Führungslose Führungsmacht
Deutschland ist seit über fünf Monaten ohne Regierung. Am Sonntag wird bekannt, ob die SPD-Mitglieder eine Fortführung der Grossen Koalition mit CDU/CSU gutheissen. Werden sie diese Gratwanderung wagen?
Von Katharina Hamberger, 02.03.2018
Am Sonntag ist in Deutschland Tag der Wahrheit. Dann wird das Ergebnis des Mitglieder-Entscheids der SPD bekannt gegeben und endlich die Frage beantwortet, ob die Zeit ohne Regierung vorbei ist. Mehr als fünf Monate dauert dieser Zustand seit der Bundestagswahl am 24. September 2017 nun schon an. Das aussergewöhnlich lange Interregnum mit einer nur geschäftsführenden, geschrumpften Regierung – viele Minister und Ministerinnen sind aufgrund neuer Ämter bereits aus der Regierung ausgeschieden – ist erst mal kein Grund zur Aufregung. Der Bundestag ist handlungsfähig geblieben, das Land versinkt nicht im Chaos.
Gleichzeitig stellen diese Monate seit der Bundestagswahl aber eine Zäsur dar, die nicht ohne Folgen für das Land, für die Parteien, für die deutsche Politik bleiben wird. Dass ausgerechnet in dem Land, das als eines der stärksten in der Europäischen Union gilt, dem es wirtschaftlich gut geht, in dem fast Vollbeschäftigung herrscht, sich die sogenannten Volksparteien so schwertun, eine Regierung zu bilden, bedeutet einen Umbruch. Es ist Ausdruck eines Prozesses, auf den die Politik bisher keine passenden Antworten findet.
Trotz der guten wirtschaftlichen Lage Deutschlands hat sich in der Bevölkerung Verunsicherung breitgemacht. Die Gründe sind vielfältig, Globalisierung und Digitalisierung gehören sicher dazu. Dass 2015 eine grosse Zahl schutzbedürftiger Menschen nach Deutschland gekommen ist, um Asyl zu beantragen, und gleichzeitig deutlich geworden ist, dass das Land nur unzureichend dafür vorbereitet war, hat sicherlich auch dazu beigetragen. Es löste nicht zuletzt eine Gerechtigkeitsdebatte aus, die Defizite der Politik in den Fokus gerückt hat, zum Beispiel marode Schulen, fehlende Kita-Plätze oder auch einen Mangel an Pflegepersonal. Es hat Fragen aufgeworfen, auf welche die Politik nur unzureichende oder gar keine Antworten geben konnte. Das hat zu einer gewissen Entfremdung der Bevölkerung von den Volksparteien CDU, CSU und SPD geführt und in der Zersplitterung der Parteienlandschaft im Bundestag seinen Ausdruck gefunden. Sieben Parteien, organisiert in sechs Fraktionen, sitzen nun im Parlament.
AfD: Symptom einer Parteiverdrossenheit
Das schmerzhafteste Symptom für diese Entfremdung ist die AfD. Die rechtsradikale Partei ist zum Sammelbecken geworden: für die Unzufriedenen, für diejenigen, die einfach ihren Protest zum Ausdruck bringen wollen, aber auch für die Rassisten, die Schwarz-Weiss-Denker, die Antisemiten, die Reaktionäre.
Dass die AfD nun als drittstärkste Kraft im Bundestag sitzt, ist nicht nur Ausdruck eines Zeitgeistes, den man akzeptieren muss, weil in anderen europäischen Ländern dasselbe geschieht. Es ist ein hausgemachtes Problem, auf das die Antwort fehlt. Lange wurde versucht, die Partei einfach totzuschweigen; mit mässigem Erfolg. Ebenso wenig hat die Überbietung in Polemik und Populismus funktioniert. Denn die AfD kann tabuloser auftreten und muss keine Lösungen liefern. Das war an der Asyl- und Flüchtlingspolitik gut zu beobachten.
Kurz leuchtete der Weg auf, wie die AfD marginalisiert werden kann: als die SPD vor rund einem Jahr mit Martin Schulz ihren Kanzlerkandidaten bestimmte und plötzlich ein Hype entstand, der die Partei in Umfragen wieder auf Augenhöhe mit CDU und CSU gebracht hat. Der Effekt war auch in einigen Bundesländern zu beobachten: Sobald die beiden grossen Volksparteien SPD und Union sich gegenseitig als Gegner begreifen, verliert die AfD.
Es herrscht also keine Politikverdrossenheit in Deutschland, sondern eine Parteienverdrossenheit. Vor allem die Volksparteien SPD, CDU und CSU mussten bei der Bundestagswahl erfahren, dass sie an sich selbst arbeiten müssen, um zu verhindern, dass sich ein Teil der Bevölkerung dauerhaft einer rechtsradikalen Partei zuwendet. Dass das nicht nur Theorie ist, lässt sich gut in Nachbarstaaten wie Österreich oder Frankreich beobachten.
Angela Merkel: Versuch einer Erneuerung
Im Zentrum steht natürlich Angela Merkel. Sie ist seit 2005 Bundeskanzlerin, hat einen eigenen Regierungsstil geprägt. Merkel hat die Republik durch Krisen manövriert, ohne populistisch und laut zu sein. Viele haben die CDU vor allem wegen ihr gewählt. Diese Zeit nähert sich jedoch ihrem Ende, was nach so vielen Jahren nur natürlich ist.
Aber zu Merkels Geschichte gehört auch, dass ihre Flüchtlingspolitik, die ganz und gar nicht zu ihrem pragmatischen Stil passte, zum Ausgangspunkt der Erosion ihrer Macht wurde. Die Unzufriedenen wurden immer mehr. Ausserhalb der CDU, aber auch innerhalb. In der Partei gab es einige, die bemängelten, die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin hätte die Partei zu sehr in die Mitte geführt. Mancher sprach von Sozialdemokratisierung. Dass dann auch noch die Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP scheiterten, hat ihre Position weiter geschwächt.
