Gespräch mit Didier Eribon – Gespräch mit Didier Eribon

«Der Front National spielt damit, dass er an den Stolz appelliert»

Warum gibt es heute eine Gay Pride, aber die Arbeiter schämen sich, Arbeiter zu sein? Weil die Scham der Herkunft nicht verschwindet, sagt Didier Eribon. Teil 2 des Gesprächs.

Von Daniel Binswanger und Stephanie Füssenich (Bilder), 20.02.2018

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Eribon beim Überqueren einer Strasse in Paris
Didier Eribon am vergangenen Samstag, 17. Februar, in Paris.

Im ersten Teil des Interviews mit der Republik sprach Didier Eribon über das Theaterstück, das aus seinem Bestseller «Rückkehr nach Reims» entstanden und von der Berliner Schaubühne inszeniert worden ist. Und er warf den europäischen Linken ihre neoliberale Wende vor - ein Thema, das ihn seit Jahren umtreibt. Er sagte: «Man darf die sozialen Fragen, das heisst die Arbeiterklasse und die Probleme der Unterschicht im Allgemeinen, nicht den Fragen des Feminismus, der Minderheitenrechte, des Umweltschutzes entgegensetzen.»

Herr Eribon, Sie sagen, der Niedergang der Linken habe damit angefangen, dass sie in den 1980er-Jahren die Unterschicht im Stich gelassen und sich nicht mehr für soziale Bewegungen interessiert hat. Es gab aber mindestens einen französischen Intellektuellen, der sich mit absoluter Vehemenz für die sozial Schwachen engagiert hat: Pierre Bourdieu.
Ich habe Bourdieu im Jahr 1979 kennengelernt. Er war ein Freund, mehr als ein Freund. Es gab zwischen uns während 22 Jahren – bis zu seinem Tod im Jahr 2002 – eine enge Komplizenschaft. Aus meiner Sicht ist Bourdieu der grösste europäische Denker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, gemeinsam mit Sartre. Auch mit Foucault, über den ich ja eine Biografie geschrieben habe, verband mich eine enge Beziehung, aber ich bin viel weniger «Foucauldianer» als «Bourdieusianer».

Das heisst, der theoretische Bezugsrahmen Ihrer Arbeit kommt in erster Linie von Bourdieu?
Ja, aber es geht nicht darum, ihn nachzubeten. Ich versuche Bourdieu kritisch weiterzuentwickeln, mit seinen Begrifflichkeiten und Analysen zu arbeiten, um etwas Neues zu schaffen. «Rückkehr nach Reims» ist ein gänzlich «bourdieusianisches» Buch, aber es versucht, seinen Ansatz zu erweitern, und es treibt die Auseinandersetzung mit neuen Problemfeldern voran. Es ist nicht nur eine Autobiografie, sondern auch eine theoretische Reflexion. Es will die Soziologie der Bildungssysteme neu beleuchten oder die Frage nach dem Wesen einer politischen Partei – die Frage danach, wie sich die Wählerschaft einer Partei konstituiert und wie sich soziale Schichten durch die Repräsentation im politischen Diskurs einer Partei herausbilden können. Mit all diesen Fragen hat sich auch schon Bourdieu auseinandergesetzt, aber ich versuche die Antworten der heutigen Welt anzupassen.

