Mordsteure Briefe
Eine Frau erhebt schwere Vorwürfe gegen einen Mann: Gewalt, Kinderpornografie, sexuelle Übergriffe. Klingt nach #MeToo – und einem klaren Fall? Stimmt. Aber anders, als man denkt.
Von Yvonne Kunz, 21.02.2018
Ort: Obergericht Zürich
Zeit: 16. Januar 2018, 13.30 Uhr
Geschäfts-Nr.: GG160148-L / U
Delikt: Mehrfache üble Nachrede im Sinne von Art. 173 StGB
So grundsätzlich geht es vor Gericht selten zur Sache. Schon gar nicht in einem Berufungsprozess, wo es oft nur um juristische Finessen geht. Doch dieser Fall ist anders: Eine Frau hat einen Mann angeschwärzt – und wurde dafür verurteilt. Jetzt will sie in zweiter Instanz einen Freispruch. Und richtet dafür mit der grossen Kelle an. Dass sie überhaupt vor Gericht stehe, sei «eine perverse Umkehrung der Wahrheit». Sie beharrt auf ihren Anschuldigungen, für die sie schon einmal verurteilt wurde, schliesslich sei der Mann ein Exponent der Schweizer Fotografiegeschichte: «Die Öffentlichkeit muss wissen, dass er kein integrer Mensch ist!»
Er sei ein lüsterner Grüsel, ein grausamer Sadist, ein Hochstapler und ein Kinderpornograf – sagt die Frau.
Die Anschuldigungen träfen ihn schwer, seien einzig dazu da, den Ruf des Mannes als international renommierter Fotograf zu zerstören, er fürchte um sein Lebenswerk – sagt die Anwältin des Mannes.
Von der Anklägerin zur Angeklagten
Als die Geschichte 2013 ihren Anfang nahm, schien alles im Lot. Sie, Fotojournalistin, hatte auf dem zweiten Bildungsweg ein Universitätsstudium abgeschlossen. Er, eine kleine Legende der Schweizer Werbefotografie im fortgeschrittenen Alter, arbeitete an seinem Vermächtnis. Sie hatte ihn schon früher bewundert und wollte seine Verdienste in einer kulturhistorischen Doktorarbeit festhalten. Er war geschmeichelt und lieh ihr für das Vorhaben mehrere zehntausend Franken.
Sie habe die Konstellation, sich für eine wissenschaftliche Arbeit bezahlen zu lassen, zwar problematisch gefunden, sagt die Frau auf eine entsprechende Frage des Richters. Aber die gemeinsame Euphorie habe die Bedenken weggewischt.
Die Angeklagte sprach mit Dutzenden Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern des Fotografen. Eine «Oral History» wollte sie schreiben. Sie forschte zu technischen Aspekten, spezifischen Druckverfahren, kreativen Prozessen und Produktionsabläufen.
Aber als sie sich durch die Archive wühlte, war sie angewidert: Sie fand Bilder von nackten Kindern mit klar pornografischem Charakter, wie sie «als Fachfrau» meint. Die Ergänzungen aus den Interviews fügten sich für sie zum schlüssigen Bild eines trunksüchtigen Cholerikers, der seine Mitarbeitenden mit gewalttätigen Ausbrüchen tyrannisierte und deren Arbeit als die eigene deklarierte. Weibliche Mitarbeiterinnen seien zum Teil massiv sexuell belästigt worden – auch sie selber: «Er hat allen Frauen Avancen gemacht – aus Prinzip.»
Die Frau sagte nichts. Brachte stattdessen die Schilderungen zu Papier, «korrekt und nüchtern», wie sie glaubt.
Doch dann zerstritten sich die beiden. Die Angeklagte sagt, der Fotograf habe angefangen, sie zu plagen: Er schrieb wüste Briefe, schaltete bald einen Anwalt ein. Dann wollte er sein Geld zurück, leitete die Betreibung ein. Jetzt schrieb sie dafür Briefe mit wüsten Anschuldigungen. Nicht an ihn, sondern an seine Anwälte, Berufsverbände, Kunstmuseen, Galeristinnen. Und, etwas bizarr, dem Betreibungsamt.
Wegen der fünf Schreiben an rund dreissig Personen zeigte der Fotograf sie an, im März 2017 wurde sie in erster Instanz schuldig gesprochen.
Von Recht und Gerechtigkeit
Die Frau gehört zu den seltenen Angeklagten, die sich selbst vor einem höheren Gericht nicht anwaltlich vertreten lassen. Und so kommt es vor dem Zürcher Obergericht, wie es kommen muss: Volkstümliche Vorstellungen von Gerechtigkeit im moralischen Sinn krachen mit juristischen Definitionen von Recht zusammen.
