Wildfang im Südwestatlantik

Es geht um Milliarden Dollar: Die Jagd um Tintenfische vor der argentinischen Küste. Eine Saga aus den rauen Wassern Patagoniens in zwanzig Miniaturen.

Von Andreas Fink, 28.02.2018

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Wildfang im Südwestatlantik
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Blick von einem Flugzeug in der Nacht
Viel Licht im Dunkel: Ein Flugzeug der argentinischen Küstenwache über den zahllosen Fischerbooten, die auf Tintenfischjagd sind. Clarín

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Die können sogar fliegen. Nicht sehr hoch, nicht sonderlich weit, doch einige Meter schaffen es die patagonischen Tintenfische aus dem Wasser, wenn dort der Fressfeind lauert, Seehechte, Robben und Pinguine. Wobei die keine wirkliche Gefahr sind für Illex argentinus. Nicht einmal Pottwale, obwohl einer dieser 50-Tonner pro Tag leicht 1500 Kilogramm Kalmare vertilgt. Eine enorme Fortpflanzungsfreude sichert den Weichtieren die Erhaltung ihrer Art. Eigentlich.

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Der Weckruf kam aus einem Weltraumlabor. Im Dezember 2012 präsentierte die Nasa neuartige Karten, sie zeigten die Erde bei Nacht. Dunkelblau die Kontinente, schwarz die Meere, glänzend hell die Metropolen. Aber was waren das für sonderbare Lichtquellen? Im einsamen Norden des US-Bundesstaates Dakota. Im wilden Westen Australiens. Und dieser lang gestreckte Leuchtfleck vor der Küste Patagoniens, im eisigen Südatlantik, wo sich doch nur Möwen und Wale herumtreiben?

In Dakota machten Energiekonzerne so viel Licht bei ihrem hitzigen Wettbewerb, Öl aus dem Schiefer zu fracken. Australien wurde gerade von Buschfeuern heimgesucht. Vor Patagonien gingen, die Nasa zeigte es der Welt zum ersten Mal, Hunderte Boote auf nächtliche Tintenfischjagd. Beleuchtet wie Rummelplatz-Riesenräder. Was waren das für Schiffe?

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Besucherinnen, die nach Buenos Aires kommen, wundern sich oft, warum sie den Strand nicht finden. Man hat ihn schon vor langer Zeit zugebaut, mit Hafenanlagen, Zollhöfen, Eisen- und Autobahnen. Die einzige längere Promenade versteckt sich hinter dem Inlandsflughafen Aeroparque. Argentinien, so besagt ein altes Aperçu, lebt mit dem Rücken zum Meer. Sozialhistorikerinnen erklären das mit dem immensen Wohlstandsversprechen der Pampa, mit ihren enorm fruchtbaren Äckern, ihren endlosen Weideflächen. Wegen der Pampa gehören die Argentinier zu den leidenschaftlichsten Fleischfresserinnen der Welt. Etwa hundert Kilo Fleisch vertilgt im Schnitt ein Argentinier pro Jahr. Aber nur sieben Kilo Fisch.

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Ushuaia, Feuerland, 6. November 2017, nachmittags. Es ist ein strahlender Frühlingstag, der Himmel wolkenlos, als das einzige einsatzbereite U-Boot der argentinischen Marine, die ARA San Juan, zu einer Übungsfahrt ausläuft. Eine Urlauberin im Hafen sieht zu und fotografiert das U-Boot. Es wird das letzte Bild der ARA San Juan sein. Neun Tage später verschwindet das U-Boot in den Tiefen des Südmeers.

Als es verschwindet, registrieren zwei Unterwassermikrofone aus grosser Distanz eine Explosion auf 46,1175 Grad südlicher Breite und 59,7257 Grad westlicher Länge. Genau in jener Zone, in der die Nasa-Spezialkameras das nächtliche Lichtermeer entdeckten. In der Nähe jener Flotte aus Fischerbooten.