Es ist deutlich, dass «Rückkehr nach Reims», aber auch «Die Gesellschaft als Urteil» stark von Bourdieus Spätwerk «Ein soziologischer Selbstversuch» beeinflusst ist. Aber es wird auch deutlich, dass Sie Bourdieu vorwerfen, nicht weit genug gegangen zu sein.
Der Titel des «soziologischen Selbstversuchs» zeigt ja schon an, worum es sich handelt (der französische Titel lautet «Esquisse d’une autoanalyse»: Skizze einer Selbstanalyse, Anm. d. Red.). Es ist eine Skizze, ein Entwurf. Der Text hätte erst auf Deutsch bei Suhrkamp erscheinen und dann für die französische Version noch einmal überarbeitet und entwickelt werden sollen. Aber Pierre ist noch vor der deutschen Veröffentlichung gestorben. Als er mir kurz vor seinem Tod das Manuskript gezeigt hat, habe ich sehr offen meine Kritik angebracht, wie wir das immer gemacht haben. Er meinte: «Ich notiere das, ich werde das Buch überarbeiten für die französische Fassung.» Dazu ist es dann aber nicht mehr gekommen. Man kann dem Buch schlecht vorwerfen, dass es nicht weit genug gehe. Es ist unvollendet.

Was werfen Sie dem Buch inhaltlich vor?
Es gibt bei Bourdieu zwei zentrale Grundbegriffe: das «Feld» und der «Habitus». Das Feld umfasst die sozialen Regeln, welche einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens beherrschen, etwa die Religion, die Wirtschaft oder auch die akademische Forschung. Der Habitus bezeichnet alle sozialen Prägungen und Reflexe, durch die ein Individuum bestimmt wird und durch die es seinen Platz in den sozialen Hierarchien findet. Der Habitus hat sehr viel mit der sozialen Herkunft und der Biografie des Individuums zu tun.

In seinem Selbstversuch analysiert Bourdieu sehr ausführlich das Feld, in dem er sich bewegt, also die Soziologie als akademische Forschung. Aber er sagt wenig zu seinem Habitus, zu seiner Lebensgeschichte. Er analysiert das «Feld» des intellektuellen Diskurses, so wie er ihn vorfindet, als er als Zwanzigjähriger nach Paris kommt. Aber er vernachlässigt seine Familiengeschichte und seine Herkunft, obwohl sie ganz offensichtlich für seine intellektuelle Entwicklung ebenfalls sehr wichtig waren. Beispielsweise sagte er, dass gerade seine Ablehnung der Philosophie von Sartre, ja der Philosophie überhaupt, und sein Entscheid, Soziologe zu werden, bestimmt wurde von seinem Habitus, von seiner Herkunft aus extrem bescheidenen Verhältnissen. Er stellt die Vermutung auf, dass es sich um eine unbewusste Ablehnung einer bürgerlichen Vorstellung von Intellektualität gehandelt haben muss. Aber er erzählt praktisch nichts über seine familiäre Herkunft, über seine Sozialisierung durch das Bildungssystem oder über seine sexuelle Entwicklung.

«‹Die männliche Herrschaft› von Pierre Bourdieu wurde lange ignoriert, heute wird seine kapitale Wichtigkeit wiederentdeckt.»

Er treibt die Selbstreflexion also nicht weit genug?
Sein «Selbstversuch» inspirierte mich letztlich dazu, «Rückkehr nach Reims» zu schreiben. Er war einerseits für mich das Modell, dem ich folgen musste, andererseits aber auch das Gegenmodell. Ich wollte da hingehen, wo Bourdieu nicht hingeht. Ich hätte «Rückkehr nach Reims» auch «Bourdieusche Meditationen» nennen können – ein Titel, den ich phasenweise tatsächlich verwenden wollte. Es ist eine soziologische Reflexion im Ausgang von Bourdieus Grundintuitionen, und es ist eine Auseinandersetzung mit der Frage, was ich seinem Werk verdanke. Und natürlich ist nicht nur der «Selbstversuch» für mich entscheidend, das sind auch seine Hauptwerke wie «Die feinen Unterschiede» oder «Die Illusion der Chancengleichheit» oder «Die männliche Herrschaft», ein Buch, das ja lange ignoriert wurde und dessen kapitale Wichtigkeit heute wiederentdeckt wird.

Gibt es nicht allgemein eine Bourdieu-Renaissance?
Das wird behauptet. Aber er ist immer noch weit davon entfernt, die Rolle zu spielen, die er spielen sollte.

