Die Melancholie der Killercops
Rodrigo Duterte ist angetreten, auf den Philippinen das Böse auszurotten. Tausende Dealer haben seine Polizisten hingerichtet. Die Menschen jubeln. Doch Nino Cerrado, Offizier in Manilas Anti-Drogen-Einheit, plagen Schuldgefühle.
Von Benedict Wermter, 26.02.2018
1. Kapitel: Wo ist Nino Cerrado?
Sie stürmen aufeinander los. Muskelmasse klatscht, Zähne blitzen. Sie fassen zu, zerren, knurren und reissen. Als sie sich ineinander verbissen haben, sich nicht mehr auf dem Boden rollen, treten die Trainer heran, mit Macheten in den Händen, und schieben den Hunden die Klingen von der Seite in die Lefzen. Da lassen die beiden Pitbulls kurz los, ehe sie von neuem übereinander herfallen. Blut quillt aus ihren Fellen, und in der schwülen Luft hängt der Geruch von warmem Eisen und Hundescheisse.
Es ist Samstag. Ein nasses Flachdach ist von Stacheldraht umgeben und mit einer Plane in Tarnfarben verkleidet, damit die Nachbarn nichts sehen. In der Mitte: eine Arena aus aufgestellten Paletten und ausgelegtem Industrieteppich. Gerade geht die Sonne unter, und die alten, mit Stuck verzierten Häuserfassaden des Viertels strahlen, während zwei Dutzend Männer hier oben mit leuchtenden Augen und Zigarettenstummel im Mundwinkel zusehen, wie die Hunde immer wieder aufeinander lospreschen.
Die Trainer schleichen in der Hocke um ihre Schützlinge, und wenn einer der Hunde den anderen unter sich begräbt, ihm in die Gelenke und den Hals beisst, schlagen die Trainer mit der flachen Hand auf den Boden: «Los, los, los, komm, komm, komm.» Dann ziehen die Männer an den Paletten ihre klobigen Smartphones aus den Badehosen und machen Fotos – obwohl sie das eigentlich nicht dürfen. Dann rufen sie die Namen der Hunde: «Guter Junge, Hunter. Guter Junge, Evil.» Irgendwann packt einer der Trainer seinen Pitbull im Nacken, trägt ihn aus dem Ring, und spritzt den Hund, dem die Zunge gleich aus dem Maul zu fallen scheint, in einer Ecke mit einem Gartenschlauch ab.
Nino Cerrado war es, der den Pitbull-Kampf organisiert hat. Auch wenn das verboten ist. Nachmittags hatte er alle angerufen: einen seiner Brüder, der den Kampf filmen soll. Seinen Züchter, damit der die Hunde nacheinander in diesen Stadtteil fährt. Den Jungen, der die Hunde trainiert und der den unerfahrenen Welpen anfeuern soll. Drei Pitbulls besitzt Cerrado, und an diesem frühen Abend treten seine Hunde gegen einen Stall aus dem Nachbarviertel an. Zum Training. Gewettet wird ein anderes Mal. Dann ziehen sich die Hundekämpfe bis zu drei Stunden hin, und wenn einer seiner Pitbulls verliert, lassen Cerrado und seine Leute sie manchmal sterben. Ehre geht vor.
Doch Nino Cerrado kommt an diesem Tag nicht. Er hat zu tun. Woanders. Eigentlich heisst er anders, aber sein richtiger Name kann hier nicht stehen. Und er will auf keinen Fall fotografiert werden oder einen Fotografen mit dabei haben. Nino Cerrado ist ein bulliger Alpha-Typ, Mitte dreissig. Kurz rasierte Haare, durchgedrückter Rücken, Unterhemd. Vor seinem Schritt hängt eine schwarze Hüfttasche, in der er stets ein Bündel mit Hundert-Peso-Noten aufbewahrt. Wo er in diesem Moment ist, wissen nur wenige. Sieht er gerade in seinem Auto zu, wie einer seiner Kollegen einem Dealer eine Waffe an den Kopf hält? Oder sitzt er in seinem Auto und isst mit seiner Tochter Eis? Nino Cerrado, Offizier in Manilas Anti-Drogen-Einheit, von der es heisst, sie habe Tausende Dealer hingerichtet.
2. Kapitel: Und dann kam Rodrigo Duterte
Manila, die Bronx Asiens. Sommer 2017. Tagsüber verschwindet hier die Skyline hinter Smog. In den Hochhäusern sitzen Hunderttausende Call-Center-Agents, die sich nach Feierabend durch den niemals endenden Stau in die Einkaufszentren quälen. Das andere Manila trägt Plastiklatschen, lebt in Slums, geht anschaffen und ernährt sich bisweilen von Essensresten auf den Tabletts der Fast-Food-Ketten. Und dann kam Rodrigo Duterte.
Gleich nachdem er im Sommer 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, startete er die Operation «Anklopfen und nachfragen», die unter Filipinas Oplan Tokhang heisst. Wer Drogen nahm und wer dealte, musste bei den Behörden vorsprechen und sich registrieren lassen. Musste «aufgeben», so nannte es Duterte. Musste schwören, nichts mehr zu schnupfen, zu spritzen, zu rauchen, musste versprechen, nie wieder zu dealen. Sollte im Gegenzug einen Therapieplatz erhalten. Die Namenslisten der Konsumentinnen und Dealer gingen auch an die philippinische Nationalpolizei, die PNP. Deren Offiziere machten sich auf in die Elendsviertel, klopften an die Türen, um nachzufragen, ob der Schwur auch eingehalten wurde. Und das Sterben begann.
Einige lagen in ihrem Blut auf der Strasse, ihre Köpfe in Paketband eingeklebt, vor ihnen Pappschilder: «Ich bin ein Dealer.» Andere erwischte es zu Hause, in ihren Hütten, ganze Familien wurden ausgelöscht. Im ersten halben Jahr starben etwa 7000 Menschen aus dem Drogenmilieu, die Hälfte von ihnen durch Polizeioperationen. Bei der anderen Hälfte ist unklar, wer die Mörder sind. Vier Millionen Filipinos sollen von Shabu abhängig sein, so heisst Methamphetamin hier, also Crystal Meth.
Die Nationalpolizei PNP sagt, stets hätten die Dealer das Feuer eröffnet, wenn die Polizisten anklopften und nachfragten. Immer fanden die Beamten Waffen und Drogen bei den Erschossenen. Zufall? Anfangs gab die PNP stolz die Zahlen getöteter Verdächtiger bekannt, riefen die Presseoffiziere TV-Journalisten an und luden sie ein an die Tatorte. Jeder sollte sehen, wie gnadenlos die Regierung gegen Verbrecher vorgeht. Doch das änderte sich bald.
