Novartis in Griechenland und das «B-Money» aus Basel

Explodierende Gesundheitskosten, mutmassliche Schmiergeldzahlungen und versteckte Prämien für Ärzte: Eigentlich wollte Novartis nur den Absatz in Griechenland ankurbeln. Jetzt steckt der Schweizer Pharmakonzern im grössten Skandal der jüngeren griechischen Geschichte.

Von Simon Schmid, Ioannis Antypas und Sotiris Sideris, 21.02.2018

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Neujahr, 2017: Am Rand der Dachterrasse des Athener Hilton-Hotels steht ein Mann und droht, in die Tiefe zu springen. Nach wenigen Minuten trifft die Polizei ein. Ein Verhandlungsspezialist redet auf ihn ein – und hat Erfolg. Der Mann tritt zurück von der Brüstung und sagt seinen Namen. Er ist 45 Jahre alt, Ingenieur, Novartis-Manager aus Basel.

Die Beamten bringen ihn zur Wache. Dort erzählt er seine Geschichte, erklärt, was ihn zur Verzweiflung getrieben hat. Ein gutes Jahr später sickert alles durch – und löst einen Skandal aus, der seit Wochen die griechische Politik erschüttert: «Novartis-Gate». Glaubt man den einen, ist es ein Korruptionsfall, der zu den schlimmsten in Griechenland gehört. Glaubt man den anderen, steckt nichts dahinter – ausser einer der übelsten Verleumdungskampagnen, die das Land je erlebt hat. Wer hat recht?

1. Ägäisches Eldorado

Die Geschichte von Novartis-Gate beginnt nach dem Jahrtausendwechsel. Griechenland geht es blendend. Das Land ist dem Euro-Raum beigetreten, wird 2004 die Olympischen Spiele ausrichten und bekommt allerorten Kredit. Bürger und Staat geben ihr Geld mit vollen Händen aus. Die Industrie floriert, die Pharmabranche erwirtschaftet hohe Profite.

Griechenland importiert einen Grossteil der Medizin. Die Ausgaben des Staates für Medikamente explodieren: von einer Milliarde Euro im Jahr 2001 auf fünf Milliarden Euro acht Jahre später. Auch weil es immer mehr Ärzte gibt: Griechenland hat schon damals eine der höchsten Ärztedichten in Europa, 500 lizenzierte Mediziner pro 100’000 Einwohner. Bis 2015 werden es nochmals ein Viertel mehr sein. Gleich drei Ministerien kümmern sich um Medikamentenzulassungen und Preispolitik.

Für die Pharmakonzerne gleicht das Land einem fruchtbaren Acker. Und besonders kräftig sät die schweizerische Novartis aus. Bald erzielt deren Tochterfirma Novartis Hellas einen Umsatz von rund 400 Millionen Euro pro Jahr. Zum einen, weil die Produkte innovativ sind und das Marketing stimmt. Zum anderen, weil Novartis offenbar Beamte besticht. Das jedenfalls behaupten Whistleblower gegenüber Ermittlungsbehörden aus den USA und aus Griechenland. Die Dokumente (Teil 1 und Teil 2) liegen der Republik vor.

2. Die Aussagen der Whistleblower

Die Aussagen der Whistleblower liegen in mehreren Protokollen vor, die an die Öffentlichkeit durchgesickert sind. Es geht um diverse Korruptionsvorwürfe gegen Novartis und gegen griechische Politiker.

Erstens: Offenbar fliesst 2006 eine bedeutende Schmiergeldzahlung an den damaligen Gesundheitsminister Dimitris Avramopoulos. Dessen Ministerium schreibt zu jener Zeit einen HIV-Test aus. Zwei Anbieter sind im Rennen: Chiron, eine Pharmafirma aus den USA, kurz zuvor von Novartis übernommen. Und Roche, ein weiterer Pharmakonzern aus der Schweiz. Chiron, so der Whistleblower, habe einen Listenpreis von 50 Euro für seinen Test herausgeschlagen, Roche habe 40 Euro pro Untersuchung erhalten. Dies, obwohl die HIV-Tests in anderen europäischen Ländern nur 5 bis 15 Euro kosten. Den höheren Preis habe sich Chiron mit einer Schmiergeldzahlung von «mindestens 40 Millionen Euro» erkauft.

