«Am Paradeplatz fühle ich mich als Aussenseiter»
Peter Bialobrzeski macht mit seinen fotografischen Städte-Tagebüchern weltweit Furore. Jetzt war er in Zürich unterwegs.
Von Ariel Hauptmeier, 08.03.2018
Ein halbes Dutzend «Diaries» hat der Künstler Peter Bialobrzeski schon fotografiert, Momentaufnahmen der Städte Wolfsburg und Athen, Beirut und Kochi, Kairo und Taipei. Letzte Woche ist er durch Zürich gestreift, bei meist winterlichen Verhältnissen. Sein «Zurich Diary» hat dem 56-Jährigen aus Wolfsburg Frostbeulen beschert – und uns Bilder einer Stadt, die man so noch nicht gesehen hat: Fernab des pittoresken Zentrums nimmt er das Alltägliche, das Banale, das Graue in den Blick. Zum ersten Mal entsteht so ein Buch live. Eine Woche, fünfzig Bilder, das sind die Spielregeln.
Die Republik veröffentlicht vorab eine Auswahl von sieben Bildern, jeden Tag kommt eines hinzu, mit dem heutigen Tag schliessen wir die Serie ab. Wir haben Bialobrzeski in der Photobastei zum Interview getroffen.
Herr Bialobrzeski, das erste Bild, das einem für gewöhnlich zu Zürich einfällt, ist dieses touristische Klischee: die Limmat, rechts und links davon die Altstadt, dahinter der See und die Alpen.
Dieser Blick ist ja auch wirklich schön – und er lenkt die Erwartungen, mit denen man Zürich als Ganzem begegnet. Wobei die Stadt auch jenseits der tausendmal gesehenen Sehenswürdigkeiten eine klare Identität hat.
Was für eine Identität ist das?
Jenseits des Zentrums wirkt die Stadt sorgfältig, aber auch mühsam zusammengestellt. Es ist eine kosmopolitische Stadt, und sie ist sehr gefegt und aufgeräumt. Ich finde es spannend, wie man mit den ehemaligen Industriearealen umgeht. Hier wird Stadtbild auf eine relativ vielfältige Art inszeniert. Das hätte ich so nicht erwartet.
Viele Ihrer Bilder thematisieren Brüche – zwischen alt und neu, pittoresk und bombastisch, Gebäuden, die man geografisch zuordnen kann, und solchen, die überall sein könnten.
Man hat ja immer noch das Schweizer Haus als Klischee im Kopf: gelb gestrichen, die Fensterläden grün, die Dachziegel pittoresk vermoost. Das ist die eine Seite. Die andere sieht man etwa am Fifa-Gebäude in der Enge, mit diesem pompösen Hotel Ascot gegenüber. Das ist generisch – eigenschaftslos und austauschbar. Investorenarchitektur, die überall gleich aussieht. Es gibt sicher viele exzellente Architekten in der Schweiz. Aber das macht sich im Zürcher Stadtbild nicht bemerkbar.
Häufig fotografieren Sie Nicht-Orte – eigenschaftslose Gegenden, unwirtliche Kreuzungen, Gebäude, die nicht zusammenpassen. Wie empfinden Sie solche Orte?
Ich finde sie interessant. Sie erschrecken mich nicht, und ich finde sie auch nicht hässlich. Eher haben sie eine beruhigende Wirkung auf mich, im Sinne von: vertraut. Diese Architektur, so unwirtlich sie sein mag, erdet mich. Bei mir ist es tatsächlich genau andersherum: Ich fühle mich am Paradeplatz oder am Bellevue nicht zugehörig. Dort empfinde ich mich als Aussenseiter, vielleicht auch als Ausgestossener.
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit hier in Zürich vor?
Ich habe vor meiner Haustür mit dem Fotografieren angefangen, in Wollishofen, dort bin ich bei einem alten Freund untergebracht. Und von dort aus habe ich mich nach und nach durch die Stadt gearbeitet.