Denn international gab es einen Aufschrei: Der Uno-Menschenrechtsrat verlangte, die philippinische Regierung müsse den Drogenkrieg sofort stoppen. Die EU sah deswegen ihren Handel mit den Philippinen in Gefahr. Die Regierung wies alle Anschuldigungen zurück: Die Zahl der Getöteten seien «alternative Fakten». Und Gelder der EU brauche man ohnehin nicht. Das Töten ging weiter, nur leiser. Die Polizisten begannen, ihre Aktionen zu verschleiern. Krankenwagen statt Leichenwagen sammelten Tote ein, sie flossen in eine andere Statistik, im Krankenhaus hiess es nicht mehr «erschossen», sondern «dead on arrival» – tot bei Ankunft.
Bis heute kann niemand mit Sicherheit sagen, wer wen warum umgebracht hat. Waren es Polizisten in Zivil? Waren es durch Polizisten angeheuerte Killer? Trittbrettfahrer? Gangs, die die Gelegenheit nutzten und alte Rechnungen beglichen? Korrupte Polizisten, die ihrerseits Rechnungen offen hatten? Oder folgte alles einem Plan, entworfen im Präsidentenpalast?
Nur eines steht fest: Der Tod zog ein in die Elendsviertel. So, wie es Rodrigo Duterte angekündigt hatte, bevor er gewählt wurde: «Falls ich als Präsidentschaftskandidat antrete, sage ich euch Filipinos, wählt mich nicht, denn es wird blutig sein.» So kokettierte er mit seiner gewalttätigen Drogenpolitik in einem TV-Interview im August 2015.
3. Kapitel: Der Geruch von Blut
Eine Woche nach dem Hundekampf, wieder Samstag. Die Türme der Banken und Hotels kratzen an den grauen Smogwolken, in den Seitenstrassen drängen sich Dutzende kleine, rote Bars, vor denen auch tagsüber Frauen an der Hauswand lehnen. Es ist eines der Rotlichtviertel Manilas. Hier beginnt das Reich von Nino Cerrado. Jeder kennt ihn hier, den Alpha-Bullen, sie fürchten ihn. Wenn er die Bars mit seinen zahnpastaweissen Turnschuhen passiert, dann treten Ladyboys, Dealer und zweifelhafte Physiotherapeutinnen zurück, als wollten sie eine Gasse bilden. Niemand hält seinem Blick stand. Niemand bietet mehr eine Massage an. Auch kein Viagra mehr für die feisten, weissen Herren, die hier «Sir» gerufen werden. Oder «Boss».
Einen guten Kilometer weiter biegt Cerrado in eine Strasse, ein verwinkeltes Gemenge aus Bruchbuden ineinander gebundener Bananenkartons mit Wellblechdach und Tonnen von Kabelsalat darüber. Auch das ist noch sein Viertel, er wohnt nicht weit von hier. Es dauert nicht lange, bis eine Traube von Kindern herangelaufen kommt, die unentwegt «Nino, Nino» rufen und an seinen Hosenbeinen zupfen. «Weil ich Polizeioffizier bin», sagt Cerrado, die Kinder ignoriert er.
Als es an diesem Samstag Nacht wird, dreht ein Schweinekopf auf einem Grill seine Runden, beaufsichtigt von einem Mann mit Glatze. Die ganze Strasse sitzt auf Plastikbänken dahinter, nüchtern ist hier niemand mehr. «Setz dich, ich will dich unterhalten, mein Freund», sagt Nino Cerrado. Seine Wangen glühen vom Starkbier.
«Ja, wir Filipinos lieben Kämpfe», holt er aus, «wir lassen nicht nur Hähne und Hunde kämpfen, auch Spinnen oder Kleinwüchsige in Ölbecken.» Er sei Strassenkämpfer gewesen, bevor er Polizist wurde. Sein erster Besuch im Ausland? Er fuhr zu einem organisierten Streetfight in Thailand.
Irgendwann dreht sich der Schweinekopf nicht mehr, dafür gibt es noch mehr Gin, Rum und Brandy. Cerrado sagt: «Der da ist auch ein Polizeioffizier», und zeigt auf den Glatzkopf vom Grill. Der tritt zurück, hebt sein Trikot über den Bierbauch, der Knauf einer Waffe lugt aus der Jogginghose. Er grinst. Der dahinten sei auch Polizeioffizier. Noch mehr Wortfetzen. Duterte der beste Präsident aller Zeiten. Es riecht nach gerösteten Erdnüssen und Schnaps.
«Komm auf unsere Wache, wenn du den Geruch von Blut ertragen kannst, mein Freund», sagt Nino Cerrado irgendwann, er lacht, alle lachen mit, und die breite Hand im Nacken drückt zu.
4. Kapitel: Es scheint, als schrumpfe er
Am nächsten Morgen sind die Strassen leerer als sonst. An den Kirchen hängen Lautsprecher, die Sonntagspredigten der Priester hallen durch das Viertel. Den ganzen Tag über betrinkt sich Cerrado in der Hütte seines Freundes Mario, einige Strassen entfernt, zusammen mit einem halben Dutzend Brüdern und Nachbarn, die alle kein Englisch sprechen, denn das steht nur in Schulbüchern. Im Innenhof krähen Hähne, die in Käfigen aus Korb hocken. Es sind Kampfhähne, die Mario für Cerrado züchtet.
Als es dunkel wird, ist Cerrado ordentlich betrunken. Doch selbstverständlich fährt er die paar Meter zu einem Restaurant. Cerrado steigt ein in seinen weissen Toyota mit silbernen Alufelgen und versteckt seine verchromte Dienstwaffe – made in Israel – unter dem Beifahrersitz. Als er einige Strassen weiter aussteigt, muss er tief durchatmen, er torkelt leicht, und seine Wangen glühen weiter. In dem Imbiss mit den offenen Schaufenstern sitzen drei Männer mit ihren Frauen an einem Plastiktisch. Es sind Kollegen, Polizisten wie er, sie gehören der Anti-Drogen-Einheit des Nachbarviertels an.
