E-Voting – der Schweizer Sonderfall

E-Voting soll in der Schweiz bis 2019 als zusätzlicher Abstimmungskanal angeboten werden. Nun kämpfen ausgerechnet Internetexperten an vorderster Front dagegen. Weshalb? Die sechs wichtigsten Fragen und Antworten.

Von Daria Wild, 08.03.2018

1. Wie funktioniert E-Voting?

Lässt man sich von Wissenschaftlern oder Computercracks E-Voting erklären, dauert das entweder zehn Sekunden oder zwei Stunden. Die Zweistundenversion umfasst kryptografisches Mischen, Hashwerte, digitale Signaturen, End-to-End-Verschlüsselung. Die Zehnsekundenversion lautet: E-Voting ist das Abstimmen und Wählen übers Internet statt brieflich.

Zum heutigen Zeitpunkt läuft das so ab: Man kriegt Codes per Post, mit denen man sich in das Abstimmungssystem einloggen und digital abstimmen kann. Ein halbdigitaler Abstimmungsprozess also, oder, in Fachsprache: «nicht vollständig dematerialisiert».

Immer noch vereinfacht, aber ein bisschen ausführlicher: Beim E-Voting, wie es für 2019 geplant ist, setzen die Abstimmungsbehörde und fünf voneinander unabhängige Betreiber (wie beispielsweise die Post oder der Kanton Genf, dazu später mehr) eine Software auf.

Diese Betreiber erzeugen je ein Schlüsselpaar, bestehend aus einem öffentlichen und einem privaten Schlüssel. Die öffentlichen Schlüssel werden zu einem Schlüssel kombiniert und auf einem «elektronischen Anschlagbrett» im Netz publiziert. Zugang zu diesem Anschlagbrett haben jedoch nur eine Gruppe von Spezialisten der Wahlkommission und ausgewählte Dritte.

Die Stimmberechtigten erhalten Zugangs- und Prüfcodes per Post. Nach dem Einloggen wird der Stimmzettel mit dem kombinierten Schlüssel End-zu-End-verschlüsselt und übers Internet verschickt. Ein Prüfcode wird aus dem verschlüsselten Stimmzettel berechnet und zurückgeschickt; dieser muss mit demjenigen auf dem Papier verglichen werden. Die Stimmen werden also erst in der Auszählphase entschlüsselt, zuvor werden sie von ihren Identitäten durch ein kompliziertes kryptografisches Verfahren getrennt («kryptografisches Mischen»). So wird das Stimmgeheimnis gewahrt.

2. Wie ist der Stand der Dinge?

Seit 2004 führen mehrere Kantone Versuche bei eidgenössischen Abstimmungen durch – teils nur für Auslandschweizer, teils auch für Inlandschweizer. Es haben sich zwei Systeme durchgesetzt, dasjenige des Kantons Genf und dasjenige der Post. Bei der Abstimmung vom September 2017 haben Genf, Basel-Stadt, Bern, Luzern, Aargau und St. Gallen mit dem Genfer System gearbeitet. Freiburg und Neuenburg nutzen das Abstimmungssystem der Post.

Die Anteile an E-Votern variieren von Kanton zu Kanton. Bis zu diesem Zeitpunkt haben 22 Prozent das Angebot genutzt. Die Erfahrungen bisher sind positiv. Die Hoffnung, mit E-Voting würde sich die Stimmbeteiligung erhöhen, hat sich allerdings nicht bestätigt.

Vergangenen April hat der Bundesrat beschlossen, E-Voting auf nationaler Ebene zu etablieren. Die Voraussetzung: Die Abstimmungssysteme müssen quelloffen, also universell verifizierbar sein, sodass Forscher, Softwareentwickler und Politikerinnen die technischen Prozesse nachvollziehen können. Bei den Wahlen 2019 sollen zwei Drittel der Kantone E-Voting als dritten Kanal neben der Urne und der brieflichen Abstimmung anbieten.

Die Einführung von E-Voting bleibt für die Kantone allerdings vorerst freiwillig. Denn zunächst muss das Gesetz über die politischen Rechte angepasst werden. Für dessen Ausgestaltung ist das Parlament zuständig. Falls ein Referendum ergriffen wird, entscheidet das Stimmvolk.

3. Was ist das Problem?

Die mangelnde Sicherheit ist das schlagendste Argument der Gegner. Das System sei viel zu einfach störbar: Hackingattacken, Manipulationen, Stimmenkäufe – die Gefahren eines Abstimmungsprozederes, das von Hardware und Software abhängig ist, sind kaum wegzureden.

Hernani Marques vom Chaos Computer Club (CCC) drückt es so aus: Während bei brieflichem Abstimmen Fälschungen aufwendig und kompliziert seien, könne ein Hacker bei E-Voting einen Knopf drücken und sich mit Popcorn auf die Couch setzen.