Close up Eribon
«Weshalb war es mir überhaupt möglich, mit meinem Herkunftsmilieu zu brechen?» Didier Eribon am vergangenen Samstag, 17. Februar, in Paris.

Aber es ist doch zum Beispiel nun grade «Für Pierre Bourdieu» von dem jungen Soziologen Marc Joly erschienen – und er stösst in Frankreich auch auf ein gewisses Echo.
Aber das ist ein fürchterliches Machwerk! Es neutralisiert die Lehre Bourdieus. Es unterwirft seine Soziologie einem akademischen Konformismus. Dabei ist es Bourdieu doch genau darum gegangen, die Grenzen des akademischen Feldes zu sprengen. Bourdieu war ja nicht nur ein grosser Intellektueller. Er war ein politischer Aktivist. Im Zentrum stand für ihn der Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse. Schauen Sie sich «Gegenfeuer» an («Contre-Feux»), die Sammlung seiner politischen Schriften. Das sind grossartige Texte, weil Bourdieu echte Risiken eingegangen ist. Also wenn das Erbe von Bourdieu heute darin bestehen soll, dass man empirische Umfragen über Supermarktkassierinnen macht … Ich bin weiss Gott nicht gegen empirische soziologische Studien, aber es gibt heute den Versuch, das kritische Potenzial von Bourdieu ganz einfach zu liquidieren.

Aber es sind doch schon grundsätzliche Fragestellungen, die in diesen Debatten jetzt verhandelt werden. Beispielsweise die Erkenntnis, dass der methodologische Individualismus, das heisst die Prämisse, dass Individuen immer unabhängig voneinander auf Anreize reagieren und persönliche Motive verfolgen, auch seine Grenzen hat. Weil es eben sehr wohl kollektive Konditionierungen gibt.
Einverstanden. Aber haben wir es wirklich nötig, das heute wieder zu entdecken? Das sind doch die Debatten der 1960er-Jahre. Bourdieu hat damals mit dem methodologischen Individualismus gebrochen. Ich sehe nicht, weshalb wir das erneut tun müssten.

«Die meisten Menschen kommen mit einem negativen symbolischen Kapital auf die Welt, einer Art nicht rückzahlbarer Schuld: Sie sind schwarz oder arm oder weiblich oder schwul.»

Wo müsste man denn ansetzen, um produktiv mit Bourdieus Erbe umzugehen?
In «Gesellschaft als Urteil» versuche ich es schon mit dem Titel zu signalisieren: Wir leben alle in einer Struktur von gesellschaftlichen Be- und Verurteilungen, die unsere Existenz bestimmen. Bei Bourdieu ist die Reflexion auf dieses Phänomen über sein Werk verstreut. Wir müssen es in seiner Gesamtheit begreifen. Die meisten Menschen kommen mit einem negativen symbolischen Kapital auf die Welt, einer Art nicht rückzahlbarer Schuld: Sie sind schwarz oder arm oder weiblich oder schwul. Es wird ihnen ein inferiorer, unterwürfiger, schambesetzter Platz in der sozialen Hierarchie zugewiesen. Diese sozialen Verurteilungen gehen der individuellen Existenz voraus und bestimmen sie.

Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Beispiel, von dem ich in meinen Büchern ausführlich spreche, ist die Schriftstellerin Violette Leduc. Sie schildert in «Die Bastardin», ihrer Autobiografie, wie sie erfährt, dass sie ein uneheliches Kind ist. Ein Nachbar ruft ihr auf der Strasse «dreckige Bastardin» hinterher. Darauf geht sie nach Hause und fragt ihre Mutter: «Was ist das, eine Bastardin?» Ihre Mutter kann ihr nicht mehr sagen als: «Das ist nichts.» Das heisst, es ist die Beleidigung, die ihr anzeigt, wer sie ist. Die Beleidigung ist so vernichtend, weil sie bloss ein soziales Urteil überbringt, das schon bei ihrer Geburt gefällt war. Das soziale Stigma der Unehelichkeit existiert unabhängig von ihr, sie kann sich nicht dagegen wehren, dass es ihr angeheftet wird. Und natürlich hat das Stigma auch mit Sozialstrukturen zu tun und mit ökonomischen Machtverhältnissen. Die Mutter von Leduc war Putzfrau, wurde von einem Herrensöhnchen aus gutem Haus geschwängert, und natürlich war undenkbar, dass dieser Vater das Kind anerkannte. Ihre Mutter trug also allein die Last einer Tochter, die sie nie wollte und die sie ihr Leben lang gehasst hat dafür, dass sie existiert. Die Folge davon war, dass die Tochter ihre Unehelichkeit erlebte wie eine Verfehlung, die sie selber zu verantworten hatte. Der gesellschaftlichen Verurteilung war Leduc ausgeliefert.

Das ist nicht nur die Geschichte von Violette Leduc. Es ist auch die Geschichte Ihrer eigenen Mutter.
Ja, meine Mutter war auch eine solche «Bastardin». Und ihr ganzes Leben lang war sie absolut besessen von ihrem Status als vaterlose Tochter. Deshalb wohl hat Leduc für mich eine grosse Rolle gespielt. An ihrem Beispiel konnte ich rekonstruieren, wie eine soziale Verurteilung funktioniert. Wenn Sie schwul sind, wird der Tag kommen, an dem Ihnen jemand «dreckige Schwuchtel» hinterherruft, und sie verstehen erst gar nicht, was da vor sich geht. Sie verstehen nicht, weshalb Sie stigmatisiert, beleidigbar, verurteilt sind. Es ist die zerstörerische Macht des sozialen Urteils.

Ihr Essay «Reflexionen über die Schwulenfrage» («Réflexions sur la question gay») wurde auf Englisch übersetzt mit «Beleidigung und die Konstruktion der schwulen Identität» («Insult and the Making of the Gay Self»). Die soziale Macht der Beleidigung ist für Sie ein zentrales Thema. Sie entwickeln die Theorie, dass das einzige Mittel, der Beleidigung zu widerstehen, darin liegt, Stolz zu entwickeln, das Stigma in eine Auszeichnung zu verwandeln. Liegt das Problem der Unterschichten nicht darin, dass es keinen Arbeiterstolz mehr gibt?
Das ist in der Tat ein Problem. Nehmen Sie die Schwarzenbewegung in den USA, die sich hinter dem Slogan «black is beautiful» scharte. Da ging es genau darum, die Schande in Stolz umzudeuten. Oder natürlich die Schwulenbewegung mit der Gay Pride. Was die Arbeiterklasse anbelangt, ist der Stolz tatsächlich verschwunden, ganz einfach weil es die Arbeiterklasse, wie sie in den 50er- und 60er-Jahren existiert hat, nicht mehr gibt.

Weil es kein Klassenbewusstsein mehr gibt? Und auch keine entsprechende politische Repräsentation?
Als wir für die Bühnenfassung von «Rückkehr nach Reims» mit dem Regisseur Thomas Ostermeier Filmsequenzen drehten, haben wir auch die Fabrik besucht, in der meine Mutter lange Jahre gearbeitet hatte. Heute ist diese Fabrik stillgelegt, eine Industrieruine. Ich habe etwas recherchiert: Zu Zeiten meiner Mutter wurden dort 1700 Angestellte beschäftigt, und davon waren etwa 500 Mitglied der CGT, der Gewerkschaft, die der Kommunistischen Partei nahestand. Es gab regelmässig grosse Streiks. Die Arbeiter aus der Generation meiner Mutter sind heute in Rente oder gestorben. Aber wo sind ihre Kinder und ihre Enkel? Die Industrie ist in Reims zurückgegangen, doch es gibt noch Fabriken. Was es nicht mehr gibt, ist die breite Gewerkschaftsbewegung. Deshalb besteht auch die Idee nicht mehr, dass die Arbeiter eine gesellschaftliche und politische Macht darstellen, die zählt im öffentlichen Raum.