Der erste ist ein Fettsack mit schwarzem Hemd, der sich seine Hüfttasche um die Brust geschnürt hat und in Badelatschen gekommen ist. Nennen wir ihn PO1, denn er ist Polizeioffizier im Rang 1. Daneben sitzt ein Idiot mit Überbiss, kleinem Pflaster auf der Stirn und goldenem Muster auf blauem Muskelhemd, er ist Polizeioffizier im Rang 2, PO2. Zwischen PO1 und PO2 sitzt ein kleiner Mann, der unentwegt aus seinen engen Augen starrt. Sein Lächeln ist eine konstant in der Luft liegende Frage. Neben diesen Männern sitzen ihre Frauen. Cerrado bestellt Bier für alle, und dann reden sie durcheinander, bald reden sie immer lauter, immer schneller. Jeder will dabei den anderen mit seinem Lachen übertrumpfen. Und ihre Frauen hören zu und lachen mit.
Unvermittelt sagt PO1, der Fettsack, auf Englisch: «Wir sind die PNP, mein Freund.» Die Nationalpolizei!
PO2 fällt ein: «Wir klopfen an. Wir kommen auf den Motorrädern zu dir und …» Er bringt den Satz nicht zu Ende, aber sein Zeige- und Mittelfinger formen eine Pistole, die auf Stirnhöhe durch den Raum zielt.
PO2 zeigt auf PO1, den Fettsack. «Der kommt nicht, er ist zu dick, um hinten zu sitzen und zu schiessen. Das Moped ist zu langsam mit ihm.»
Sie lachen grölend, am lautesten lacht Cerrado.
Das will PO1 nicht auf sich sitzen lassen, der Fettsack, und so gibt auch er an: «Manchmal holen wir sie ab und bringen sie auf die Wache. Wenn wir mit ihnen fertig sind, stapeln wir sie so hoch wie fünf Autoreifen übereinander. Und dann brennen sie.» Seine Frau zischt und packt ihn am Knie, die Bedienung hört weg, die Leute am Nebentisch auch.
Cerrado holt das Bündel Peso-Noten aus der Tasche und bestellt: kleine frittierte Fische, Entenembryos noch in der Schale, süss eingelegte Schweineinnereien. Gerichte über Gerichte, Hauptsache, viel. Als das Essen kommt, reden sie weiter durcheinander auf Tagalog, der Sprache der Filipinos, und lachen wieder laut auf, wobei ihnen fast die Schweineinnereien aus den Mündern fallen.
PO2 schlägt dem Mann mit den engen Augen auf die Schulter, der bis jetzt stumm, aber grinsend dagesessen hat. «Er ist der Fahrer. Ein Cousin meiner Frau. Unser bester Mann.» Und dann kommt das einzige Wort, das der Mann mit den eng stehenden Augen an diesem Abend sagt: «Intelligence.» Er ist der Spitzel der beiden Offiziere.
Cerrado wippt mit dem Bein, schon länger. Er hat kaum etwas gegessen, seine Wangen tauen ab. Dann verabschiedet er sich knapp, steigt in seinen Wagen und fährt los, er will nach Hause, ins Bett. Schweigend kurvt er durch sein Viertel, eine Hand am Lenkrad. Zerlumpte Familien ziehen vorbei, andere schlafen auf einem Stück Pappe am Strassenrand, obdachlose Frauen sitzen auf dem Gehsteig und stillen ihr Baby, ein vernarbter Hund sucht im Müll nach Futter und zieht eine Kette hinter sich her.
Plötzlich hebt Cerrado die Augenbrauen. «Einmal ist eine Mutter bei uns auf die Wache gekommen und sagte, ein Kerl habe ihre Tochter vergewaltigt», bricht es aus ihm heraus. «Wir alle wussten gleich, wer das war. Sofort sind wir hinausgefahren zum Haus des Vergewaltigers und haben ihn geholt. Als er bei uns auf der Wache war, hat ein Kollege ihm in den Nacken geschossen, von oben.» So zerfetzt die Kugel erst den Rumpf und tritt am Becken wieder aus, eine todsichere Methode. Trotzdem hätten sie ihm danach noch in den Kopf geschossen. Sicher ist sicher.
«Was würdest du tun, mein Freund, wenn du weisst, dass er im Stadtgefängnis die Wärter besticht und wieder in unser Viertel kommt?»
Pause. Es scheint, als schrumpfe der Alpha-Kerl im Schatten der Nacht in seinem Autositz zusammen, grübelnd, berührt. «Ich bin nicht stolz auf das, was wir tun», murmelt er schliesslich.
5. Kapitel: Politik als Farce?
Es sind unruhige Zeiten angebrochen auf den Philippinen, und die Frage ist, was das zu bedeuten hat. Sinkt das Land zurück in die blutigen Jahre der Marcos-Diktatur, die 1972 das Kriegsrecht verhängte und bis 1986 Zehntausende Oppositionelle in den Kerkern der Gefängnisse verrotten liess? Oder ist es ganz anders? Erholt sich der Inselstaat endlich von Korruption und Ineffizienz? Nach all den Jahren, in denen die Herrschenden und ihre westlichen Partner das Land ausplünderten und niemand ihnen Einhalt gebot – bis eben jener Rodrigo Duterte an die Macht kam?
Im Ausland mag man entsetzt sein über den Blutrausch des Präsidenten. Die Filipinas aber feiern ihn. Endlich bekämpft jemand das Verbrechen und stellt sich gegen die Oligarchen, jene Handvoll Familien, die das Land nach der spanischen und der amerikanischen Kolonialzeit unter sich aufteilten und gemeinsam plünderten. Man sieht Duterte-Autoaufkleber, Duterte-Armreife, Duterte-Hundehalsbänder, Duterte als Pappfigur, die in den Hotelfoyers grüsst. Und im Smog binden sich die Fussgängerinnen einen Duterte-Mundschutz vors Gesicht.
Duterte hat ja tatsächlich gehandelt, kaum war er an der Macht. Er unterschrieb ein Gesetz, Schulunterricht soll bald gratis sein. Er will ein Informationsfreiheitsgesetz durchsetzen, das Behörden transparenter machen soll. Will die Homo-Ehe erlauben. Will Elektromotoren in Sammeltaxis einbauen lassen, in ausgediente amerikanische Militärfahrzeuge, stinkende Jeepneys. Immer wieder nahm er Anläufe, den Konflikt im Süden des Landes zu befrieden, zwischen Muslimen, Kommunisten und Indigenen. Und die Menschen lieben ihn dafür. Achtzig Prozent der Filipinos unterstützen seine Politik, fand kürzlich das Umfrageinstitut Pulse Asia heraus.