Die Anschuldigung ist nicht bewiesen. Novartis sagt dazu: Man kenne die Berichte über die Geschäftspraktiken in Griechenland, könne wegen laufender Ermittlungen aber nicht «die Spekulationen in den Medien kommentieren, die offenbar teilweise durch die Weitergabe von Informationen aus einer vertraulichen Ermittlungsakte angeheizt werden».

Zweitens: 2008 organisiert die PR-Firma «Communication in Practices» die «World Health Days» in Athen: eine Kampagne mit Pressekonferenzen, Infoständen und Werbebeiträgen. Sie sucht dafür in enger Absprache mit dem Gesundheitsministerium Sponsoren – und wird unter anderem bei Novartis fündig. Konstantinos Frouzis, ehemaliger Vizepräsident von Novartis Hellas und eine der Hauptfiguren von Novartis-Gate, weiss offenbar genau, wozu die hohen Sponsorenbeiträge – der Whistleblower spricht von 50’000 Euro – dienen: um bei Avramopoulos, dem Gesundheitsminister, einen guten Listenpreis für Medikamente wie Afinitor herauszuholen, den Novartis-Verkaufsschlager zur Behandlung von Krebs.

Drittens: 2009 versetzt das H1N1-Virus die Welt in Angst, die Schweinegrippe. Gesundheitsminister Avramopoulos stuft das Gripperisiko als «sehr hoch» ein – und überredet Kostas Karamanlis, den damaligen Premierminister, eine Impfdosis für die gesamte Bevölkerung zu ordern. Das ist ungewöhnlich: Andere Länder decken nur einen Teil der Einwohner ab. Den Zuschlag, die Impfstoffe zu liefern, erhält Novartis. Weil, so die Anschuldigung, Novartis-Manager Frouzis mit einer Zahlung von «nicht weniger als 200’000 Euro» nachgeholfen habe. Genauere Informationen – wie das Geld überwiesen wurde, wohin es floss – hat der Whistleblower nicht.

Novartis gibt an, bislang keine Einsicht in diese Akte erhalten zu haben und «weder vom Staatsanwalt noch vom Parlament in Griechenland über die Ermittlungen informiert worden» zu sein. Auch sei bis anhin weder gegen Novartis noch gegen einen der aktuellen Mitarbeitenden formelle Anschuldigungen, geschweige denn eine Anklage, erhoben worden.

Viertens: Ab 2010 soll ein Produkt den Absatz ankurbeln, das in der EU soeben die Zulassung erhalten hat: Onbrez, ein Inhalator für Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, also mit Raucherlunge. In Griechenland rauchen vergleichsweise viele Menschen, der passende Ort also, um das Mittel in den Markt zu drücken. Die Vermarktungsabteilung von Novartis hängt sich hinein. Aber überschreitet sie dabei die Grenzen des Erlaubten? Der Konzern bezahlt offenbar griechische Ärzte über seine Tochter Sandoz dafür, Produkte wie den Onbrez-Inhalator zu verschreiben. Die Zahlungen laufen über ein Programm namens «Exactly», bei dem Doktoren an pseudowissenschaftlichen Studien teilnehmen können und dafür 3000 bis 4000 Euro erhalten – je nach Anzahl ihrer ausgestellten Rezepte. Das Geld kommt direkt aus Basel, sagen die Zeugen. Insider nennen es «B-Money». Quelle für diesen Vorwurf ist ein Bericht des FBI.