Das Rumoren verstärkte sich noch mehr, als die CDU bei den anschliessenden Verhandlungen mit der SPD das Finanzministerium gegen das Wirtschaftsministerium tauschte. Nun ist die Rede davon, dass es wieder mehr Konservatismus brauche. Das ist zwar nur eine Worthülse. Aber sie ist für die einen eine Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Für andere, wie zum Beispiel Jens Spahn, ein Karrierevehikel. Der 37-Jährige ist zum Hoffnungsträger der Merkel-Kritiker geworden. Nun will sie ihn in ihr Kabinett einbinden.
Aber nicht nur das: Die CDU-Chefin setzt auf die Erneuerung, für die sie selbst nicht mehr steht. Das Personal-Tableau für die kommende Regierung ist jünger und weiblicher, die Parteizentrale wird in Zukunft von einer zu Merkel loyalen, aber selbstbewussten Generalsekretärin geleitet, die in der Partei über alle Flügelgrenzen hinweg beliebt ist und ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten soll.
Die Mitte werden CDU und CSU nicht aufgeben, denn das Wählerpotenzial ist dort zu gross. Aber sie werden versuchen, wie sie es früher auch getan haben, den rechten demokratischen Rand wieder besser zu integrieren.
SPD in der Sinnkrise
Die Sozialdemokraten sind schon länger eine Volkspartei, die das Volk nicht mehr erreicht. Bereits bei der Bundestagswahl 2009 lag die SPD, trotz eines beliebten Kandidaten, nur knapp über 20 Prozent – und damals war die AfD noch kein Thema. Die ständigen Katastrophenmeldungen aus der Partei seit der Bundestagswahl, die fast schon an eine Satire erinnern, sind der vorläufige Höhepunkt einer schon lange andauernden Sinnkrise. Wohin will die SPD, wofür steht sie, wer sind die vielversprechenden neuen Köpfe?
Darauf sucht sie noch nach Antworten. Dabei ist sie die Partei mit den meisten Mitgliedern in Deutschland. Es scheint also eine Sehnsucht nach einer sozialdemokratischen Volkspartei zu geben. Ihre Wähler wandern auch nicht übermässig zur Linkspartei ab, was sicher mit deren parteiinternen Streitigkeiten zu tun hat, aber auch damit, dass Die Linke eben eine Klientel- und keine Volkspartei ist.
Es liegt aber nicht nur am fehlenden Kompass. Die in sich zerrüttete SPD schafft es auch nicht, die eigenen Erfolge zu verkaufen. Bestes Beispiel ist der Mindestlohn: Die SPD hat ihn 2013 in den Vertrag der Grossen Koalition geschrieben, die Union hätte darauf verzichten wollen. Durchgesetzt hat ihn die SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles. Aber die Lorbeeren kassierte Angela Merkel.
Viele in der SPD, allen voran die Jusos, glauben nicht an eine Erneuerung innerhalb einer Grossen Koalition. Sie wollen deshalb lieber in die Opposition, wo es leichter ist, sich von CDU und CSU abzugrenzen und endlich wieder Profil zu gewinnen.
Wie geht es weiter?
Deutschland braucht bald eine Regierung. Der Bevölkerung wäre kaum zu vermitteln, dass «die da oben» es nicht hinkriegen. Das würde nur zu noch mehr Verunsicherung und Verdrossenheit führen. Auch für Europa ist es unabdingbar, dass Deutschland wieder mehr als eine geschäftsführende Regierung hat. Auf EU-Ebene stehen wichtige Entscheidungen an, der Brexit, aber auch die Neugestaltung des Staatenbundes, zu dem der französische Präsident seine Vorschläge gemacht hat. Brüssel wartet auf die deutsche Antwort.
Klar ist auch: Die nächste Kanzlerin dürfte Angela Merkel heissen. Einer Koalition aus Union und SPD wird sie allemal vorstehen. Selbst wenn es zu einer Minderheitsregierung kommt, weil die SPD tatsächlich den Koalitionsvertrag ablehnt, wird sie vom Bundespräsidenten vorgeschlagen und vom Bundestag gewählt werden. Nur im Fall von Neuwahlen wäre ihre Zeit wohl endgültig vorbei.
Ob am Sonntag schon die Entscheidung für eine neue Regierung fallen wird, ist offen. Die Abstimmung der SPD-Mitglieder wird voraussichtlich knapp ausgehen. Ausschlaggebend ist der grösste und stärkste Landesverband: Nordrhein-Westfalen. Im bevölkerungsreichsten Bundesland im Westen der Republik ist bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr die SPD als Regierungspartei von der CDU abgelöst worden. Seitdem sind die internen Machtverhältnisse ungeklärt. So mancher versucht sich über ein Nein zu einem schwarz-roten Bündnis auf Bundesebene zu profilieren. Entscheidend wird sein, ob die SPD-Mitglieder tatsächlich riskieren wollen, bald schon einen weiteren Wahlkampf führen zu müssen, dessen Ergebnis die Sozialdemokraten noch weiter in die Bedeutungslosigkeit treiben könnte.
Doch wenn es zu einer Grossen Koalition kommt, wird es eine anspruchsvolle Gratwanderung für beide Parteien. Sie müssen das Kunststück vollbringen, zusammenzuarbeiten und etwas voranzubringen, sich aber gleichzeitig wieder stärkere eigene Profile zuzulegen. Wenn dieses Kunststück nicht gelingen sollte, werden die Volksparteien in Deutschland weiter an Bedeutung verlieren.