Ein digitales Abstimmungssystem öffne Tür und Tor für Manipulationen durch PR-Agenturen, Angriffe durch Kriminelle und Kontrolle durch ausländische Geheimdienste. Ein weiterer Kritikpunkt: Während briefliches Abstimmen nachvollziehbar ist, ist E-Voting viel zu komplex. Die grosse Mehrheit muss sich auf eine Handvoll Experten verlassen. Also auf diejenigen, die exklusiven Zugriff auf das elektronische Anschlagbrett haben.

Der CCC ist einer der lautesten und engagiertesten Gegner von E-Voting. Die Argumente des Clubs stossen auf Anklang, schliesslich handelt es sich bei den Mitgliedern um ausgewiesene Experten in Sachen Hacking. «Man muss verstehen, was die Computerisierung bedeutet, und sie muss Grenzen haben», sagt Marques. «Demokratie in den Endergebnissen darf nicht ans Netz.»

Unterstützung erhält der CCC von Franz Grüter. Der Luzerner SVP-Nationalrat, der zusammen mit Marques eine Initiative gegen E-Voting lancieren will, tingelt seit Jahren durchs Land, um an Veranstaltungen vor digitalen Abstimmungssystemen zu warnen. Auch Grüter ist kein Nobody auf dem Gebiet – er ist seit Jahrzehnten in der IT tätig.

Seine Wortwahl ist drastisch: E-Voting, sagt Grüter, zerstöre das Vertrauen in die Demokratie. Die harsche Kritik am Bund folgt auf dem Fuss, Grüter spricht von einer Einführung «durch die Hintertür». Die Bundeskanzlei habe es versäumt, die Bevölkerung rechtzeitig über E-Voting aufzuklären. Er will einen demokratischen Diskurs erzwingen, die Stimmbevölkerung soll bei dieser Frage das letzte Wort haben.

4. Was sagen die Befürworter dazu?

Eric Dubuis, Informatikprofessor an der Berner Fachhochschule, ist eine Instanz auf dem Gebiet des E-Votings und so etwas wie die sachliche Stimme in dieser Debatte. Er leitet das Institut zur Erforschung von Sicherheit im Informationszeitalter, hat das «Swiss Competence Center for E-Voting» ins Leben gerufen und begleitet die E-Voting-Projekte der Post und des Kantons Genf wissenschaftlich.

Der Experte weiss um die Risiken, sagt aber: «Aus der klassischen Sichtweise heraus zu argumentieren, also dass IT-Systeme per se unsicher seien, erschwert die nötige und offene Diskussion.»

Die Sicherheitsfrage ist ein Totschlagargument, das auf alle digitalen Innovationen angewendet werden kann. «Was hier als absolut verkauft wird, ist extrem relativ», sagt Open-Data-Pionier Hannes Gassert. Man könne zum Beispiel E-Voting genauso dezentral organisieren wie das heutige Print-Abstimmungssystem. Letztlich ist es also eine Vertrauensfrage: Wie sicher ist sicher genug?

Niemand von der Befürworterseite bestreitet, dass ein digitales Abstimmungssystem Risiken birgt. Fragt man nach dem Nutzen, sprechen sie vom Wegfall ungültiger und unleserlicher Stimmen, vom Sparpotenzial für die Kantone, vom Bedürfnis vonseiten der Auslandschweizer, auf einem schnelleren Weg abstimmen zu können, und von der Notwendigkeit, mit steigender Mobilität der Stimmbürger Abstimmungen orts- und zeitunabhängig zu organisieren.

Denn: In zwanzig Jahren werde niemand mehr an die Urne gehen, prophezeit Edith Graf-Litscher, SP-Nationalrätin und Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit. Deshalb müsse man jetzt alles daransetzen, die digitalen Abstimmungssysteme zu stärken.

Die Genfer Staatskanzlerin Anja Wyden Guelpa fügt an, es sei richtig, dass der Bundesrat das Projekt auf der nationalen Ebene vorwärtsbringen wolle. «Kryptoföderalismus bringt das System nicht weiter.»

Barbara Perriard, Leiterin Sektion politische Rechte bei der Bundeskanzlei, sagt schlicht: «Wir haben einen rechtlichen und politischen Auftrag.»

5. Warum wird gerade jetzt darüber gestritten?

Eine breite Debatte in der Öffentlichkeit fehlte bislang. Dass sich das jetzt ändern könnte, begrüssen eigentlich alle Akteure.

