Das hellgrüne Wunder von Zürich

Auf einen eher langweiligen Wahlkampf folgte in der Stadt Zürich ein spannender Wahlsonntag. Und eine Überraschung, mit der lange niemand gerechnet hatte. Das Protokoll eines Nachmittags im Hause eines frisch gewählten Stadtrates.

Von Michael Rüegg, 05.03.2018

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Freunde und Familie: Den Wahlnachmittag verfolgt Andreas Hauri im Kreise von Vertrauten. Seine Partei bekommt ihn erst am Abend zu Gesicht. Bild: Republik

13.55 Uhr – Anstelle von Andreas Hauri tritt eine motivierte Englische Bulldogge aus der Wohnungstür. Dahinter der Kandidat. Er trägt ein dunkles Gilet und ein weisses Hemd, ohne Krawatte. Derselbe Look, in dem er die vergangenen Wochen von den Plakatwänden gelächelt hat. Damit man ihn wiedererkennt, für den Fall, dass er gewählt wird. Auf dem Tisch liegen Häppchen. Und Servietten in liberalem Hellgrün. Im Wohnzimmer versammeln sich Freunde, Familie, einer seiner Wahlkampfstrategen. «Die Leute, die mich in den letzten Monaten emotional getragen haben», sagt Hauri. Ansonsten sagt er nicht sehr viel. Nicht bevor er weiss, wie viele der Stadtzürcherinnen seinen Namen auf den Wahlzettel geschrieben haben.

Andreas Hauri ist der grünliberale Kandidat für die Zürcher Stadtratswahlen. Er vertritt eine Partei, die gewissermassen aus einem Unfall heraus entstanden ist. Vor vierzehn Jahren, als der grünen Zürcher Regierungsrätin Verena Diener der Kurs ihrer Partei stark missfiel. Sie trat aus und gründete die Grünliberalen, zusammen mit Nationalrat Martin Bäumle. Seither existiert die Bewegung auf der politischen Landkarte, am stärksten blieb sie in und um Zürich.

Zweimal schon setzten die Grünliberalen an, einen Stadtratssitz zu erobern, 2010 und 2014. Beide Male landeten sie unter «ferner liefen». Nichts deutete im Vorfeld darauf hin, dass es diesmal anders werden würde.

Nicht der Kandidat selber, sondern eine gut gelaunte Englische Bulldogge, die zu Besuch ist. Sie verleiht dem Wahlnachmittag eine animalische Note. Bild: Republik

Doch es ist anders. Sonst wären nicht fünf Presseleute da. Hauri gibt Interviews, lächelt für die Kamera. Der erste Prosecco wird geköpft. «Auf dein Glück!», erhebt ein Gast sein Glas. Hauri bleibt beim Eistee.

Es geht nicht mehr ums Glück. Nur noch um Stimmen. Glück hatte Hauri vier Wochen zuvor.

Im Fernsehen läuft eine Dauerwahlsendung des Lokalsenders TeleZüri. No Billag, Wahlen in Winterthur, eine kantonale Vorlage. Die politische Berichterstattung gibt etwas her. Doch während schon kurz nach zwölf Uhr mittags bekannt ist, dass das Land weder die SRG noch die Bundesfinanzen in die Wüste schickt, lassen sich die Wahlbüros in Zürich Zeit. Sie zählen. Stimme um Stimme.

Und das Wohnzimmer wartet. Andreas Hauris Ex-Frau diktiert einem Journalisten das Rezept für ihre fabelhaften Brownies: «Die getrockneten Aprikosen in Portwein einlegen», dem Journalisten wird es zu kompliziert, er bittet um eine E-Mail.

15 Uhr – Das Ergebnis des ersten Wahlkreises erscheint auf dem Bildschirm. Es ist der Kreis 6, gut situiert, linksliberal. Erste Überraschung: Die neu kandidierende Karin Rykart liegt auf Platz fünf von neun. Allerdings zeigt das Zürcher Lokalfernsehen neben ihrem Namen ein Männergesicht und schreibt die Grüne der EDU zu.

Dann Überraschung Nummer zwei: Andreas Hauri steht auf dem achten Platz, vor dem FDP-Mann Michael Baumer, der als gesetzt galt. Und nur knapp hinter dem bekannten bisherigen FDP-Mann Filippo Leutenegger. Hauris Abstand zu Susanne Brunner von der SVP, die in den Wochen vor der Wahl als seine schärfste Konkurrentin gehandelt wurde, beträgt komfortable fast 1500 Stimmen. Dazwischen liegt, ebenfalls mit Distanz zu Hauri, der CVP-Mann Markus Hungerbühler. Jubel unter den Anwesenden. In der Küche knallt der Korken einer weiteren Flasche Prosecco, etwas lauter als sonst. Hauri bleibt beim Eistee.