Über zwanzig Jahre war Duterte Bürgermeister von Davao, einer Millionenstadt auf der Insel Mindanao, im Süden der Philippinen. Er verwandelte die Metropole, wohl unter dem Einsatz von Todesschwadronen, in eine Art Singapur des Südens: Es gibt wenig Kriminalität in der Stadt. Das Davao Death Squad soll allerdings über tausend Verdächtige getötet haben. Seine harte Hand brachte Duterte allerlei Spitznamen ein: «Duterte Harry», frei nach Dirty Harry, dem Killercop aus Hollywood. Oder «Punisher», nach einer anderen Comic- und Filmfigur. Heute regiert seine Tochter die Stadt. Und beide bestreiten, dass sie etwas mit der Todesschwadron zu tun haben. Was kaum einer auf den Philippinen glaubt.
Seit dieser Mann Präsident ist, wurden 1,3 Millionen Menschen polizeilich erfasst, die sich dem Drogenmilieu zuschreiben. Weiter passiert ist mit vielen dieser Menschen erst mal nichts. Es gibt nicht genügend Therapieprogramme. Gina Hechanova, Psychologie-Professorin an Manilas Universität, sagt, die meisten Konsumenten wiesen ein niedriges Abhängigkeitspotenzial auf und seien eigentlich gut zu therapieren. Doch herrsche bei den Behörden grosses Unwissen über Drogenkonsum. «Die Behörden sind ungeduldig, wenn es um Rehabilitation geht.» Sie hat eine Organisation gegründet, die den Beamten erklären will, dass Abhängigkeit zuallererst ein Gesundheitsproblem ist. «Dass sich dieses Problem nur gemeinsam lösen lässt. Mit dem Süchtigen, seiner Familie, seiner Nachbarschaft – und der Polizei.»
Sie dringt damit kaum durch. Gerade die Masse der armen Filipinas will Politik endlich spüren, koste es, was es wolle. Zum ersten Mal erleben sie – und sei es auch als Farce – einen Präsidenten, der durchgreift. Der sich nicht die Taschen füllt, sondern möglicherweise das Gemeinwohl im Blick zu haben scheint. Und so tauschen diese Filipinos ihre Freiheit ein gegen ein Gefühl von Sicherheit. Auch wenn niemand weiss, wo die PNP als Nächstes klopft.
6. Kapitel: Mord verjährt nie
An einem Sonntag, einige Wochen später, stürmt Nino Cerrado mittags aus seinem Haus, den Rucksack geschultert, seine Dienstwaffe in der Hand. Er steigt in seinen Toyota, den eben noch einer seiner Lakaien blank gewienert hat, wieder verschwindet die Waffe unter dem Beifahrersitz. Dann fährt er los, seine Tochter Princess abholen. Sie ist vier Jahre alt und lebt bei ihrer Mutter.
Fast eine Stunde dauert die Fahrt, und das, obwohl sonntags wenig Verkehr ist. Aus Plattenbauten werden Wellblechhütten, vor denen Fahrradtaxis stehen. Cerrado schweigt, wie immer, wenn er noch nichts getrunken hat. Schliesslich parkiert er vor einem Basketballplatz, wo ein paar Halbwüchsige zu Korblegern hochsteigen, und geht zu einer Hütte, vor der eine Schar singender Frauen und Kinder um einen Karaoke-Automaten steht.
Dort empfängt ihn seine Ex-Frau, Princess’ Mutter, eine kleine, dralle Frau mit chinesischen Gesichtszügen. Princess lugt aus der Tür, traut sich aber noch nicht heraus. Cerrado zückt zwei Scheine aus seinem Peso-Bündel und steckt sie seiner Ex zu. Sie protestiert. Das genüge nicht. Sie brauche mehr. Er gibt etwas verlegen nach, also noch einen Schein. Schliesslich kommt Princess vor die Tür. Ihre Schneidezähne sind ausgefallen, sie trägt ein pinkfarbenes Hemdchen.
Gemächlich hebt Nino Cerrado seine Tochter auf die Rückbank seines Autos. «Wir verstehen uns blendend», sagt er dann über sich und seine Ex-Frau. Und knallt die Tür des Toyotas zu. Unterwegs setzt sich Princess die Polizeimütze ihres Vaters auf. Wieder schweigt Cerrado, bald parkiert er vor einer Shopping-Mall, nimmt Princess an die Hand und läuft los. Er kauft ihr kross gerösteten Schweinedarm, ehe sie ins Kinderparadies gehen, eine wütend laute Sammlung von elektrischen Schaukelpferden, Greifarmen und Basketball-Wurfautomaten, er setzt seine Tochter auf ein lila Schaukelpferd mit weissem Schweif und wirft einen Peso ein.
Das Pferd und Princess schaukeln monoton hin und her, vor und zurück, vor und zurück. Cerrado starrt Princess an. Plötzlich sagt er: «Welchem Menschen macht es Spass, jemanden zu töten? Nur einem Sadisten, oder? Die gibt es überall. Wie bei den Nazis damals.» Sein Blick bleibt starr auf seiner Tochter. Als das Pferd aufhört zu schaukeln, nimmt er die Kleine vom Schaukelpferd und dreht sich um: «Aber es ist sinnloses Töten.»
Abends sitzt Cerrado unten in seiner Wohnung auf der Couch, seine Eltern wohnen über ihm. Die Decken sind hoch, der Boden ist aus massivem Holz, im Wohnzimmer formen Flachbild-Fernseher, Computer und Musikanlage den Altar des sozialen Aufstiegs auf den Philippinen. Einer seiner Diener kommt von oben, er sass bei den Eltern, nimmt ein paar Scheine aus Cerrados Peso-Bündel entgegen. Bier holen.
Nicht lange, da laufen Cerrados Wangen wieder rot an. Er legt Metallica auf, danach Slayer, hohe Lautstärke. Dann fragt er, ob Polizisten in Deutschland auch korrupt seien. Oder was passiert, wenn jemand einen Stein Shabu, also Crystal, in der Tasche hat? Plötzlich steht er auf und holt eine DVD aus einem Schrank. Es sind verblasste Aufnahmen, vielleicht fünfzehn Jahre alt, sein Vater hat von einer Tribüne über Köpfe hinweg gefilmt, wie im Innenraum eines Stadions junge Männer in Turnzeug auf allen vieren über den Rasen kriechen. Offiziere beugen sich zu ihnen hinunter und brüllen etwas. Tritte, Hiebe.
«Siehst du den da? Das bin ich.» Er zeigt auf einen Glatzkopf zwischen anderen, die Liegestütz machen. «Wie sie mir den Kopf vorher rasiert haben. Wie ich grinse. Die anderen haben gekotzt. Ich habe mir gedacht, es ist nur ein Tag, ich werde es überleben. Mein erster Tag bei der Polizei.» Er geht wieder an den Schrank, etwas tapsig. Holt einen Stapel Unterlagen raus, drei Finger dicke, gelbe Mappen, bestimmt dreissig Stück.