Fünftens: Ähnlich läuft ein Schema sogenannter E-Panels ab, die zwischen 2009 und 2013 stattfinden. Dabei werden Ärzte zum Ausfüllen von Marktforschungs-Fragebögen aufgeboten. Wissenschaftlich sind diese Fragebögen wertlos, die allermeisten werden gleich durch Novartis-Verkaufsleute selbst ausgefüllt. Doch die Panels dienen als Vorwand, um Geld zu überweisen. Von 500 Euro pro Bogen ist in den Zeugenaussagen die Rede. Angestellte von Novartis überwachen das Programm in Excel-Tabellen mit verborgenen Blättern, Zeilen und Spalten. Sie beschriften die Ärzte mit Buchstaben von A bis D gemäss ihrer «Freundlichkeit» und mit Zahlen von 1 bis 3 gemäss der Anzahl verschriebener Novartis-Medikamente. Es gibt interne Jahresziele: Wer den Marktanteil von zwölf Prozent nicht erreicht, kriegt eine schlechte Bewertung.

Was auch immer hinter den geschlossenen Türen der Athener Ministerien vor sich gegangen sein mag: In jener Zeit vor der Finanzkrise fliessen die Millionen im griechischen Gesundheitssystem reichlich. 2011 machen die Pharma-Ausgaben rund ein Drittel des griechischen Gesundheitsbudgets aus. Es ist der zweithöchste Wert innerhalb der OECD hinter Ungarn.

Bei Novartis Hellas floriert das Geschäft auch dann noch, als die griechische Wirtschaft allmählich in Schräglage gerät. Wie Konstantinos Frouzis auf seinem Linkedin-Profil schreibt, steigt die Firma unter ihm zur grössten Arzneilieferantin des Landes auf. Zwischen 2008 und 2014 erhöht sie den Marktanteil von 8 auf 14 Prozent.

3. Das Harvard-Projekt

Kompliziert wird es für die Pharmaindustrie erst, als die Schuldenkrise ihre volle Wucht entfaltet – also ab 2011. Mit den Rettungspaketen der EU, des IWF und der EZB wird die «Troika» in Athen zum Dauergast. Griechenland muss ihren Forderungen nachkommen: die Steuern erhöhen, die Ausgaben senken.

2013 kommt es für Novartis und Co. knüppeldick. Der griechische Staat will die pharmazeutischen Ausgaben bei 2 Milliarden Euro deckeln und damit 1,75 Milliarden Euro einsparen. Er halbiert die Listenpreise für Medikamente, sehr zum Ärger der Pharmafirmen, die teils ihre Lieferungen einstellen.

Griechenland steht bei ihnen bereits in der Kreide: Seit die Spitäler ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, sind bei Roche etwa Forderungen von 200 Millionen Euro ausstehend. Novartis sitzt auf unbeglichenen Forderungen von 140 Millionen Euro, wie später aus den Dokumenten hervorgeht.

In dieser Situation beschliesst Novartis Hellas eine weitere Initiative, wie Zeugen gegenüber den griechischen Behörden aussagen werden: das «Harvard Project». Diesmal geht es nicht um Impfstoff-Aufträge oder um grösseren Medikamentenabsatz – sondern darum, die Preissenkungen zu verhindern.

Konstantinos Frouzis übernimmt ein weiteres Mal den Lead. Dem Novartis-Vize stehen weitere Manager zur Seite. Mutmasslich weiss sogar der damalige Konzernchef Joe Jimenez vom Programm. Die Listenpreise sind wichtig, weil die Medikamentenpreise in diversen europäischen Ländern voneinander abhängen: Griechische Preise spielen etwa in Österreich eine Rolle (wo gewisse Arzneimittelpreise vom Durchschnitt in anderen Ländern abhängen), in Italien (wo der Mindestpreis der Referenzländer angewandt wird) und auch in Deutschland (wo die Methode uneinheitlich ist).