Viel wurde geschrieben über die Suche nach dem verschollenen U-Boot. Aber nur wenig über dessen Mission, die von der Marineführung bis heute geheim gehalten wird. Weil keine Torpedos, aber Kampftaucher an Bord waren, vermuten Experten, dass die Besatzung Order hatte, die Flutlicht-Armada zu beobachten, zu filmen und zu fotografieren. Aus der Perspektive der Tintenfische. Und ging dabei verloren.

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Bis zu 200 nautische Meilen weit ins Meer erstreckt sich Argentiniens «ausschliessliche Wirtschaftszone», die «milla 200». Jener Streifen Meer, in der nur fischen darf, wem die Behörden eine Lizenz erteilt haben. Das sind die internationalen Regeln: Küstenanrainer haben die wirtschaftliche Kontrolle über die ersten 370 Kilometer Meer (200 nautische Meilen). Im Mar Argentino ist diese ökonomische Grenze in weiten Teilen auch eine natürliche. Sie verläuft entlang jenes Knicks, an dem der Festlandsschelf endet und der Meeresboden in die Tiefsee abbricht. Entlang dieser geologischen Nahtstelle fliesst der Malwinen-Strom, der Nährstoffe aus der Antarktis mit sich trägt. Das macht den Schelfbruch zu einem reich gedeckten Tisch. Zu einem Aufzuchtbecken für Phytoplankton, das Kleintiere und Fische ernährt. Das Kraftfutter für Illex argentinus.

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Warum springen Tintenfische? Zoologen streiten. Manche erklären die Sprünge als Fluchtreflexe. Andere vermuten, dass sie ihre Sätze über die Wellen machen, um auf langen Wanderungen Kraft zu sparen. Sicher ist, dass sie aus dem Meer schiessen, indem sie Wasser durch eine Trichteröffnung auspressen. Eine Art natürlicher Düsenantrieb.

Mit einer Mantellänge von maximal 33 Zentimetern zählt Illex argentinus zu den mittelgrossen Kalmaren. Eigentlich ernähren sie Pinguine, Raubfische, Robben, Zahnwale. Tatsächlich sind sie heute die am meisten gehandelte Tintenfischart weltweit. Sie landen ganz oder gehäutet, in Ringe geschnitten oder frittiert in den Supermärkten der Welt, von Hongkong bis Zürich. Auch die Migros hat Illex argentinus im Tiefkühl-Sortiment, sowohl in Tuben als auch in Ringform. Konkurrent Coop führt panierte Tintenfischkringel. Auf der Verpackung erfährt der Kunde: «Wildfang im Südwestatlantik».

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Der Lebensweg der Zehnfüssler ähnelt einer Ellipse. Er beginnt Hunderte Kilometer vor der Küste, etwa auf der Höhe von Buenos Aires, wo die Elterntiere Abermillionen Eier ablegen. Ihr Nachwuchs lässt sich dann von einer Strömung südwärts treiben. Diese Tour, beschirmt durch die argentinische Schonzeit, ein Fangverbot in Küstennähe zwischen September und Januar, endet etwa auf Höhe der Falklandinseln, jener sturmumtosten Steine, um die Argentinien und Grossbritannien 1982 Krieg führten. Dann drehen die Kalmarenschwärme wieder nach Norden ab, die submarinen Fressgründen abgrasend, die ihnen der Malwinen-Strom angerichtet hat, zurück zu den Laichplätzen. Doch so weit kommen die meisten nicht. Denn sie werden erwartet.

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«La pota» ist ein vulgäres spanisches Wort für den Kalmar. Poteros nennt man die Schiffe, die sich auf den Fang der Weichtiere spezialisiert haben. Mittelgrosse Kähne sind das, zwischen 40 und 60 Meter lang, die im Hafen liegend nur durch eine Besonderheit auffallen: die hochgeklappten Gitter an beiden Seiten des tiefliegenden Rumpfes. Auf hoher See werden die Matrosen diese Gitter vom Schiffsrand wegklappen, wie die Tentakel jener Tiere, die sie aus dem Meer ziehen sollen. Nur besitzen die Boote nicht 10 Fangarme wie ihre Beute, sondern 15, 20, bis zu 30 auf jeder Seite. An deren Enden drehen sich Rollen, über die lange Nylonschnüre geleitet werden, an denen längliche Plastikköder in die Tiefe gleiten, aufgefädelt in einem Abstand von wenigen Metern. An der Reling ziehen wetter- und salzwasserfeste Elektrowinden die Langleinen schliesslich im Ruckelzug nach oben, was die schon vom nächtlichen Licht elektrisierten Kalmare gänzlich verrückt werden lässt.