Zu Fuss?
Immer. Ich gehe los, sehe etwas, das ästhetisch funktioniert, das mich anspricht, etwas in mir auslöst. Dann suche ich mir einen Standpunkt, baue das Stativ auf, fotografiere ein, zwei Minuten lang und gehe weiter. Oft werde ich gefragt, wie viele Bilder ich an einem Morgen mache. Dann antworte ich: Keines, ich habe lediglich Material gesammelt. Erst in der Arbeit am Rechner entstehen aus den Datensätzen die Bilder.
Was ist die beste Zeit zum Fotografieren?
Rund um den Sonnenaufgang und rund um den Sonnenuntergang. Dann ist der Himmel schon oder noch blau, hinzu kommt das Gelb der Lichter. Grob gesagt, habe ich pro Tag zwei Stunden Zeit zum Arbeiten: eine Stunde am Morgen, eine Stunde am Abend. Der Morgen hat den Vorteil, dass die Stadt dann still und leer ist. Abends ist bisweilen das Licht interessanter, weil dann mehr Fenster beleuchtet sind.
Wann geht die Sonne derzeit auf?
Ungefähr um 7 Uhr 10.
Da heisst es früh aufstehen. Und das bei der Kälte – an manchen Morgen hatte es minus zehn Grad.
Vor einigen Tagen hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Frostbeulen an den Fingern, trotz meiner Lederhandschuhe. Zuerst am Zeigefinger, mit dem ich ausgelöst habe. Danach habe ich abwechselnd mit allen Finger ausgelöst – sodass am Ende alle Kuppen taub waren. Skihandschuhe gingen auch nicht, weil ich damit nicht auslösen konnte.
Wie wählen Sie die Quartiere für Ihre Streifzüge aus?
Ich habe eine vage Vorstellung von den Gegenden, weiss grob, was mich erwartet. Und dann gehe ich los. Das Schöne an meinem Beruf ist: Ich muss nicht repräsentativ sein. Niemandem gerecht werden. Ich habe den Luxus, mir selbst ein Bild von dieser Stadt machen zu können.
Was haben Sie immer in Ihrem Rucksack dabei?
Nur Kamera und Stativ.
Welche Kamera nutzen Sie?
Eine Canon 5D Mark II. Die mir aber gestern kaputt gegangen ist. Jetzt habe ich die gleiche Kamera von einem Kollegen ausgeliehen und warte auf Ersatz.
Und was für ein Objektiv?
Ein Shift-Objektiv, um die Linien gerade zu ziehen. Brennweite 35 Millimeter.
Immer?
Immer.
Was geht in Ihnen vor, während Sie arbeiten?
Ich bin dann schon eins mit mir, sehr konzentriert und versunken in das, was ich tue. Und nach so einem Rundgang, gerade wenn er abends doch mal länger dauert, ziemlich ausgelaugt.
Auch beschwingt?
Es gibt verschiedene Phasen. Wenn ich mich frühmorgens aus dem Bett quälen muss, bei dieser eisigen Kälte, finde ich alles ganz furchtbar. Wenn ich unterwegs bin, bessert sich allmählich die Stimmung, und wenn ich dann die ersten Bilder mache, fühle ich mich wieder gut. Fotografie ist ja immer auch eine Aneignung von Welt. Ich übernehme die Kontrolle.
Hören Sie dabei Musik?
Nein. Im Studio, beim Bearbeiten der Bilder, höre ich den ganzen Tag über Radio. Aber wenn ich unterwegs bin, muss ich mich konzentrieren. Vor zehn Jahren, in Kuala Lumpur, habe ich es einmal mit Musik versucht. Die Bilder, die dabei entstanden sind, waren miserabel. Da sind meine Emotionen offenbar in eine andere Richtung gegangen.
Wie stark bearbeiten Sie die Bilder?