Im Zuge des «Harvard Project» fliessen gemäss den protokollierten Zeugenaussagen mehrmals Bestechungsgelder. Eine prominente Figur ist Adonis Georgiadis, Gesundheitsminister von 2013 bis 2014. Ex-Premierminister Andonis Samaras von der Nea Dimokratia soll auch Gelder erhalten haben. Novartis-Manager Frouzis soll eines Nachmittags um 14 Uhr mit seinem schwarzen BMW bei Samaras vorgefahren sein. Mit einem Koffer voller Banknoten im Gepäck.

4. Der Machtwechsel

Korruption ist altbekannt in Griechenland. Doch die Wirtschaftskrise hat die Menschen empfindlich gemacht. Massenentlassungen, Gehaltskürzungen und der Zusammenbruch der öffentlichen Versorgung schüren die Wut und befördern die Sehnsucht nach tiefgreifenden Veränderungen.

Einer, der die Gefühle kanalisieren kann, ist Alexis Tsipras, der energische Chef der linksgerichteten Partei Syriza. Er verspricht, hart gegen Korruption vorzugehen und die alten Eliten zur Rechenschaft zu ziehen. 2015 wird der einstige Aussenseiter zum Schrecken des Establishments zum Premierminister gewählt.

Auf den rasanten Aufstieg der Partei folgt bald die Ernüchterung. Selbst hochrangige Beamte, die der Korruption überführt wurden, kommen nicht hinter Gitter. Etwa jene Manager und Beamte, die in den Siemens-Schmiergeldskandal an den Olympischen Spielen verwickelt waren. Der einzige Politiker, der ins Gefängnis muss, ist der ehemalige Verteidigungsminister Akis Tsochatzopoulos, 2013 wegen Betrugs verurteilt.

Fast zwei Drittel aller Einwohner bleiben unzufrieden mit dem Kampf gegen die Korruption, schreibt Transparency International in ihrem jüngsten Barometer. Und die Griechen sind nicht die Einzigen, die nach der Finanzkrise durstig nach Gerechtigkeit sind.

5. Hier ist die Polizei

Auch andere Länder rüsten ihre Justiz auf. Allen voran die USA. Hier geht der Staatsanwalt aus dem Southern District of New York besonders aggressiv gegen Wirtschaftskriminalität vor: Preet Bharara, «Sheriff der Wallstreet».

2013 knöpft sich Bharara Novartis vor, nach einem Tipp von Whistleblowern. Und zwingt die Firma zwei Jahre später zu einem Rechtsvergleich. Novartis muss 390 Millionen Dollar bezahlen, weil es systematisch Provisionen an Ärzte ausgerichtet hat, damit sie Novartis-Präparate verschreiben. Patienten wurden illegalerweise telefonisch zu Nachbestellungen animiert.

Novartis ist nicht die einzige Pharmafirma, die bei den Behörden in Ungnade fällt. 2012 trifft es den US-Konzern Pfizer, 2014 die britische GSK, 2015 die US-Firma Bristol-Myers Squibb und 2016 die israelische Teva Pharmaceutical.

Doch Novartis taucht bei der Jagd nach schwarzen Schafen besonders häufig auf. In Südkorea wird der Basler Konzern 2017 zu einer Strafzahlung von 49 Millionen Dollar verdonnert. Aus dem Jahr 2016 datiert ein weiterer Rechtsfall, in den Novartis verwickelt wird. Diesmal ist es die US-Börsenaufsicht SEC, die den Konzern an die Kandare nimmt. 25 Millionen Dollar werden fällig wegen Vorkommnissen in China: Über die dortige Tochtergesellschaft Sandoz habe man Ärzte auf teure Kongresse nahe der Niagarafälle eingeladen – wo dann nicht Ausbildung, sondern Sightseeing angesagt war. Auch die Pseudostudien tauchen im Zusammenhang mit chinesischen Ärzten auf. Und die Excel-Sheets, in denen die Ärzte kategorisiert werden: in Normalos und in «Geld-Anbeter».

