worden war. Das Verfahren gilt als fabriziert, sein Bruder Oleg sitzt wegen dieser Sache im Gefängnis.
Das Netz als Waffe
Aber Nawalny führt seinen ungleichen Kampf weiter. Es ist das Internet, das dabei sein wichtigster Verbündeter ist. Wenngleich die Behörden immer wieder versuchen, unliebsame Seiten zu blockieren oder zu löschen, ist das russische Internet vergleichsweise noch immer sehr offen. Die sozialen Medien wurden damit zu Nawalnys wichtigster Waffe.
Jede Repression, jede Festnahme und jedes Verfahren gegen sich inszeniert Nawalny zu einem medialen Happening. «Da kommst du vom Zahnarzt, und schwups, bist du festgenommen!», kommentierte er zuletzt, mit einer geschwollenen Backe, seine Verhaftung via Instagram.
Und seine Anhänger machen es ihm nach: Als Nawalny im Vorjahr auf offener Strasse mit grünen Chemikalien angegriffen wurde und fast seine Sehkraft auf dem rechten Auge verlor, zeigten sich Anhänger in den sozialen Medien ebenfalls mit grünen Gesichtern. Bei Protesten filmen sie ihre eigene Verhaftung oder stellen Selfies aus den vergitterten Gefangenentransportern, den berüchtigten «awtosaki», ins Netz.
Auf Youtube betreibt Nawalny zwei Kanäle, die zusammen auf mehr als zwei Millionen Abonnenten kommen. Hier ist dem Nawalny-Team vor einem Jahr ein Coup gelungen. «On vam ne Dimon», «Nennen Sie ihn nicht Dimon», ein 50-minütiges Enthüllungsvideo über die sagenhaften Reichtümer des Premiers Dmitri Medwedew, ein protziges Entenhaus in seiner Datscha inklusive. Mehr als 26 Millionen Mal wurde das Video bisher geklickt, die Ente wurde zum Symbol für Korruption.
Eigentlich gehört es zum guten Ton in der russischen Elite, Enthüllungen wie diese einfach zu ignorieren oder als das Werk verblendeter Regimegegner abzutun. Doch das Video hat so hohe Wellen geschlagen, dass sich selbst der mächtige Oligarch Alischer Usmanow, der im Video nicht wirklich gut wegkommt, dazu bemüssigt fühlte, Stellung zu nehmen und eine Verleumdungsklage gegen Nawalny einzureichen.
Auch Provinzstädte sind erwacht
Auch Xenia Pachomowa hat das Video gesehen. In der westsibirischen Stadt Kemerowo, 3600 Kilometer östlich von Moskau. Politik hatte die 24-Jährige mit dem langen, braunen Haar eigentlich nie interessiert, aber dieses Video habe ihr die Augen geöffnet. Dass jemand so mutig sein konnte, diese Missstände anzuprangern, habe ihr imponiert, sagt sie.
Zwei Wochen nachdem das Video viral ging, wurde auch in der 500’000-Einwohner-Stadt Kemerowo ein Wahlkampfbüro von Nawalny eröffnet. Pachomowa klopfte dort an, wurde Volontärin, später Koordinatorin.
Das blieb nicht ohne Folgen. Nachdem sie beim wichtigsten Oppositionellen des Landes angeheuert hatte, verlor ihre Mutter ihren Posten als Direktorin an der Kunstschule. Und als Pachomowa im Januar einen nicht genehmigten Protest in Kemerowo vorbereitete, wurde sie selbst kurzerhand für zwei Tage inhaftiert. «Alles halb so schlimm», winkt sie heute lachend ab, als würde sie sich an eine schwere Prüfung erinnern, die sich als harmlos entpuppte. «Du kommst wieder raus, und dann arbeitest du einfach weiter. Das hat mich nur noch weiter darin bestärkt, dass ich etwas ändern muss.»
Wie in Kemerowo, so sind im letzten Jahr in ganz Russland Wahlkampfstäbe von Nawalny wie Pilze aus dem Boden geschossen. Freilich noch unter dem Motto, Nawalnys Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zu unterstützen.
Zugleich hat Nawalny immer wieder im ganzen Land zu Anti-Korruptions-Protesten aufgerufen. Und damit so viele Menschen auf die Strasse gebracht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Selbst Provinzstädte fernab der liberalen Metropolen Moskau und St. Petersburg hat Nawalny aus dem politischen Dornröschenschlaf gerissen.
Der Aufruf zum Boykott der Wahlen
Es ist ein Sonntagabend, draussen fallen dicke Schneeflocken vom Himmel. Sergei Boiko sitzt in einem Gassenlokal südöstlich vom Moskauer Stadtzentrum, eine 20-minütige Autofahrt vom Roten Platz entfernt. «Wir sind die einzige russische Partei, die ein Jahr lang einen wirklichen Wahlkampf geführt hat», sagt er. Die Wand hinter ihm ist blau gestrichen, darauf prangt der Schriftzug «Nawalny 2018».