«Zuletzt war ich der Dirigent. Ich habe ‹buy busts› inszeniert.» Also inszenierte Käufe. «Wir haben Informationen über einen Dealer, der gerade auf der Strasse unterwegs ist. Wir fahren in Zivil raus. Einer kauft Shabu bei dem Dealer, der andere deckt den Kauf der Drogen, ich sitze im Auto und gebe Anweisungen. Dann schlagen wir zu.»
Jede Akte hat ein pompöses Deckblatt: PNP in alten, verzierten Lettern. Dann: das Vergehen, der Tathergang, die Aussagen der Beamten. Dahinter: Fotos. Der Dealer, ein weiblich wirkender, langhaariger, dürrer Mann in abgerissenen Jeans, steht auf der Wache vor drei Männern. Dahinter sind auf einer Seite drei Hundert-Peso-Noten (sechs Franken) untereinander aufgeklebt.
«Wir markieren die Scheine mit UV-Farbe. Die Dealer streiten natürlich alles ab. Aber dann leuchten wir ihnen mit Schwarzlicht auf die Finger und – tja.» Cerrado blättert durch die Akten. Schreckgeweitete Augen, entleerte Blicke. Leben vorbei: 36 Jahre Haft für ein paar Steine Shabu. In einigen Akten fehlt das Geld. Cerrado lacht leise. Da sei die Verhandlung schon vorbei, er sei davon Bier holen gegangen.
Dann lehnt er sich zurück auf der Couch. Greift nach einer Gitarre, die an der Wand lehnt und zupft darauf herum. Wieder scheint er zu schrumpfen.
«Vor ein paar Wochen haben sie mich nachts angerufen. Meine Kollegen schnappten einen Dealer, den wir seit langem im Visier hatten. Ich sollte dazukommen, um die Anzeige zu schreiben. Doch dann kam einer meiner Vorgesetzten dazu und meinte: ‹Ich werde ihn erschiessen.› Ich habe gesagt: ‹Wofür holt ihr mich dann aus dem Bett?›» Cerrado wird richtig wild, wenn er daran denkt. «Ja ehrlich, wofür brauchen die mich da noch?»
Duterte sei sein Präsident. Und die Nachbarschaften müssten irgendwie sauber gemacht werden. Aber nicht so. Er fühle sich schuldig.
Nach diesem Vorfall arbeitete es lange in ihm, er konnte öfter nicht schlafen, er trank auch unter der Woche viel, manchmal schon morgens, erzählt er. Und dann stand seine Entscheidung fest: Genug ist genug. Er wollte nicht länger in dieser Anti-Drogen-Einheit arbeiten. Er bat um Versetzung und meldete sich an für eine Weiterbildung, zum Senior Police Officer Rang 1. Er sei nicht der Erste und Einzige seiner Einheit, der sich versetzen liess.
Jetzt geht er wieder zur Schule. Danach wird er nicht in die Anti-Drogen-Einheit zurückkehren. Hofft er. «Was passiert denn, wenn Duterte nicht mehr Präsident ist? Was wird dann, mein Freund? Dann beginnt das grosse Aufräumen. Dann werden Menschenrechtsorganisationen und Journalisten den Hinterbliebenen helfen, die Täter zu identifizieren.» Und wer wolle schon ein Mörder sein? Mord verjähre nie. Auch nicht auf den Philippinen.
7. Kapitel: Auf Friedhofsschicht
Spätsommer 2017. Montagnacht. Ein paar Prostituierte in rosafarbenen Jogginganzügen stehen vor den Müllbergen am Strassenrand, in Tondo, dem Megaslum an der Bucht von Manila. Am Ende der Strasse: eine Polizeiwache, davor: ein Pulk von rund zwei Dutzend Journalisten, ihre Blöcke und Kameras gezückt. Mittendrin: Kasey Moreno, eine zierliche Reporterin mit langen, schwarzen Haaren und Stupsnase, ihr Handy in der Hand, die Kopfhörer ihres Headsets im Ohr – wie immer. Sie arbeitet für einen der grossen Sender in Manila, ihre Chefs haben ihr verboten, sich von ausländischen Journalisten begleiten zu lassen bei ihrer blutigen Nachtschicht. Wer will schon Verantwortung tragen in diesen Nächten?
Jetzt führen zwei Polizisten einen jungen Mann aus der Wache, er trägt Handschellen und hat sich die Kapuze seines Pullovers tief ins Gesicht gezogen. Die Journalisten springen auf und knipsen und filmen, es hagelt Blitzlicht. Die Beamten führen den Festgenommenen zu einem Polizeiwagen, warten kurz und machen dann wieder kehrt. «Er hat gestern jemanden getötet», bemerkt Moreno, die Reporterin. «Wir haben die Polizisten gebeten, die Festnahme noch einmal nachzustellen.»
Als Nächstes fotografieren und filmen die Journalisten einen grauhaarigen Polizeioffizier in Uniform, der vor der Wache mit verschränkten Beinen auf einer Bank sitzt und raucht. «Das ist der Chef der Wache», sagt Moreno. Sie senkt ihre Stimme. «In der Wache gab es eine falsche Bücherwand und dahinter verborgen eine Zelle mit mehreren Insassen.» Es waren Häftlinge, die der Chef der Wache privat eingebuchtet hatte. Ohne Urteil. Die Sache flog auf, die Männer wurden freigelassen. Der grauhaarige Offizier durfte bleiben.
Jede Nacht ist Moreno auf Friedhofsschicht, so nennen philippinische Journalisten die Nächte, in denen sie Geschichten von getöteten Dealern aufspüren, in den Slums von Manila, den «killing fields» der Gegenwart. Mit Einbruch der Dunkelheit setzt sich Moreno neben ihren Fahrer im Pick-up des Senders und fährt hinaus zu den Wachen, um in Einsatzberichten nach Geschichten zu suchen. Meistens ist sie in Tondo unterwegs, dem grössten Elendsviertel des Landes. Hier sollen bis zu 600’000 Menschen leben, nur wenige der Bewohner schaffen es tagsüber hinaus auf Baustellen in Manilas Umgebung, als Fahrradtaxifahrer, Hutverkäufer oder Prostituierte. Und wer keinen Job hat, aber Hunger, schliesst sich vielleicht einer der zahllosen Gangs an.