Und wo sind nun die Kinder und Enkel?
Sie sind viel isolierter. Es gibt nicht mehr den Begegnungsort der Fabrikhalle, der sie alle verbunden hat – innerhalb und ausserhalb der Gewerkschaften. Sie haben jedoch immer noch eine Möglichkeit, Protest zum Ausdruck zu bringen: die Stimme für den Front National. Natürlich spielt gerade der Front National damit, dass er an Gefühle wie Stolz appelliert. Nur ist es dann eben nicht Klassenstolz, sondern Nationalstolz.

«Die Industrie ist in Reims zurückgegangen, aber es gibt noch Fabriken. Was es nicht mehr gibt, ist die breite Gewerkschaftsbewegung.»

Stolz kann also auch ein zerstörerischer Affekt sein?
Stolz ist in vielerlei Hinsicht eine ambivalente Angelegenheit. Die «Gay Pride» oder auch die «Black Pride» sind positive Energien, die Veränderungen herbeiführen. Der Arbeiterstolz hat aber auch etwas sehr Konservatives. Er kann dazu führen, dass alles bestehen bleibt. Einerseits war die Arbeitersolidarität sehr positiv. Es gab die kommunistischen Städte, mit ihren Kulturzentren, ihren Gewerkschaftshäusern, einer starken kollektiven Organisation. Diese Kultur ist verschwunden und hat die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. Aber der Stolz kann auch eine Falle sein. Er kann wie ein Zwang, ein gewisses Schicksal auf sich zu nehmen, funktionieren. Paul Willis hat dazu das entscheidende Buch geschrieben: «Spass am Widerstand. Learning to Labour». Er untersucht darin die englischen Arbeiterkinder, die sich selber von Aufstiegschancen ausschliessen, weil sie die Schule ablehnen und überzeugt sind, dass Bildung für echte, virile Unterklasse-Jungs keinen Wert darstellen darf. Das ist höchstens etwas für Mädchen und Schwule. Ihr Klassenstolz hindert sie daran, die Chancen, die ihnen das Bildungssystem bietet, zu ergreifen. Er ist der Mechanismus, der dazu führt, dass sie den sozialen Status ihrer Eltern reproduzieren.

Ist das die Antwort auf eine der Grundfragen, die sie in «Rückkehr nach Reims» stellen: Weshalb habe ich, der ich ein intellektueller Vorkämpfer der Gay Pride bin, so grosse Schwierigkeiten, auf meine proletarische Herkunft stolz zu sein?
Zunächst stellt sich natürlich die Frage, weshalb es mir überhaupt möglich war, mit meinem Herkunftsmilieu zu brechen. Welche Bedingungen müssen zusammenkommen, damit so etwas geschieht? Wie kann man seinem Schicksal entgehen? Und welche Brüche mit dem sozialen Umfeld, der Familie, dem Herkunftsmilieu sind dazu unerlässlich? Ein Cousin von mir, der «Rückkehr nach Reims» gelesen hat, schrieb mir einen Brief. Er schrieb: «Didier, du erzählst nur Scheisse. Ich verstehe nicht, weshalb du geschrieben hast, dass du dich für deinen Bruder schämst, der Metzger ist. Ich bin auch Metzger. Ich schäme mich nicht.» Natürlich ist diese Reaktion vollkommen nachvollziehbar. Ich respektiere sie. Aber sie stellt die Frage: Wie konnte dieser Abstand zwischen mir und meinem Bruder, zwischen mir und meinem Cousin entstehen?