Ruckzuck gefrieren die Kalmare zur Commodity. Haltbar, stapelbar, «Wildfang aus dem Südwestatlantik».

Verhängnisvoll für die Tiere sind die Hakenkränze an der Unterseite der Köder, in denen sich ihre Fangarme verheddern. Und zum Verhängnis wird ihnen ihre Gefrässigkeit. Kalmare stürzen sich auf praktisch alles, was kleiner ist als sie und sich bewegt, bisweilen auch auf ihre Artgenossen. Nächtliche Filmaufnahmen von Poteros aus dem Südatlantik zeigen, wie im Schein von 300’000 Watt die Tintenfische an den Haken zappeln.

An Bord wandern die Tiere, nach Grössen sortiert und in Formbehälter geschichtet, ins Eis. Ruckzuck gefrieren die Kalmare zur Commodity. Haltbar, stapelbar, «Wildfang aus dem Südwestatlantik».

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Auch jetzt herrscht wieder Festbeleuchtung im Atlántico Sur. Zwischen Februar und Mai ist Hochsaison. Sämtliche Schiffe auf den Weltmeeren müssen ihre Positionsdaten senden, und so kann jede sehen, dass aktuell mehr als 450 Fischereischiffe im Südwestatlantik auf Fang gehen. Die meisten davon sind Poteros. Einige davon verbringen das gesamte Jahr vor der Küste Argentiniens, andere pendeln: zwischen den Fanggründen vor Peru, die zwischen September und November befischt werden dürfen, und jenen vor Argentinien, wo die Saison im Januar beginnt. Solange sie in internationalen Gewässern bleiben, ist das zumindest rechtlich nicht zu beanstanden.

Doch oft, meist nachts, schalten Kapitäne ihre Positionsmelder ab und fischen dort, wo sie es nicht dürfen: innerhalb von Argentiniens «zona económica exclusiva», der 200-Seemeilen-Zone. Dabei operieren sie zumeist in kleinen Verbänden, die koordiniert werden vom Boot mit der modernsten Radaranlage, die anschlägt, lange bevor die Patrouillenboote von Küstenwache oder Marine aufgetaucht sind.

Das funktioniert freilich nicht immer. Am 2. Februar 2017 überraschte die argentinische Küstenwache den spanischen Trawler Playa Pesmar Uno mit ausgelegten Netzen im argentinischen Hoheitsgebiet. Für die Besitzerin, eine Genossenschaft aus Vigo in Galizien, ist das teuer: Sie verliert den Fang, 320 Tonnen Seehecht, Aal und Kalmar, sowie eine ganze Weile lang das Schiff. Es wird so lange im Hafen von Comodoro Rivadavia bleiben müssen, bis etwa 500’000 Franken Strafe entrichtet werden. Und die Gebühren für die Hafennutzung und den Einsatz der Küstenwache.

Etwa 15 Prozent der Fangschiffe vor Argentinien stammen aus Spanien, sie bringen den Grossteil jener Kalmare an Land, die in Europa aufgetischt werden. Aber vier Fünftel der Armada stammen aus weiter entfernten Gestaden. Aus Südkorea, Taiwan und – vor allem – aus dem Land mit der hungrigsten Hochseeflotte der Welt: China.

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Buenos Aires, 15. März 2016. «Todesopfer gab es keine», liest ein Sprecher der argentinischen Küstenwache sein Statement in die Fernsehkameras, nüchtern, unbewegt. Einen Tag zuvor ist die Lu Yan Yuan Yu 010 gesunken. Warum? Das ist bis heute ein Rätsel. Die Küstenwache hatte das Fangschiff in den argentinischen Hoheitsgewässern überrascht und forderte, wie in internationalen Protokollen vorgeschrieben, die Chinesen auf beizudrehen. Doch der Kapitän reagierte nicht. Stattdessen schaltete er alle Lichter an Bord aus und steuerte ostwärts, Richtung offenes Meer. Die schnellere Prefecto Derbes hinterher.