Es ist 1.37 Uhr. Die nächste Wache, die Moreno besucht, ist in der Nähe der Road 10, der Hauptstrasse Tondos. Ein Dutzend Kinder schiebt eine Matratze über die Strasse, keines von ihnen trägt ein Shirt. Vor der Wache steht ein Terrarium mit grünlich matten Scheiben. Eine gelbe Schlange liegt darin, zu faul, eine der beiden weissen Mäuse zu verschlingen, die wie eingefroren in einer Ecke kauern. Drinnen, neben einem Empfangsschreibtisch, hängen Verhaltensregeln und Urkunden, an den Wänden zeichnen sich Fussabdrücke ab.
Moreno begrüsst den Offizier am Empfang, fragt nach dem Einsatzreport und fängt an, darin zu blättern. Zwischendurch unterbricht sie sich, wird über ihr Handy kurz live im Radio zugeschaltet, um vom mutmasslichen Mörder zu erzählen, von der ersten Wache. Während sie in ihr Handy spricht, werden zwei Jungen mit Handschellen aneinandergekettet abgeführt, ein Dritter von einem Polizisten im Würgegriff hinterhergeschoben. Ein Zivilfahnder wischt sich mit einem Frischhaltetuch die Arme sauber. «Die trinken zu viel hier», sagt er trocken. «Besonders am Wochenende. Wir haben in erster Linie ein Alkoholproblem.»
Dann liest Moreno weiter. Endlich findet sie in einem der Einsatzberichte eine Meldung: ein Schusswechsel mit Todesfolge, ganz hier in der Nähe. Allerdings schon gestern Morgen um fünf. «Gibt es Kamerabilder?», fragt sie. Der Polizeioffizier antwortet, er habe noch keine gesehen. Aber wenn Moreno welche auftreibe, solle sie Bescheid sagen.
Also weiter, zum Tatort der vorherigen Nacht. Ihr Fahrer brettert los, überholt rechts, rollt bei Rot über die Ampel, die Warnblinkanlage eingeschaltet. Er rast bis zu einer dunklen Einfahrt neben einem Stundenhotel. Gegenüber liegt die schwefelgelb schimmernde Küste, weiter hinten greifen Industriekräne nach Containern, irgendetwas wird abgefackelt. Laster rasen vorbei. Der Staub ätzt in die Poren.
«Plötzlich kam ein Mann um die Ecke, und dann fielen Schüsse», erzählt eine zahnlose Alte. Kasey Moreno tippt in ihr Handy. Die Alte sei von ihrem Zigarettenstand ins Hotelfoyer gerannt, um sich zu verstecken. Ein Mann sei direkt vor dem Eingang zu Boden gegangen, wieder aufgestanden und geflüchtet. Ein zweiter Mann sei durchs Bild gelaufen. Noch mehr Schüsse. «Das wars.»
Kasey Moreno fragt am Empfang des Hotels nach, ob es Bilder der Überwachungskameras gebe. Als sie wieder hinauskommt, sagt sie: «Das Hotel behauptet, die Kameras seien kaputt oder ausgeschaltet gewesen.» Sie schnaubt und senkt den Kopf leicht zur Seite. Sie glaubt kein Wort. Aber was kann sie tun? Das hier, so scheint es, wird ein weiterer Mord in Manila sein, dessen Mörder nie ermittelt wird. «Das ist es, was uns Journalisten so frustriert hier», sagt Moreno.
Eine Sackgasse. Kein Videomaterial, keine Geschichte. Die Friedhofsschicht geht weiter. Sie geht zurück in den Pick-up, der am Strassenrand steht, um im Wagen zu warten, bis irgendwo wieder ein Verbrechen geschieht. Es wird bestimmt nicht allzu lange dauern.
8. Kapitel: Eine schrecklich nette Familie
Dann ist wieder Samstag, ein besonders heisser Tag, inzwischen ist es Anfang Oktober. Cerrados Freundin Rozzy hat Geburtstag. Er ist mit ihr, ihren Eltern, ihren Geschwistern und Cousins sowie zehn Kleinkindern in ein Resort gefahren, zwei Stunden vor Manila. Cerrado ist Rozzys Freund, aber alle begegnen ihm mit Respekt, ja, mit Ehrfurcht.
In einer hügelig grünen Landschaft formen sechs Bungalows die Anlage. Jeder Bungalow besteht aus einem grossen Raum mit Matratzen, die Fenster sind mit Gittern gesichert. Es ist noch früh am Morgen, die Familie hört Gangsta-Rap und bereitet das Essen vor, viele Gänge. Cerrado steht schwitzend am Grill und löscht das Fleisch mit Starkbier ab. Noch sind alle nüchtern. Aber schon zur Mittagszeit werden die Männer im Schatten um einen Plastiktisch sitzen, auf dem Literflaschen Brandy und Gin stehen.
Ein Wunder, eigentlich, dass Rozzys Vater, ihre Brüder und Cousins mit Nino Cerrado an diesem Tisch sitzen. Er, der Drogenfahnder. Sie, die kriminellen Konsumenten. Und so entfacht sich schon bald eine Diskussion. Cerrado beteuert, er jage niemanden mehr. Die Männer schwören, sie rauchten nichts mehr. Und alle sind sich einig: Das Land habe ein Drogenproblem, doch diese Politik treffe die Falschen.
«Ich war ja damals auch auf Shabu», wirft Rozzy ein, seine Freundin, und trinkt einen Schluck Brandy. Auf Crystal Meth. Seit heute ist sie 29 Jahre alt, feine, rote Äderchen ziehen sich durch ihre Pausbacken, Hüftspeck lappt über den Saum ihrer Hotpants. Zwei Jahre zuvor hat Cerrado ihren Freund verhaftet, einen Drogendealer. So lernte er Rozzy kennen. Schon beim Verhör wechselte sie die Seiten. Verliess ihren Freund, der seither im Knast sitzt, und war fortan mit Cerrado zusammen, dem Alpha-Bullen.
«Ich habe mich schon gefragt, ob er das alles wegen mir macht.» Rozzy pustet Zigarettenqualm in die Luft. Als er sie aus den Fängen der Gang befreite, hörten auch ihre Cousins auf, Shabu zu rauchen, sagt sie.
Rozzys Cousin Patrick liegt am Pool und raucht. Weisse Sonnenbrille, bunte Badehose. Seine Haut ist von Pickeln und Schlägen vernarbt. Unter seiner Brust zieht sich eine dicke Narbe entlang. Da habe man Blut abgesaugt, nachdem ein Messer in seiner Brust steckte. Auf seinem Bein ist mit Kugelschreibertinte und Nähnadeln «Sigue Sigue» tätowiert, der Name einer alten, grossen, mächtigen Gang.