Aber es gibt ja nicht nur den sozialen Abstand. Es gibt auch die Tatsache, dass Sie sich lange für Ihre proletarische Herkunft geschämt haben.
Das stimmt, auch wenn sich das über die Jahre geändert hat. Aber dass man die Scham analysiert, bedeutet nicht, dass sie verschwindet. Anfang der 90er-Jahre wollte Pierre Bourdieu, dass eine seiner Mitarbeiterinnen meine Mutter für eine soziologische Studie interviewt, und ich habe es nicht zugelassen. Auch wenn das absurd erscheinen mag: Es war mir zu peinlich. Jetzt liess ich mich gemeinsam mit meiner Mutter filmen für die Bühnenversion von «Rückkehr nach Reims». Thomas Ostermeier wollte das so, und ich habe ihm gesagt: Ich werde meine Mutter fragen, aber sie wird nicht wollen. Sie hat sofort zugestimmt. Sie war sehr glücklich darüber und meinte immer: dass ich in meinem Alter noch Schauspielerin werde … Thomas wollte sie für die Premiere nach Berlin kommen lassen. Auch diesem Ereignis fieberte sie entgegen. Sie fragte mich ständig: Wann kommen jetzt deine Freunde, die mich nach Berlin bringen? Aber sie war schon zu krank. Kurze Zeit später ist sie gestorben. Das war sehr schwierig.

«Es ist auch die Macht der 68er-Mythen, die mir ermöglichte, ein anderer zu werden, als ich gewesen war.»

War der entscheidende Faktor, der Sie aus Ihrem Herkunftsmilieu herausgerissen hat, nicht Ihre Homosexualität?
Wenn ich nicht homosexuell wäre, hätte ich höchstwahrscheinlich die Karriere eines jener «working class kids» eingeschlagen, die Paul Willis beschreibt. Das heisst, ich hätte mich selber aus dem Schulsystem eliminiert, weil ich wie meine Brüder die Schule abgelehnt hätte. Es sind ja die Mechanismen der Selbsteliminierung, die dazu führen, dass die Kinder der Unterschicht so schwer aufsteigen können. Meine Homosexualität hat dazu geführt, dass ich mich mit den Macho-Werten der anderen Jungs nicht identifizieren konnte. Und dass das Interesse für Bücher und andere «abgehobene» Dinge eine Möglichkeit war, mein Anderssein zum Ausdruck zu bringen.

Sie schreiben aber auch, dass die Homosexualität es Ihnen überhaupt erst ermöglicht hat, in Paris Fuss zu fassen. Sie verschaffte Ihnen Zugang zu Milieus, die sozial offener waren. Die es Ihnen schliesslich ermöglichten, im Journalismus unterzukommen und ein Auskommen zu finden. Obwohl Sie keine Connections hatten und nicht zur Pariser Bourgeoisie gehörten.
Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich mit 22 oder 23 meine Zelte in Paris sicherlich wieder abbrechen müssen und wäre irgendwo in der Provinz Aushilfslehrer geworden. Ich hatte keine «Grande Ecole» besucht, ich hatte nicht die nötigen Diplome. Es hätte für mich keine Perspektiven gegeben. Aber neben meiner Homosexualität gab es noch einen zweiten entscheidenden Faktor: die politisch-intellektuelle Konjunktur im Post-68er-Frankreich.

Was hat das mit Ihrer Biografie zu tun?
Die Strahlkraft der Intellektuellen in den 70er-Jahren war enorm. Ich war fasziniert von Figuren wie Sartre und de Beauvoir, später auch von Bourdieu, Foucault, Marguerite Duras. Sie verkörperten eine eigene Welt, einerseits durch ihr Werk, andererseits aber auch durch 68 und durch ihr politisches Engagement. Und sie vermittelten ein gewisses Bild vom intellektuellen Leben, von Paris, von Montparnasse. Es ist auch die Macht dieser Mythen, die mir ermöglichte, ein anderer zu werden, als ich gewesen war.

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