Dass es ein Grünliberaler so weit nach vorne bringt, verdankt er vor allem einem Umstand: Die bisherige SP-Gesundheitsvorsteherin Claudia Nielsen nahm sich am 7. Februar aus dem Rennen. Ihre Partei verzichtete darauf, einen kurzfristigen Ersatz zu finden, um ihren vierten Sitz in der Exekutive zu verteidigen.

Nielsen musste von rechter Seite viel Kritik für ihre gescheiterte Spitälerstrategie einstecken. Der bürgerliche Block liess keine Gelegenheit aus, sie anzugreifen. Schon in der ersten grossen Wahlumfrage der «Neuen Zürcher Zeitung» Anfang Dezember lag Nielsen abgeschlagen auf Platz zwölf. Und Andreas Hauri, auf Platz zehn, wurde bewusst, dass seine Chance grösser war als ursprünglich angenommen.

Denn Andreas Hauri, Kantonsrat für den Wahlkreis 3 und 9 der Stadt Zürich, ist kein bekanntes Gesicht. Man muss ihn sich als «Mr. Nice Guy» vorstellen. Nirgendwo ist der besonnene Marketingspezialist bislang angeeckt. Und für die Grünliberalen in den Kampf um ein Exekutivamt einzusteigen, war bislang eher politischer Karrierekiller als Sprungbrett. Hauri nahm die Herausforderung dennoch an.

Seine Wahlagenda umfasst urbane Schlüsselbegriffe wie Digitalisierung, Wohnungsbau und Smart Mobility. Er verspricht, dass Zürich mehr könne als heute. Das erweist sich als klug. Denn eine Stadt, in der eine allgemeine Zufriedenheit über die bestehenden Verhältnisse herrscht, kann man nicht erobern, indem man sie schlechtredet. Man muss sie besserreden.

Doch Andreas Hauri steht ganz allein in der Mitte. Links reichen sich Grüne, SP und Alternative die Hände zum Bündnis. Rechts finden sich FDP, CVP und SVP zu einem dauerlächelnden Schlägertrupp namens «Top Five» zusammen. Hauri bleibt der blockfreie unter den Kandidaten.

16.45 Uhr – Nach endlosen eindreiviertel Stunden folgt endlich ein weiteres Ergebnis. Der Kreis 11, bestehend aus den Stadtteilen Oerlikon, Seebach und Affoltern. Andreas Hauri hat vor diesem Resultat gebibbert. Zürichs Norden gilt als bürgerlich, konservativ. Und wieder eine Überraschung: Hauri liegt nur knapp hinter dem neuen FDP-Mann Michael Baumer. In der Gesamtwertung kann er seinen achten Platz halten.

Stimmt der Rest der Stadt gleich, ist Hauri gewählt. Doch Andreas Hauri behält sein Pokerface. Während der Raum jubelt, bleibt der Kandidat angespannt. Sogar die Englische Dogge, die unentwegt ihre Runden dreht, wirkt fröhlicher als der Gastgeber.

So gewinnt man Wahlen: Mit grünliberalen Badeentchen. Bild: Republik

Längst hat sich die Hälfte der Gäste aus dem Staub gemacht. Zu schön ist das Wetter draussen. Und zu langweilig das Fernsehprogramm. Die Moderatoren bei TeleZüri schleppen sich von Gesprächspartner zu Gesprächspartnerin. Jetzt steht FDP-Nationalrätin Doris Fiala vor der Kulisse im Stadthaus. Ein Glücksgriff für die Regie, vermutlich redet sie, bis das nächste Resultat eintrudelt.

Mittlerweile ist der Rest von Andreas Hauris Wahlkampfteam eingetroffen. Grosse Euphorie, wer hätte das gedacht! Der Kandidat trinkt weiter Eistee.

17 Uhr – Endlich wieder Bombenstimmung im Wohnzimmer. Die Stadtkreise 3 und 10 sind ausgezählt. Moderator Oliver Steffen sagt auf TeleZüri: «Wir haben erstmals einen Grünliberalen im Stadtrat», alles im Raum jubelt. Der Kandidat lächelt erwartungsvoll. Irgendwann wird er aufbrechen und sich ins Stadthaus begeben müssen, wo Kameras und Mikrofone für den Neuen bereitstehen. Doch Andreas Hauri, nach wie vor auf dem komfortablen achten Platz, zögert. Er will sich seiner Sache sicher sein. Zwischenzeitlich ist Konkurrent Baumer auf Platz neun unter das absolute Mehr gerutscht.