Videoaufnahmen der Küstenwache zeigen, wie der Potero ansetzt, das gleich lange Patrouillenboot zu rammen. Wie zwei Polizisten das Maschinengewehr gegen das Fischereischiff abfeuern. Und wie die Argentinier vier Männer aus dem Wasser ziehen, nachdem sich etwa zwanzig auf ein anderes Schiff retten konnten, das der Lu Yan Yuan Yu 010 zu Hilfe kam. Unter den vier Verhafteten war der Kapitän. Hatten die Schüsse den 66 Meter langen Tintenfischfänger versenkt? Oder, wahrscheinlicher, erledigte die Besatzung das selbst, öffnete sie die Schotten, ehe sie in feuerroten Schwimmwesten ins Meer sprang?

Satelliten-Bild das viele Lichter vor der Küste von Argentinien zeigt
Satellitenaufnahmen der Nasa zeigen die rege Nachttätigkeit der Fischerboote vor der Küste Südamerikas (2012). NASA Earth Observatory/NOAA National Geophysical Data Center

Es war einer der seltenen Zugriffe. Gerade einmal drei Aufklärungsflugzeuge besitzt die Marine, allesamt mehr als 50 Jahre alt, um die knapp 5000 Kilometer lange Küste zu überwachen. Aktuell kann nur eines davon abheben. Das letzte tauchfähige U-Boot des Landes war die kürzlich gesunkene ARA San Juan. 1983 endete die blutige Militärdiktatur, angezettelt von den Generälen. Seither haben alle demokratischen Regierungen die Streitkräfte des Landes ausgehungert.

Das hat seinen Preis. Experten schätzen, dass die nächtlichen Eindringlinge jedes Jahr Meeresgetier im Wert von einer Milliarde Dollar aus den argentinischen Hoheitsgewässern stehlen.

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Puerto Madryn, 27. Dezember 2017. Seit langem reisen Menschen aus aller Welt in die patagonische Küstenstadt, um hier Wale zu beobachten. Doch an diesem Tag gibt es ein Alternativprogramm: Wer mag, kann zuschauen, wie in der Nähe des Hafens ein Schiff versenkt wird. Seit April 2015 lag die Hu Shun Yu 809 hier vertäut; die Küstenwache hatte das chinesische Schiff in der 200-Seemeilen-Zone überrascht und in den Hafen beordert. Dort sollte es bleiben, bis sein Besitzer, die Zhoushan Gangtai Ocean Fisheries Co., die Strafe entrichtet hatte.

Die Volksrepublik China hatte kein Interesse an dem Matrosen, der im Hafen verstorben war und seither im städtischen Leichenhaus liegt, tiefgekühlt wie ein Tintenfisch.

Doch der wollte den Kahn nicht auslösen, und niemand der Besitzer kümmerte sich um Offiziere und Matrosen, die zwischen Rost und Ratten auf dem eisigen Kahn ausharrten. Erst acht Monate später kreuzte ein chinesischer Funktionär mit Flugtickets auf und holte die Männer heim ins Reich der Mitte. Wobei der chinesische Staat, der an der Zhoushan Gangtai Ocean Fisheries Co. beteiligt ist, weder die Hafengebühren begleichen noch die Kosten für Demontage und Versenkung der Hu Shun Yu 809 übernehmen wollte. Und genauso wenig wollte die Volksrepublik jenen Matrosen abholen, der während der Warterei im Hafen gestorben war und seither im städtischen Leichenhaus liegt, tiefgekühlt wie ein Tintenfisch.

Nun versenkten die Argentinier das Schiff. Monatelang hatten Schweisser den morschen Kahn ausgeweidet, Motor, Tank sowie sämtliche Aufbauten demontiert. Zu guter Letzt zog ein Schlepper die leere 68-Meter-Karkasse vor die Küste, in Sichtweite eines Monuments für die Tehuelches, die Ureinwohner Patagoniens. Dort durfte der Kahn absaufen, um als künstliches Riff künftig Fische und Taucher zu erfreuen.