Rechtsgelehrte suchen ihre Argumente in den Details der Gesetzbücher, juristische Selbstverteidigerinnen hauen hemmungslos auf die grosse Pauke: Uno-Charta, EU-Menschenrechtskonvention, in diesem Fall die Bundesverfassung – konkret: die dort verbriefte Wissenschaftsfreiheit. «Meine Aussagen sind Forschungsresultate», sagt die Angeklagte. «Dürfen denn hässliche Wahrheiten nicht benannt werden?» Die Missstände hätten über Jahrzehnte bestanden, der Mann habe viel Macht in seinen Ateliers gehabt und sie systematisch missbraucht, ohne dass es jemand gewagt hätte, ihn anzuzeigen. Und dann hievt sie den Fall auf die höchste, aktuellste Ebene: «Harvey Weinstein, meine Damen und Herren, genau eine solche Situation haben wir hier.»
Juristisch ist die Sache unkompliziert: Die Frau ist schuldig. Inhaltlich wirft sie aber eine ganze Reihe spannender Fragen auf.
Die Verfehlungen des Hollywoodmoguls Harvey Weinstein brachten die #MeToo-Kampagne ins Rollen. Die Bewegung schlägt eine Kerbe in den Zeitgeist: Es kamen Übergriffe ans Licht, die zuvor durch einen Mantel des Schweigens geschützt worden waren. Als Nebeneffekt schien es plötzlich verblüffend einfach, einen Ruf, eine Karriere zu ruinieren.
Das provozierte einen umgekehrten Aufschrei: Der Rechtsstaat gehe vor die Hunde, die Unschuldsvermutung sei dahin, und überhaupt – ist das nicht längst alles verjährt?
Juristisch gesehen sind die Einwände richtig. Über die Unschuldsvermutung schrieb der legendäre britische Anwalt und Autor John Mortimer, sie sei das goldene Band, das sich durch jede progressive Vorstellung von Recht ziehe. Das ordentliche Verfahren stellt unter anderem Verhältnismässigkeit, öffentliches Interesse und Treu und Glauben sicher. Und die Verjährung ist ein Pfeiler des Rechtsfriedens.
Diese Grundsätze der Rechtsprechung sind nicht nur abstrakte Leitplanken, sie sind Richtlinien des zivilisierten Umgangs.
Aber natürlich heisst Unschuldsvermutung nicht, dass Opfer schweigen müssen. Natürlich heisst Verjährung nicht, dass vergangene Ungeheuerlichkeiten für immer unter Verschluss bleiben müssen. Sonst wäre es unmöglich, Systeme des Schweigens aufzubrechen. Wer mit hehren Absichten anprangert, kann deshalb auch vor Gericht durchaus mit Gnade rechnen.
Im vorliegenden Fall aber hat der Richter keine Zweifel: Die Frau verfolge kein nobles Ansinnen. Das einzige erkennbare Motiv: Rache. Immer wenn der Fotograf sein Geld zurückwollte, deckte sie ihn mit Anschuldigungen ein. «Eine solche systematische Rufzerstörungskampagne, das geht einfach nicht», sagt der Gerichtspräsident. Öffentliches Interesse? «Wer hat denn etwas davon, zu wissen, dass der Fotograf vor dreissig Jahren jemanden belästigt haben soll?»
Von Rache und Geld
Etwas anders wertet das Gericht einen Brief mit Anschuldigungen an ein Kunstarchiv. Es müsse erlaubt sein, heikle Inhalte zu melden. Zwar seien die Mädchenakte, die dem Gericht vorlägen, nicht pornografisch. Geschmacklos allerdings: «Solche Bilder sollten nicht gemacht werden.» Die Mitteilung an die Betreibungsbeamten hingegen sei nun wirklich nicht durch öffentliches Interesse gedeckt. Hier gehe es nur um die Verbreitung von verleumderischen Informationen.
Das Gericht hat nicht den Wahrheitsgehalt der ehrverletzenden Aussagen beurteilt. Ob sich der Meisterfotograf tatsächlich mit fremden Federn geschmückt oder nicht vielleicht doch an einem Model vergangen hat, hat das Gericht nicht geklärt. Das sei eben nicht die Frage. Entscheidend sei einzig: Es gebe niemanden, der dies rechtsgenügend bezeuge.
Das Gericht verurteilt die Frau erneut, zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 30 Franken bedingt. Alle Gerichts- und Untersuchungskosten werden der Frau auferlegt. Auch die Anwaltskosten des Fotografen muss sie zahlen. Und sogar noch Genugtuung für das Opfer, den Fotografen. Sie solle die Übung abbrechen, ermahnt sie der Richter zum Schluss. Sie werde nämlich mordsteuer: Im Moment steht die Rechnung bei rund 35’000 Franken.