In seine Hüfte ist eine Peso-Münze eingebrannt. Das Erkennungszeichen einer Bruderschaft, wie es sie tausendfach im Land gibt – Mini-Gangs, bei denen es um Rückendeckung und Freundschaft geht. Mit der Peso-Münze wurde Patrick für seine Zeit in der Bruderschaft belohnt, aber irgendwann wollte er mehr.
«Ich habe dann ein wahnsinniges Verbrechen begangen», sagt Patrick. Er hatte einen Pitbull in seinem Viertel geklaut und ihn weiterverkauft, dafür musste er in U-Haft auf der Polizeistation. Dort sah er, welche Macht ein Mayor hat, ein Boss der Sigue-Sigue-Gang – im Knast. Der Mayor kassiert Besucherzoll, wenn Familien ihren Angehörigen Essen bringen, er kassiert Schutzgeld, er dealt mit Zigaretten und Drogen.
Erst wurde Patrick der Schläger des Mayors, dann dessen Nachfolger. Noch nie habe er so viel Geld verdient wie im Knast. Eine Zigarette kostet bis zu 50 Peso, rund einen Franken, bei einer Schachtel kommen also fast 20 Franken zusammen.
In einem Gefängnis auf einer Polizeistation, wo Patrick war, bleiben die Männer ein paar Monate, maximal ein Jahr. Sie sind wie in einem Panzerknacker-Comic zusammengepfercht hinter rostigen Gittern, liegen in Hängematten oder auf dem Boden, spielen Karten und schauen den Beamten zu, die ein und aus gehen.
Patrick war nicht in einem Stadtgefängnis, wo die Männer dreissig Jahre oder länger sitzen. «Dort bekommen die Gangs über die Zeit so viel Macht und Geld, sie regieren das ganze Land aus dem Knast», sagt er. Trotzdem, Patrick wolle nicht zurück in den Knast, er fährt jetzt Taxi. Manchmal, da fährt er seine Brüder hinter Gittern besuchen. «Etwas vorbeibringen.»
Cerrado ist an den Pool gekommen und mischt sich ein. «Auch bei uns gab es Luxus-Gefängnisse mit Whirlpools und Whisky, mit Marken, die du in keinem Laden in Manila kriegst», sagt er mit seiner blechernen Stimme. «Bis Duterte kam.» Und dann: «Ist schon ein bisschen wie in Kolumbien hier bei uns, oder? Mein Freund?»
Er sitzt am Rand des Schwimmbeckens und plätschert mit den Beinen im Wasser. «Das System ist korrupt bis auf den Kern.» Einmal habe er mit seinen Kollegen einen dicken Fisch im Kasino gestellt. Draussen stand der weisse Wagen des Dealers, über eine Million Peso drin, Cerrado habe aber nur von den 1,3 Kilo Shabu-Crystal-Meth darin gewusst. «Also haben wir alles an uns genommen, das Geld, das Auto und die Drogen. Das geht gar nicht anders. Mein Chef und seine Kollegen würden es nicht akzeptieren, wenn ich bei diesem Spiel nicht mitmache.» Er weiss nicht, was aus dem Geld wurde. Wer genau es sich unter den Nagel riss.
Immer wieder schlägt Cerrado die linke Faust in die rechte Hand, wenn er spricht: «Alle Karten liegen offen vor uns, aber uns bleiben nur die kleinen Fische. Wir kommen nicht an die dicken Fische heran, die uns bezahlen. Sie bleiben unantastbar.» Trotz der grossen Duterte-Show.
So verrinnen die Stunden zwischen Grillfleisch, Schnaps und Schwimmbecken, bis abends alle bei Trinkspielen im Kreis vor den Matratzen sitzen. Alberne Spielchen und Schullandheim-Stimmung – sie wirken wie eine ganz normale Familie. Ehe sie der Reihe nach betrunken auf die Betten fallen und wegdösen.
9. Kapitel: Aus dem Leben eines Auftragsmörders
Ein paar Tage später kauert ein Mann in der Nähe eines Slums in einem parkierten Wagen. Der heisse Dampf des Shabu hat seine Zähne ausfallen lassen. Seine Augen sind zwei trübe, braune Pfützen. Seine Arme, seine Finger, seine Brust sind mit Tattoos vollgekritzelt. Krickelkrakel, wie im Kindergarten. Er nennt sich Boy Tattoo, ist angeblich 42 Jahre alt, und es dauert, bis ihn die Worte des Übersetzers erreichen. Er ist tief in die Rückbank eingesunken und reibt seine Finger nervös aneinander. Er hat Angst. Trotzdem will er aus seinem wirren, zerstörten Leben erzählen.
An seine Eltern erinnert er sich nicht. Er war ein Strassenkind in Tondo, er bettelte, schlug sich durch, und nachts schlief er mit anderen Strassenkindern auf einem Stück Karton. Als Teenager fing er an zu stehlen und zu rauben und zu schlagen. Mit 19 musste er zum ersten Mal in den Knast, für sechs Jahre, da hatte er schon einen Menschen umgebracht.
Im Knast wurde auch er zuerst ein Bastanero, ein Schläger, danach schwang er sich auf zum Boss, zum Mayor. Jetzt kontrollierte er den Drogenhandel, gemeinsam mit den Polizisten. Als er wieder herauskam, verkaufte er Cannabis. Es ging ein paar Jahre gut. Doch dann wurde er in eine Schiesserei verwickelt, wieder starben Menschen, und dieses Mal bekam er lebenslang.
Acht Jahre im Stadtgefängnis vergingen, bis ein einflussreicher Polizist in sein Leben trat und sagte: «Ich gebe dir Freiheit, wenn du für mich arbeitest.» Boy Tattoo schlug ein, denn er wusste, es war seine einzige Chance. Der Polizeioffizier bestach die Gefängniswärter, liess ihn freikaufen von der Knast-Gang und liess Boy Tattoo für sich arbeiten – als Dealer. Kristallklares Shabu verkaufte er für seinen Boss, feinstes Crystal Meth, mit dem sich die Oberschicht durch die Nächte pusht. Anfangs gefiel es ihm noch, er war schliesslich kein Strassen-Pusher mehr, sondern ein echter Dealer, sagt er.