Die SEC-Untersuchung sollte auch ihre Schatten nach Griechenland werfen. Im Zuge der Ermittlungen sagen zwei Zeugen von Novartis Hellas in den USA aus – und legen 4000 Zahlungen an griechische Mediziner offen.

Es ist genau die Art von Information, auf die man in Athen gewartet hat.

6. Aufruhr im griechischen Parlament

Das Jahr 2017 beginnt in Griechenland auf höchst eigentümliche Weise: mit dem Suizidversuch des Ingenieurs auf dem Dach des Hilton-Hotels in Athen. Als ihn die Polizei vernimmt, bricht er zitternd zusammen. «Man will mir die Schuld in die Schuhe schieben für alles, was bei Novartis passiert ist», klagt er. Novartis-Gate nimmt seinen Lauf.

Zwei Tage später kündigt Justizminister Stavros Kontonis an, gegen den Konzern werde ermittelt. Ein Rechtshilfegesuch erreicht die Schweiz. Kontonis nennt die Affäre «viel bedeutender» als den Siemens-Skandal. Eleni Touloupaki, frisch zur obersten Korruptionsjägerin des Landes ernannt, reist in die USA, um sich mit dem FBI kurzzuschliessen. Inzwischen sind die Zeugen zu dritt, sie sagen das ganze Jahr über aus.

Die Vernehmungen enden am 4. Februar 2018 – am selben Tag, an dem die Erde von Athen unter dem Gewicht von Hunderttausenden Demonstranten bebt. Sie protestieren gegen das zahme Auftreten der Regierung Tsipras in der Mazedonien-Frage. Das Balkanland nördlich von Griechenland heisst offiziell FYROM, wird von den meisten Ländern aber Mazedonien genannt – ein Affront für viele stolze Griechen, die diese Bezeichnung als Teil ihrer hellenischen Identität für sich selbst beanspruchen.

Tsipras gerät unter Druck. Und prompt landet die Novartis-Akte zwei Tage später im griechischen Parlament. Die Namen der Involvierten sind jetzt bekannt, die Mazedonien-Proteste Schnee von gestern. Alle reden nur noch über Novartis-Gate, die respektierte Zeitung «Kathimerini» widmet ihm am Sonntag sieben Seiten. Zwei ehemalige Premierminister und mehrere Ex-Minister sind unter den Beschuldigten. Novartis-Gate ist jetzt ein doppelter Skandal: Zur Untersuchung einer fehlbaren Firma ist eine Politaffäre hinzugekommen.

Das Dossier lagert nun in einem abgeschlossenen Raum im ersten Stock des Parlamentsgebäudes. Nur jene Politiker, die in den Dokumenten genannt werden, und die Parteisprecher erhalten Einsicht in ausgewählte Passagen. Alle Angegriffenen streiten ihre Schuld ab. Sie sprechen von unbegründeten und «abscheulichen» Vorwürfen, von einer juristischen «Farce».

Im Parlament wird eine Dringlichkeitsversammlung einberufen. Leaks finden den Weg in die Presse und in soziale Medien. Die erste von vielen Entrüstungswellen bricht über die Syriza-Regierung ein: Offenbar wurde ein Regierungssprecher beim obersten Gerichtshof gesehen, kurz bevor der Staatsanwalt dort eintraf. Mischt sich hier jemand in die Justiz ein?

Schnell erreicht der Skandal auch die Europäische Union. Der einstige Gesundheitsminister Dimitris Avramopoulos, der unter Korruptionsverdacht steht, ist heute Kommissar für Flüchtlinge. In Brüssel rumort es: Negative Publicity in diesem heiklen Dossier kommt der EU nicht gelegen.

Kaum ein Tag vergeht in Athen ohne gegenseitige Schuldzuweisungen. Der Vize-Gesundheitsminister Pavlos Polakis plaudert aus, die Zeugen seien allesamt Novartis-Angestellte, die man bei der Selbstbereicherung ertappt habe. Oppositionspolitiker greifen die Regierung erneut an: Wie es überhaupt sein könne, dass ein Minister Zugang zu dieser geheimen Information habe.