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Überhaupt sinken in dieser Weltgegend viele Schiffe. Die Suchaktion nach dem vermissten U-Boot brachte eine Erkenntnis an die Oberfläche: Der Südwestatlantik ist ein Schiffsfriedhof. In einem Radius von etwa 25 Kilometern stiessen die Echolote der Suchmannschaften auf sechs versenkte Boote. Nur eine dieser Havarien war den argentinischen Behörden bekannt.

Erfahrene «marineros» erklären den Schrottplatz unter See mit den hohen Wellen und den hohen Strafen. Experten wie Fernando Morales, früher Fregattenkapitän, heute Sachverständiger bei Seegerichten, sagt: «Seit Jahrzehnten kreuzen diese Wilderer nachts in unseren Gewässern und flüchten, sobald ein Schiff von uns auftaucht oder sie von wem auch immer gewarnt werden.» Doch manchmal seien die Patrouillenboote schneller. «Ehe sie verhaftet und womöglich zu einer Millionenstrafe verurteilt werden, lassen die Kapitäne lieber Besatzung und Fracht auf ein funktionstüchtiges Boot umladen und öffnen die Ventile. Bis zum Untergang bleiben zwei Stunden. Und oft zahlt auch noch die Versicherung.»

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Die Gier vor ihren Gestaden ist für die Argentinier ein Phänomen, das fast so alt ist wie ihr Land. 1825, gerade einmal 15 Jahre lang war man da unabhängig, kreuzte der erste Walfänger vor Patagonien auf. Mehr als hundert Jahre würde die Metzelei dauern, bis von den riesigen Walherden kaum noch ein Tier übrig war.

Man liess sie gewähren. Es hatte viele Gründe. Das Desinteresse der fleischvernarrten Argentinier an ihrem Meer. Der konstante Geldmangel eines Landes, das stets über seine Verhältnisse lebte. Beides mündete in Deals, die ähnlich trüb waren wie die aufgewühlten Wasser des Atlántico Sur. In den 1980er-Jahren erteilte man erst sowjetischen und bulgarischen Fangbooten Lizenzen, später spanischen und koreanischen Fischereischiffen. Sie leerten Argentiniens ausschliessliche Wirtschaftszone mit ihren Schleppnetzen. Die vorerst letzten Fanglizenzen vergab Präsident Kirchner 2005 an chinesische Firmen, nachdem sein Land nach dem Staatsbankrott von 2001 an den Finanzplätzen keinen Kredit mehr bekam.

Seit 2010 lässt das Land formell keine Ausländer mehr in seine Gewässer. Aber es liess zu, dass chinesische Konzerne argentinische Reedereien übernehmen. Heute fischen 67 Boote Tintenfisch unter der weiss-himmelblauen Flagge. Die drei argentinischen Schiffe, die in der Saison 2016 den besten Fang machten, hiessen: Xin Shi Ji 95, Xin Shi Ji 89 und Xin Shi Ji 91.

Das Arrangement gilt bis heute, auch unter dem liberalen Präsidenten Mauricio Macri. Der seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren ebenso vehement wie vergeblich versucht, Investorinnen nach Argentinien zu locken. Da kann er sich keinen Konflikt mit China leisten. Peking kauft das meiste Soja, liefert Eisenbahnen, baut Staudämme und Atomkraftwerke und betreibt eine Weltraumbasis in der Wüstenprovinz Neuquén. Die Chinesen sind wichtiger als die Tintenfische.

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Die Bilanz war alarmierend, und sie kam nicht von Umweltschützern. In ihrem im Mai 2017 veröffentlichten Jahresbericht für 2016 schreibt die CNFC Overseas Fisheries Co., Ltd, einer der wichtigen Fangkonzerne aus China: «In den letzten Jahren ist die Anzahl von chinesischen Fischerbooten in Südamerika massiv gestiegen, und das hat zu einem deutlichen Rückgang der Ressourcen geführt. Speziell vor Argentinien hat die Operationsdichte stark zugenommen, und der Wettbewerb wird ständig härter.»