Grob gesagt nutze ich die Möglichkeiten der digitalen Dunkelkammer. Manchmal kopiere ich zwei Belichtungen zusammen, um übertriebene Farbtöne herauszunehmen und eine grössere Gleichmässigkeit zu erzeugen. Nur ganz selten retuschiere ich ein Detail heraus, etwa ein parkendes Auto. Mir ist es wichtig, dass alles gut ausgeleuchtet ist und es keinerlei Drama, nichts Anekdotisches, keine Zusatzemotion in diesen Bildern gibt. Die Struktur soll als Raum transparent werden.
Sind Sie Architekturfotograf?
Nein.
Landschaftsfotograf?
Nein.
Sondern?
Fotograf.
In welcher Tradition stehen Sie?
In der Tradition der künstlerischen Dokumentarfotografie. Ich beziehe mich auf Leute wie Walker Evans, Joel Sternfeld, Stephen Shore.
Was ist Ihre Methode?
Ich möchte über die Bilder einen Ort begreifen. Darüber hinaus kann ich nur antworten mit den Worten eines berühmten Kollegen, der gesagt hat: Ich fotografiere, weil ich sehen möchte, wie die Welt aussieht, wenn ich sie fotografiere. Anders gesagt: Die Städte, die ich in den «Diaries» fotografiere, sind auf diese Weise noch nicht fotografiert worden. Ich mache also zwei Statements: eines zum urbanen Raum, eines zur Fotografie.
Was ist die Idee hinter den «Diaries»?
Sie sind ein Gegenwartsarchiv der Städte. Eines Tages wird man vielleicht diese Bücher zur Hand nehmen und sagen: Zehn Jahre lang sah die Welt so und so aus.
Ein oft wiederholter Vorwurf gegen Sie lautet, dass Sie sich auf das Hässliche fokussieren, das Grau, die Hinterhöfe und Bausünden.
Das ist nicht mein Problem. Für mich sind diese Orte keineswegs hässlich, sondern erst einmal interessant. Ich bewerte nicht. Ich mache Vorschläge.
Ihr «Diary» über Ihre Heimatstadt Wolfsburg kam gar nicht gut an. Journalisten und Lokalpatrioten schimpften, eine Kritikerin beklagte eine «tränenströmende Tragik» in den Bildern.
In der Debatte äusserte sich aber auch der ehemalige VW-Kommunikations-Vorstand Klaus Kocks mit dem Satz: Man kann Bialobrzeski nicht verantwortlich machen für das, was in den 80er- und 90er-Jahren in dieser Stadt angerichtet wurde – er hat, in bester deutscher Dokumentartradition, die Dinge gezeigt, die sind.
Wollen Sie Kritik üben mit Ihren Bildern?
Gewiss bringen sie die Leute zum Nachdenken, so gesehen haben die Bilder ein kritisches Potenzial. Wobei: Das funktioniert per se. Auch ohne meinen ausdrücklichen Willen zur Aufklärung.
Was möchten Sie bei den Betrachtern auslösen?
Das müssen diese selbst entscheiden. Mir geht es darum: Schaffe ich es, binnen einer Woche das kohärente Bild einer Stadt zu zeigen? Die Bilder sollen als Bilder für sich argumentieren. Wenn du drei Bilder gesehen hast, erscheinen dir die nächsten Bilder dann als schlüssig, auch wenn sie etwas ganz anderes zeigen?
Führen Ihre Bilder dazu, dass die Menschen ihre Stadt mit neuen Augen sehen?
Diesen Effekt beobachte ich immer wieder.
Werden sich die Städte immer ähnlicher?
Nein, das glaube ich nicht. Taipei und Wuhan sind völlig anders, obwohl beide dem chinesischen Kulturkreis angehören. Hagen sieht anders aus als Zürich. Nächstes Jahr gehe ich für eine Woche nach Linz, auch eine relativ kleine Stadt in den Bergen. Wird es da Analogien zu Zürich geben? Meine Vermutung: Ja, aber nur zum Teil.
Sie werden es untersuchen.
Ich werde es untersuchen.