Irgendwann verlangte der Polizist eine andere Arbeit: Er sollte dicke Fische töten, die Rivalen des Polizeioffiziers. In konspirativen Wohnungen bekam er Fotos gezeigt, seine Tatwaffe überreicht, und dann fuhr er mit einem Sammeltaxi zum Tatort. Oft begleiteten ihn Polizisten. Sie waren eingeweiht.
Boy Tattoo blickt aus dem Wagenfenster. Drüben, jenseits des Flusses, liegt der Slum Tondo. Da leben seine Tochter und sein Sohn, 14 und 15 Jahre alt. Er kann nicht mehr zu ihnen. Er musste fliehen aus diesem Viertel.
Eigentlich wollte Boy Tattoo selbst Polizist werden, zu Manilas Feinsten gehören, so nennen sich die Polizisten hier. Er seufzt. «Stattdessen bin ich ein Hitman geworden. Und ich werde als Killer sterben. Ich habe keine Wahl.»
10. Kapitel: Jetzt spuren sie
Im Westen gilt Duterte entweder als Volltrottel oder Wahnsinniger. Mal entfallen ihm in Interviews englische Vokabeln, mal verschränkt er die Arme und stösst vor der Kamera wilde Drohungen aus. Doch er ist ein gerissener Stratege. Die politische Karte, die er spielt, ist so alt wie einfach: Er verbreitet Angst. Die Filipinas in den Plastiklatschen sind zusammengezuckt. Jetzt spuren sie.
Auch sein zweiter Trick hat in der Geschichte schon oft funktioniert: Er spielt verfeindete Gruppen gegeneinander aus. In den armen Nachbarschaften kämpfen jetzt alle gegen alle. Die Regierung, die offenbar kein Rezept gegen Armut hat, braucht bloss zuzusehen, wie sich die Armen nun selbst bekämpfen. Und die Nationalpolizei behält die Kontrolle, mit leisen Schritten im Hintergrund.
Da kann es sich der Präsident sogar leisten, den Drogenkrieg im Duterte-Land auszusetzen, so nennen die Menschen ihre Heimat jetzt.
November 2017: In Manila findet die Asean-Konferenz statt, der asiatische Politikgipfel, auch Donald Trump ist unter den Besuchern. Nun gibt Duterte die Verantwortung für den «war on drugs» an die Drogenbehörde zurück, die PDEA, eine 2000-Mann-Einheit.
Nino Cerrado kommt später als alle anderen zum Elternhaus seiner Freundin Rozzy an diesem Mittwochnachmittag, weil er noch mit seiner alten Einheit die Abläufe für das Wochenende der Asean-Konferenz trainiert hat, für die Gefahrenabwehr auf Demonstrationen. Trump wird bald durch die Strassen gefahren. Es dauert nicht lange, und Nino Cerrado hat die Zwei-Liter-Flasche Brandy halb geleert, während die Familie wie immer um ihn herumsitzt und zuhört. Während im Hintergrund die Hunde bellen, die Kinder auf der Strasse mit Müll spielen, Bauarbeiter einen Plattenbau zwischen den Bruchbuden hochziehen und Jeepneys und Busse an der Hauptstrasse ein paar Meter entfernt ein Hupkonzert entfachen.
Irgendwann scheint er seine Gedanken im Brandyrausch geordnet zu haben, mehr oder weniger. Er schlägt sich auf die Knie und sagt: «So oder so stehen uns entscheidende Entwicklungen in diesem Land bevor. Der Präsident hat den Krieg gegen die Drogen gestoppt, und ich werde bald zum Senior Police Officer befördert.»
Er muss sich verstecken. Jetzt gerade in dieser Weiterbildung. Danach in einer anderen Einheit. Unter einer harten Schale aus Machismo. Hinter einem fetten Schleier aus Alkohol. Gefangen im System aus Korruption und Selbstjustiz, machtlos und zur Feigheit genötigt.
Kaum beginnt das neue Jahr, verkündet die Regierung, Oplan Tokhang werde fortgeführt, es wird weiter angeklopft und nachgefragt. Aber dieses Mal wolle man weniger Fehler machen. Zum Beispiel weniger Unschuldige töten. Die Menschen im Duterte-Land haben für solche Neuigkeiten ein Sprichwort: «Vor und zurück – vor und zurück.» Ein ewiges Hin und Her.
Nino Cerrado schickt eine Kurznachricht: Er habe seine Prüfungen zum Senior Police Officer abgelegt. Jetzt wolle er in den internen Dienst.
Im Sommer 2017 war unser Autor Benedict Wermter als Stipendiat der Heinz-Kühn-Stiftung zwei Monate für eine Recherche auf den Philippinen. Im Herbst kehrte er auf eigene Faust zurück, um Nino Cerrado erneut zu treffen. Es war nicht schwierig, ihn und andere Polizisten kennenzulernen, Wermter musste nur warten, bis in seiner Nachbarschaft eine Party stieg. Die Lautesten, die Stärksten dort – das waren die Jungs von der PNP. Mit etwas Reporterglück stiess er auf jene Drogeneinheit, deren Anführer Cerrado ist. Der freute sich über den seltenen Gast und nötigte ihn mehr oder weniger, Bier mit ihm zu trinken. Benedict Wermter hatte zu jener Zeit sehr grossen Respekt vor der PNP und gab sich lange als Student aus. Er nahm Cerrados Angebot an, sich wieder mit ihm zu treffen. Sie gingen ins Fitnessstudio, fuhren Motorrad, trafen sich mit Cerrados Kollegen und Freunden. Trotzdem: Die Angst blieb. Einmal spielten sie mit Cerrados Dienstwaffe herum und Wermter dachte danach, er habe einen Fehler gemacht – nun seien seine Fingerabdrücke auf der Waffe. Stattdessen stellte Cerrado ihn seiner Familie vor, er lud ihn zu sich nach Hause ein, wo er viele Geheimnisse erzählte. Auch Wermter offenbarte sich – und sagte ihm, dass er Journalist sei. Danach wendete sich das Blatt. Die beiden trafen sich weiter, aber nun spürte unser Autor, wie Cerrado Respekt vor ihm bekam. Er redete weniger, Wermter musste Unmengen an Alkohol mit ihm trinken, damit der Kontakt nicht abriss. Trotz allem liess Cerrado zu, dass er allein mit seiner Familie, seinen Kollegen und Freunden sprach, um mehr über ihn zu erfahren und um Fakten zu sichern. Er will wohl gehört werden. Was Nino Cerrado aber auf keinen Fall wollte: dass Fotos von ihm gemacht wurden, dass ein Fotograf dabei war, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Und dass sein richtiger Name genannt wird.