Immer grössere Teile der Akte werden publik. Den anonymen Zeugen schlägt ein Sturm der Kritik entgegen. Ihre Aussagen scheinen extrem akkurat, etwa was den ehemaligen Novartis-Landesvizechef Frouzis angeht; er hat inzwischen Ausreiseverbot. Doch sie bleiben vage bei den vermeintlichen Schmiergeldzahlungen. Gerüchte über ein Bankkonto bei der UBS in Zürich machen die Runde. Doch es mangelt an Beweisen.

7. Täter und Opfer

Eine Woche ist der Skandal nun alt, und Griechenland ist gespalten. Auf der einen Seite stehen jene, die in Novartis-Gate einen typischen Korruptionsfall aus der Vorkrisen-Vetternwirtschaft erkennen. Auf der anderen Seite sind jene, die ein plumpes Ablenkungsmanöver der Regierung wittern: Ausser den Sparprogrammen der Troika geht im Land eigentlich nichts vorwärts.

Zehn Politikern wird Korruption, Amtsmissbrauch und Geldwäscherei vorgeworfen. Fast schon tragisch ist, dass zwei dieser drei Delikte gemäss Artikel 86 der griechischen Verfassung nicht strafbar sind – weil die Amtszeit der betreffenden Politiker bereits zwei Wahlperioden zurückliegt. Nur eine Anklage der Geldwäscherei wäre überhaupt zulässig. Um sie zuzulassen, müsste die Immunität der Politiker aufgehoben werden, und das kann nur das Parlament. Es entscheidet am heutigen Mittwoch über das Ansinnen.

Unterdessen hat Premier Tsipras den Druck auf Novartis erhöht. Mittels eines einfachen Dreisatzes rechnet er vor, dass die Schweizer Firma dem griechischen Staat einen Schaden von insgesamt 3,2 Milliarden Euro verursacht habe. Novartis kann zu dieser bombastischen Zahl nicht Stellung nehmen, die Firma muss aus juristischen Gründen den Mund halten.

Sie verweist auf ihr Statement: Die aktuelle Debatte beinhalte «zahlreiche Aufsehen erregende und unberechtigte Anschuldigungen im Rahmen einer politisierten Debatte». Man werde die Mitarbeitenden und das Unternehmen gegen die Anschuldigungen verteidigen.

8. Ein neuer Anfang

Was an den Anschuldigungen dran ist, lässt sich derzeit schwer beurteilen. Für alle genannten Personen gilt die Unschuldsvermutung, sowohl in der Politik als auch bei Novartis. Sicher ist nur eines: Novartis-Gate wird Griechenland noch eine Weile in Atem halten.

Was bleibt, ist eine Momentaufnahme: von zwei Akteuren, die beide einen Wandel durchmachen. Hier der verschuldete Mittelmeerstaat, der nicht länger Bananenrepublik, sondern Erstweltland sein will – dort das mehrfach belastete Unternehmen, das eine neue Ethikkultur einführen und mit seinem neuen Firmenchef Vasant Narasimhan das Vertrauen der Gesellschaft wiedergewinnen will.

Ob das gelingt? Der Ausgang von Novartis-Gate wird es zeigen.

Update: Novartis wurde im Juni 2020 von der US-Justiz wegen Korruption in Griechenland zu einer Zahlung über 345 Millionen Dollar verurteilt. Der Novartis-Angestellte, der mutmasslich in den Fall verwickelt ist und sich in Athen das Leben nehmen wollte, wurde in einer früheren Textversion namentlich genannt. Die betreffende Person hat uns gebeten, den Namen zu entfernen. Wir kommen diesem Wunsch nach. Es besteht kein öffentliches Interesse an einer Namensnennung.