Tatsächlich ist das Fernfischerei-Geschäft für CNFC nur noch rentabel, weil der chinesische Staat Millionen Dollar für Diesel zuschiesst. Laut Greenpeace verdankt Chinas Hochseeflotte 80 Prozent ihrer Gewinne diesen Subventionen, die sich allein zwischen 2006 und 2011 verzehnfacht hatten. Ohne Staatshilfen wäre der Raubzug längst ruinös.

Was der Konzern aus Peking bedauert, lässt sich mit Zahlen aus den argentinischen Hoheitsgewässern belegen: Zwischen Februar und August 2017 fingen die 67 Tintenfischfänger unter der weiss-himmelblauen Flagge knapp 100’000 Tonnen Illex argentinus. Vier Jahre zuvor war es fast doppelt so viel.

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Tanmen, Insel Hainan, Südchina, 8. April 2013. Es ist ein heisser Tag, drei Knöpfe weit hat er sein blaues Hemd geöffnet, als Staatspräsident Xi Jinping zu reden beginnt – und die Fischer von Tanmen zu Helden erklärt. Eines ihrer Boote war von der Polizei der Südseerepublik Palau beschossen worden, ein Fischer starb. Nun steht der Präsident von 1,3 Milliarden Menschen in ebendiesem Kahn und ruft: «Baut grössere Schiffe, fahrt weiter hinaus und holt grössere Fische!»

Blick ins Cockpit des Flugzeug, das über den Lichtfischern fliegt
Profitabel ist die Lichtfischerei nur, wenn die Schiffe jede Nacht im Südatlantik unterwegs sind. Clarín

Xi Jinpings Wille geschah. Zwischen 2014 und 2016 wuchs Chinas Flotte um 400 Schiffe. Jetzt werfen rund 2900 chinesische Kähne ihre Netze aus, die komplette EU hat nicht einmal 300 Trawler. Mit 40 Ländern hat China Fangkorporationen geschlossen, die den Zugang zu Hoheitsgewässern öffnen.

Derweil ist über die Hälfte des weltweiten Fischbestandes entweder überfischt oder zusammengebrochen. Seit 2014 wurden mindestens 97 Fälle von illegalem Fischfang durch 16 verschiedene chinesische Konzerne registriert. Ein Grossteil davon in den einst besonders reichen Gewässern des westlichen Afrika, wo Chinas Fischhunger inzwischen eine veritable Ernährungskrise ausgelöst hat. Die Schwärme aus Kleinfischen, die dereinst von Marokko bis nach Sierra Leone zogen, gelangen heute nur noch bis in die Netze vor Mauretanien. Dort betreiben chinesische Konzerne 20 Fabriken, in denen sie sämtliches Meergetier zu Tierfutter zermahlen. Der Senegal, ein Land, in dem Fisch so wichtig ist, dass er sogar die nationalen Geldscheine ziert, ist heute einer der Hauptgeneratoren des Migrationsstroms über das Mittelmeer, nachdem sich die Supermacht aus dem Osten die Proteinquellen der Senegalesen einverleibt hat. Früher bezog das Land 80 Prozent seines Eiweissbedarfs aus dem Meer. Heute ist dieses Meer fast leer.

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Kaum eine Weltgegend liegt weiter entfernt von der chinesischen Küste als Patagonien. Mehr als 20’000 Kilometer müssten Fischer aus Fujian zurücklegen, ehe sie ihre Ausbeute daheim abladen könnten. Kein Tintenfisch der Welt ist zart genug, um einen solchen Aufwand zu rechtfertigen. Keine Dieselsubvention könnte derartige Spritkosten und einen solchen Zeitverlust ausgleichen. Profitabel ist die Lichtfischerei am Ende der Welt nur dann, wenn die Boote ständig im Südatlantik bleiben und ihre Seilwinden jede Nacht zucken, Wetter hin, Schonzeit her. Wenn nicht die gesamte Ausbeute in den offiziellen Fangstatistiken auftaucht, sondern ohne Steuerabzug weiterverkauft werden kann. Chinas Raubzug vor Patagonien wäre längst ruinös, wenn ihn der chinesische Staat nicht subventionieren würde. Und wenn man nicht einen willigen Helfer hätte.