Die zum Fumoir umgebaute Loggia ist gefüllt, das Wohnzimmer leer. Das Lokalfernsehen überbrückt und überbrückt.

Zürich hat gewählt. Der linke Block geht mit sechs Sitzen aus der Wahl hervor. Die Bürgerlichen verlieren einen. In der Mitte wird Andreas Hauri Platz nehmen. Wenn alles so bleibt, wie es den Anschein macht.

17.20 Uhr – Die Kreise 1 und 2 sind ausgezählt, ebenso 7 und 8. Hauri bleibt auf Platz acht. Baumer hat die Grenze zum absoluten Mehr wieder überschritten. Soll man langsam los? Es fehlen noch die linken Kreise 4 und 5 sowie der kleinbürgerliche Kreis 12. Arithmetisch ist die Sache gelaufen, Hauri ist neuer Stadtrat. Doch er traut der Sache noch nicht.

Dann geschieht erst mal nichts. Der Wahlkampfmanager drückt im Minutentakt den Refresh-Button. Die Spalten der fehlenden Wahlkreise bleiben leer. Hauri erfährt am Telefon, dass um 18.30 Uhr die letzten Resultate reinkommen werden. Kurz nach 18 Uhr ist Abmarsch.

Die Grünliberalen sind in Bewegung. Das haben sie auch nötig. Einst hatte die Partei zwei Ständeratssitze. Heute keinen mehr. In Luzern und St. Gallen sitzen Grünliberale in den Stadtregierungen. Das sind die einzigen beiden Vollzeitmandatare. Hauri wird der dritte. Und der erste, der ein Gebilde mitregiert, das an einen mittelgrossen Kanton herankommt.

18.40 Uhr – Am Paradeplatz steigen der Kandidat und seine Entourage aus dem Tram. Blitzlicht, zwei weitere Fotografen haben ihn vor Ort schon erwartet. Der Tross begibt sich zum Stadthaus. Einige Meter vor dem Eingang begegnet ihm der glücklose SVP-Kandidat Roger Bartholdi. Er, der sogar vom Gewerkschaftsbund unterstützt wurde, landet hinter seiner Kollegin Susanne Brunner. Handshake zwischen Gewinner und Verlierer.

Als Andreas Hauri durch die Pforte ins Stadthaus tritt, sind die Fotografinnen und Kameraleute bereits in Position. Sein Zögern hat die Spannung noch gesteigert. Jetzt stürzen sich alle auf ihn. Die Interviews mit den anderen sind längst im Kasten.

Die Mikrofone türmen sich auf. Andreas Hauri steht im Licht der Scheinwerfer, lächelt und beantwortet Frage um Frage. Mitarbeiterinnen der Stadtkanzlei rennen mit den ersten Blumensträussen durch die Menschenmenge. Und kurz darauf versammeln sich die Gewählten – Handshake, Handshake, Handshake – zum ersten Gruppenfoto. Einer fehlt: Michael Baumer. Er liegt 3000 Stimmen hinter Hauri, aber dennoch knapp über dem absoluten Mehr. Vermutlich unterwegs.

Den Job der Blumenmarie übernimmt der zurückgetretene CVP-Stadtrat Gerold Lauber. Sein Arm liegt in der Schlinge. Das passt zum Abschneiden seiner Partei. Laubers designierter Nachfolger hat die Wahl verpasst. Und zu allem Übel ist die CVP auch noch an der 5-Prozent-Hürde gescheitert. Die städtische Politik wird künftig ohne sie stattfinden.

Nicht mehr lange, und der Wahlzirkus wird abgebaut. Die Techniker wollen Feierabend machen, die Journalistinnen ihre Beiträge schreiben, schneiden, redigieren. Und die Kandidaten verteilen sich auf ihre Wahlfeiern. Dann wird vier Jahre regiert und parliert.

Der Wahlkampf war etwas dröge. Die eigentliche Wahl spannend. Die SVP gehört zu den grossen Verliererinnen. Nicht nur im Stadtrat, auch im Gemeinderat. Ein No-Billag-Effekt? Das Thema wird Stoff für Kommentare und Analysen geben.

In einer Weinbar beim Bellevue warten schon die Grünliberalen auf ihren neuen Stadtrat. Es gibt Applaus. Und keinen Eistee.