Gerade ist Boiko selbst aus einer 15-tägigen Haft entlassen worden, vor wenigen Tagen sind der nationale Wahlkampfleiter und der Direktor des «Fonds zur Bekämpfung von Korruption» inhaftiert worden. Mit den ständigen Inhaftierungen haben sie gelernt umzugehen. Alle drei Monate musste der Wahlkampfstab bisher umziehen, weil der Geheimdienst Druck auf die Eigentümer der gemieteten Liegenschaften ausübt.
In der Ecke läuft derweil ein schweigsamer Verkauf mit Merchandising-Artikeln: Nawalny-Pullis und Handyhüllen, Anti-Putin-Tassen und die obligate Quietschente.
50’000 Wahlbeobachter
Gerade werden die Sessel zusammengeklappt, Tische verschoben und Kartons zu Wahlurnen verklebt. Jeden Tag finden hier Kurse für Wahlbeobachter statt. Denn seitdem klar ist, dass Nawalny nicht gegen Putin antreten wird, rufen seine Anhänger zum Boykott der Wahlen auf. Hashtag «sabastowka», «Streik», so steht es auf einem roten Schild am Fensterbrett.
Die Anhänger sollen aber als Wahlbeobachter an den Wahlen teilnehmen, um zu verhindern, dass die Ergebnisse im grossen Stil gefälscht werden. Mehr als 700’000 Unterstützer hat Nawalny im ganzen Land, sagt Boiko, und knapp 50’000 von ihnen haben sich schon als Wahlbeobachter registriert.
Die Logik: Wenn Nawalny schon nicht teilnehmen kann, so soll zumindest die Wahlbeteiligung durch den Boykott nach unten gedrückt werden, um die Legitimität der Wahlen und der vierten Amtszeit Putins zu untergraben. «Die Wahlen sind eine Farce», sagt der Mitarbeiter Nikolai Ljaskin. «Wir werden beweisen, dass nicht 70 Prozent, sondern in Wirklichkeit nur 30 Prozent aller Russen hinter Putin stehen.» Der Kreml hat derweil als inoffizielles Ziel eine Wahlbeteiligung von 70 Prozent und ein Pro-Putin-Votum von 70 Prozent ausgegeben.
Demokratie ist eine «komplizierte Prozedur»
Doch selbst wenn an diesem Wochenende die Kurse im Nawalny-Stab wieder voll mit jungen Russen sein werden, ist die Luft gerade irgendwie draussen. Immer wieder werden in den Kursen kritische Fragen gestellt.
Was bringt der Boykott? Was können wir verändern? Wie geht es weiter?
Ganz anders noch im Frühling 2017, als die Proteste gerade losbrachen, eine Euphorie durch die Reihen der «nawalniki» ging und sich die ganze Welt fragte, woher bloss all diese jungen Russen mit ihren knallgelben Enten herkommen, die Turnschuhe auf die Laternen gehängt haben (eine Anspielung auf die Schuhe, die der Premier Medwedew laut dem Enthüllungsvideo gerne trägt).
Als viele Demonstranten hofften, dass sie Russland über Nacht verändern könnten und Nawalny tatsächlich irgendwann, vielleicht aber schon im Jahr darauf, Präsident werden könnte. Oder zumindest gegen Putin antreten würde.
Doch ob es Nawalny über das Wahljahr hinaus gelingen wird, viele Menschen zu mobilisieren, ist unklar. «Demokratie ist eine komplizierte Prozedur», sagt Boiko. «Man braucht einen langen Atem.» Nach den Präsidentschaftswahlen will man sich auf lokale Wahlen vorbereiten, sagt er.
Keine Furcht vor der Haft
Die letzten Monate haben zumindest gezeigt, dass es in Russland tatsächlich Tausende Menschen gibt, die bereit sind, hohe Risiken für diese politische Bewegung einzugehen. Es ist Nawalnys Verdienst mit all seinen modernen Methoden wie der Inszenierung im Internet, jungen Aktivisten die Angst vor Repression zu nehmen. Was sie zugleich immun gegenüber den üblichen Einschüchterungen des Kremls macht – und somit auch unberechenbar und gefährlich.
Sie sind es, die vielen Anhänger, die Pachomowas und Boikos, die sich nicht mehr vor der Haft fürchten, die Nawalny damit auch einen gewissen Freiraum verschafft haben. Anders als den Moskauer Neuschnee kann Putins Russland – als ein zumindest auf dem Papier noch demokratisch legitimiertes System – es sich nicht leisten, diesen Freiraum einfach wegzufegen.
Das ist die Stelle, an der Nawalny das System Putin derzeit noch kitzeln und provozieren kann: an diesem offensichtlichen Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis.
Simone Brunner lebt als freie Journalistin in Wien. Osteuropa und namentlich Russland zählen zu ihren Spezialgebieten.