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Es sind Kähne wie die Hai Feng 648, die den Betrieb an der 200-Meilen-Zone am Laufen halten. Als sie 1988 im japanischen Hakodate-Dock vom Stapel lief, war sie ein Kühlschiff auf dem modernsten Stand. Heute, im Zeitalter der Post-Panama-Klassen, ist die Hai Feng 648 zu kurz, zu lahm und zu alt für den legalen Welthandel. Auf Satellitenfotos, die von der NGO Global Fishing Watch ins Netz gestellt wurden, ist zu sehen, wie das Schiff, im Besitz der China National Fisheries Group, nun Geld verdient. Seite an Seite liegt sie da auf hoher See mit einem nicht identifizierten Tintenfischfänger.

Transshipping heissen im Fachjargon der Meereskundlerinnen verdächtige Umlademanöver wie jenes vom 30. November 2016. Wahrscheinlich Illex gegen Diesel, Lebensmittel und womöglich auch frisches Personal. Abgewickelt jenseits der Jurisdiktion Argentiniens und nur formell unter jener Panamas, dessen Flagge am Heck des Schiffes weht.

Transshipping ist formell kein Delikt. Doch in dem legalen Vakuum, in dem diese Kühlkähne operieren, ist vieles vorstellbar: Schmuggel, Prostitution, Menschenhandel, Waffen- und Drogendeals. Und weil sich vieles von dem Vorstellbaren zugetragen hat, lassen viele Staaten diese «Reefer» nicht anlanden. Darunter Chile, Argentinien und Brasilien. Im südlichen Amerika gibt es nur einen Hafen, der sie einlässt: Montevideo.

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Neun Tage nachdem die Hai Feng 648 an der «milla 200» fotografiert wurde, lief sie in Uruguays Hauptstadt ein. Man kann vermuten, dass sie dort Nachschub für die Lichtfischer einlud. «Ziemlich sicher hat sie auch illegalen Illex argentinus abgeladen, der dann als ‹producto uruguayo› exportiert wurde.» Das sagt Milko Schvartzman, ein argentinischer Ozeanologe, der solche Transfers im Hafen von Montevideo selbst beobachtet hat. Vor zwei Jahren begann er, die Kühlschiffe im «mar argentino» zu verfolgen. Anhand der elektronischen Positionsdaten erkannte er, dass fast alle Versorgungsschiffe, die er an der «milla 200» beobachtete, früher oder später in Montevideo einliefen.

«Uruguay liefert die Logistik für die Verwüstung des Südwestatlantiks.»

Im März 2017 präsentierte die internationale Plattform Global Fishing Watch, die vom Datengiganten Google unterstützt wird, eine auf Satellitendaten basierende Analyse sämtlicher Häfen, die Reefers Einlass gewähren. Darin war Montevideo die Nummer zwei in der Welt. «Von den 1400 Fischereischiffen, die hier im Jahr einlaufen, sind 200 illegal», sagt Schvartzman und summiert: «Uruguay liefert die Logistik für die Verwüstung des Südwestatlantiks.»

Die Regierung in Montevideo hat nun schärfere Kontrollen angekündigt, alle Schiffe sollen sich 72 Stunden vor Einlaufen klar identifizieren. Aber der Hafen bleibe offen. «Wenn wir die Profite nicht machen, dann holt die sich ein anderer», erklärte der zuständige Funktionär der Tageszeitung «El País» aus Montevideo.

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Das Branchenportal «Undercurrent News» meldet aus Peking, die Nachfrage nach Illex argentinus sei stabil, obwohl die Preise allein im letzten Jahr um 50 Prozent gestiegen sind. Es gibt weltweit keinen Bestand mehr, der die Rückgänge im Südwestatlantik kompensieren könnte. Vor allem Händler aus Japan, Korea und Thailand verlangten ständig Nachschub und zahlten klaglos. China ist nicht nur der grösste Konsument von Kalmaren, es ist auch deren wichtigster Exporteur.