Aber eigentlich ist es unverständlich, warum die E-Voting-Debatte ausgerechnet jetzt wieder aufflammt. Denn auf technischer und wissenschaftlicher Ebene ist nicht viel mehr passiert, und Versuche in den Kantonen und Diskussionen im Parlament laufen schon seit Jahren.

Die Gegner begründen ihre Offensive mit dem Grundsatzentscheid vom vergangenen April. Und verweisen darauf, dass die Schweiz mit ihren ehrgeizigen E-Voting-Plänen in Europa einen Sonderfall bilde. Oder wie es der Anwalt Martin Steiger von der Digitalen Gesellschaft Schweiz formuliert: «Der Bund rennt mit guten Absichten in die falsche Richtung.»

Denn der internationale Trend verläuft genau umgekehrt. Viele europäische Länder haben ihre E-Voting-Projekte wieder gestoppt. Genauer: Deutschland, Frankreich und Grossbritannien. Auch Norwegen wollte flächendeckend auf digitales Wählen umstellen. Wegen Sicherheitsbedenken bleibt man aber beim Papier. Diese Entwicklungen bestärken die Gegner in ihrer Position. Warum soll ausgerechnet die Schweiz, der Hort der politischen Stabilität, ohne Not ihr bewährtes Abstimmungssystem aufs Spiel setzen?

Auf diese Argumentation reagiert Barbara Perriard von der Bundeskanzlei verhalten verärgert. Noch sei nichts beschlossene Sache, der Fahrplan der Bundeskanzlei entspreche dem normalen Zeithorizont.

Will heissen: Ein entsprechender verbindlicher Erlass kann nach Vernehmlassung, parlamentarischer Beratung und einer allfälligen Referendumsabstimmung frühestens 2020/2021 in Kraft treten, sollten sich die entsprechenden Mehrheiten gefunden haben. Das Stimmvolk wird somit so oder so das letzte Wort haben. Die Kritik, der Bund wolle E-Voting «durch die Hintertür» einführen, zielt ins Leere. Warum also der Aufstand?

Hannes Gassert sagt, die Kritik gegen E-Voting habe es schon immer gegeben, aber jetzt stosse sie auf Nährboden. «Mit der Aussage, E-Voting sei eine Gefahr für die Demokratie, bedienen sich die Gegner desselben Framings, das während der No-Billag-Debatte eingesetzt wurde.»

Es ist einmal mehr eine hochstilisierte Alles-oder-nichts-Debatte.

6. Wie gehts weiter?

Anwalt Martin Steiger wird den Initiativtext für die Gegnerallianz formulieren. Was genau drinstehen wird, ist unklar. Marques vom Chaos Computer Club sagt, man werde wohl kein Verbot formulieren, sondern einfach sichere und transparente Wahlen fordern. Bis dahin will der CCC zum Boykott aufrufen und allenfalls Stimmrechtsbeschwerden einreichen. Eine parlamentarische Initiative für ein E-Voting-Moratorium von Nationalrat Grüter ist hängig. Derweil wird die Bundeskanzlei das Projekt weiter vorantreiben.

Trotz der hitzigen Debatte, in einem sind sich alle einig: Die Digitalisierung wird die Demokratie massgebend beeinflussen. Grüter, Marques und Co. wiederholen deshalb gern, ihre Opposition gegen E-Voting bedeute keine Opposition gegen die Digitalisierung.

Sie wollen an einem anderen Punkt ansetzen: Netzaktivist Daniel Graf plädiert für eine Einführung von E-Collecting, also dem digitalen Unterschriftensammeln für Volksinitiativen und Referenden, weil es «bottom up» sei. Damit meint er eine sukzessive digitale Einbindung der Stimmbürger in politische Entscheidungsprozesse. Franz Grüter hat diese Woche eine entsprechende Motion für die Einführung von E-Collecting eingereicht.

Zur Digitalisierung der Demokratie gehöre längst nicht nur das E-Voting, sagt auch Gassert. Man müsse sich noch viel grösseren Fragen stellen. Zum Beispiel, wo und wie künftig Meinungsbildung stattfinden soll und was mit Fake News und Trollarmeen zu tun sei.

«Die Digitalisierung ist der Gotthard unserer Generation», sagt Gassert, «ein riesiges Projekt mit einer riesigen Bedeutung für die Schweiz.» Der Vorwurf einer «Online-Expertokratie» von Gegnerseite lässt sich zumindest mit der Vorgabe des Bundes, nur universell verifizierbare Systeme zu verwenden, entkräften. Es brauche überkantonale, öffentliche Lösungen unter demokratischer Kontrolle, nur durch gegenseitige Überprüfung kann sich die digitale Zivilgesellschaft weiterentwickeln. Voraussetzung dafür ist eine Fehlerkultur, in der alles ans Licht komme, was schief geht – «sodass es besser werden kann».

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