Die Welt, immer wohlhabender, immer gesundheitsbewusster, verlangt nach ständig mehr Fisch. Aber sie hat immer weniger davon.

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Womöglich gibt es noch zwei Funken Hoffnung für die Spezies Illex argentinus. Einer kommt aus Peking und der andere aus Concordia. In Chinas Kapitale kündigte die Fischereibehörde unter internationalem Druck an, die Dieselsubventionen für ihre Flotte bis 2019 um 60 Prozent herunterzufahren. Und in der argentinischen Grenzstadt am Río Uruguay arbeitet der Ozeanologe Milko Schvartzman, unterstützt von potenten internationalen Geldgebern, eine internationale Kampagne gegen die Hafenmafia von Montevideo aus. Er sagt: «Wenn Uruguay endlich dichtmachte, dann wäre Illex argentinus für die Asiaten kein Geschäft mehr.»

Making-of der Tintenfisch-Saga

Diese Geschichte begann am Grill. Als Autor Andreas Fink vor fast genau elf Jahren nach Buenos Aires kam, machte er bald zwei erstaunliche Beobachtungen: Das Fleisch in Argentinien war mittelmässig bis miserabel. Aber der Fisch vorzüglich und variantenreich.

Natürlich musste er ein wenig experimentieren mit diesem Meeresgetier, denn die meisten Arten des Südatlantiks kommen ja auf der Nordhalbkugel nicht vor. All die Barben, Barsche, Brassen und Aale schienen, appetitlich angerichtet, in der Fischhandlung allein auf ihn zu warten, denn die argentinischen Kundinnen starrten ihn stets fassungslos an, wenn er diese Tiere ganz erstand.

«Und was machen Sie jetzt mit dem?» Diese Frage wurde ihm immer und immer wieder gestellt, zumeist von älteren Damen, die den Verkäufer um Filets baten, er solle doch, bitte, bitte, «nicht so stark abschmecken». Allmählich begriff Fink: Fisch ist den Argentiniern bestenfalls wurscht. Oder gar ein Graus. Die einen ekeln sich vor dem Geruch, andere ängstigen sich vor Gräten. Die einzigen Verbündeten der Fischhändler sind die Kardiologen, der Altersschnitt der Kunden in Finks Stamm-«pescadería» liegt bei solide über 60. Die Jungen lieben Asado und stören sich kein bisschen an dem Gedanken, dass jene Rinder und Hühner, mit deren Fleisch sie sich vollstopfen, mit giftgetränktem Gensoja gross und zart wurden. Als Andreas Fink aufging, dass die in Argentinien verkauften Entrecotes und Poulets – anders als die allein für den Export produzierten Weidemast-Steaks – nur für die Sondermülldeponie geeignet sind, führte ihn die Suche nach einem Ausweg ins Netz.

Auf den Seiten des nationalen Fischereiforschungszentrums fand er alle Details zu der Fauna, die ihn in der Fischhandlung erwartete. Und auf den Seiten von in Argentinien ziemlich marginalisierten Umweltschützern fand er auch vereinzelte Berichte über die Zustände an der «milla 200», der 200-Seemeilen-Zone (370 Kilometer), die sich mit den Jahren mehrten. Wie vielschichtig das Thema ist, verstand Fink, nachdem zwei Serien über die Exzesse auf hoher See erschienen waren. Die erste recherchierte 2012 ein Team des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), die zweite 2015 der «New York Times»-Reporter Ian Urbina.

Andreas Fink wurde klar, dass er hier eine grosse Geschichte vor der Haustür hatte. Gehandelt und goutiert rund um den Erdball, ist die Spezies Illex argentinus gewiss ein Symbol für die Auswüchse der Globalisierung.

Trotzdem fehlte zweierlei: ein Anlass und ein Medium, das diesem Thema mehr Platz einräumen würde als einen Zweispalter im Vermischten. Beides kam nun zusammen. Im Oktober verschwand das U-Boot ARA San Juan. Und es entstand die Republik.