Nerds retten die Welt!
Folge 2: Gespräch mit Lorenz Adlung, Systemtheoretiker und Poetry-Slammer.
Von Sibylle Berg, 20.02.2018
Lorenz Adlung ist Systembiologe am Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel), Department of Immunology. Hobbys: Science-Slam-Poetry.
Guten Morgen Herr Adlung, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Nein. Ich zähle mich nicht zu den besorgten Bürgern. Im Gegenteil, ich bin ein freier Forscher, der den Leuten mit Fakten die Angst nehmen und Hoffnung schenken möchte.
Gelingt es Ihnen, Ihren Beruf in drei Sätzen zu beschreiben?
Ich könnte mich Thomas-Mann-Sätzen epischer Länge bedienen, aber das sollte nicht nötig sein. Es genügt ein Satz: Ich erforsche mittels mathematischer Modellierung biologischer Prozesse die Wechselwirkung zwischen persönlicher Ernährung, Darmbakterien, Stoffwechselprodukten und dem Immunsystem in unserem Körper.
Das klingt einfach. Wie sieht, falls es das für Sie gibt, ein normaler Tagesablauf aus?
6 Uhr: Aufstehen.
7–8 Uhr: Querlesen, was so veröffentlicht wurde. Nach Möglichkeit nicht allzu themenspezifisch, um die Scheuklappen zu erweitern.
«Wissenschaft scheitert nicht daran, dass Forschungsergebnisse unerwartet sind, sondern daran, dass Forschungsergebnisse ignoriert werden.»
8–10 Uhr: Erste Experimente starten. Im Maus-Haus vorbeischauen, wo unsere Versuchstiere gehalten werden. An der Laborbank Chemikalien, isoliertes Erbgut oder dessen Abschriften in Lösung pipettieren, den Pipettierroboter oder den Thermozykler einstellen.
10–11 Uhr: Vorlesungen bekannter Forscher, die gerade am Institut zu Gast sind, oder Treffen der Teammitglieder zur Besprechung eines aktuellen Projekts in der Gruppe besuchen.
11–12 Uhr: Programmieren einiger Analyse-Routinen.
12–13 Uhr: Mittagspause samt ausgiebiger Diskussion sozialer und wissenschaftsrelevanter Aspekte.
13–15 Uhr: Entweder weiter pipettieren oder programmieren, je nachdem, was gerade dringlicher ist.
15–16 Uhr: Interne Arbeitsbesprechung. Vorstellung einiger Versuchs-/Simulationsergebnisse in kleiner Runde.
16–19 Uhr: Entweder weiter pipettieren oder programmieren, je nachdem, was gerade dringlicher ist.
19–21 Uhr: Entspannte Recherche zu aktuellen Problemen bei Experimenten oder Simulationen. An Publikationen arbeiten.
21–22 Uhr: Auspowern im Fitnesscenter auf dem Campus.
Ich liebe es, Dinge zu pipettieren. Ich wusste mit sechs, was ich einmal werden wollte. Wann und wie fanden Sie zu Ihrem Beruf?
Mit dreizehn Jahren erhielt ich unter Hunderten Bewerbern die Zulassung zu einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Spezialgymnasium. Die Schule dort hat mich allerdings extrem gelangweilt. Ich besass deshalb weder Fleiss noch Ehrgeiz. Mir genügte, mit minimalem Aufwand ein mediokrer Schüler zu sein.
So beginnen eigentlich Beamtenkarrieren …
Zum Abitur sollte ich mit einem Durchschnitt von 1,3 noch zu den Schlechtesten des Jahrgangs gehören. Allerdings bemerkte ich, vielleicht gerade weil ich nicht für die Klausuren lernte, dass übergeordnete Prinzipien existieren, die man nicht auswendig lernen kann, sondern die man verstehen muss. Ich erkannte allmählich, dass das Leben nach den Regeln der Mathematik funktioniert.
Über dieser Idee sind schon Generationen von Mathematikerinnen verrückt geworden. Wenn man die biologischen Grundlagen verstanden hat, weiss man immer noch nichts über die dynamischen Aspekte, die Evolution.
Genau deshalb benötigt man Mathematik, ohne die das Ganze in seiner Komplexität kaum zu verstehen und abzubilden wäre. Ich habe mich entschieden, die Lebenswissenschaften als solche zu studieren, weil Mathematik, Physik, Chemie und Informatik nur deren an- oder abgewandte Teilaspekte behandeln. Also Biologie. Ab dem zweiten Bachelor-Semester habe ich neben dem molekularbiologischen Fokus zusätzliche Mathevorlesungen besucht und einem Projektbetreuer aus Schulzeiten, einem emeritierten Mathematikprofessor, enthusiastische Briefe geschrieben, in denen ich von der Systembiologie als Schnittmenge zwischen Mathematik und Biowissenschaften schwärmte. Keine zwei Jahre später sollte ich dann ebenjene Systembiologie als Studienrichtung im Master wählen. Wir haben dann teils experimentell und teils theoretisch gearbeitet. Das bedeutet, dass man im Labor bestimmte biologische Prozesse misst, etwa die Signalaktivierung in Blutzellen nach Hormonausschüttung, und diese Vorgänge mittels der generierten Daten am Computer durch mathematische Modelle simuliert.
Erinnern Sie sich an ekstatische Momente während des Studiums? Eben auch jenem Moment, wenn einem Menschen klar wird, seine Arbeit oder, kitschig gesagt, seine Berufung gefunden zu haben?
Als ich erstmals einige Aspekte biologischer Systeme berechnen konnte, die sich eben nicht einfach messen liessen, war das ein erhebendes Gefühl. Und jede Simulation am Computer kann, sofern sie ordentlich durchgeführt wird, potenziell ein Laborexperiment ersetzen oder zumindest komplementieren, was Mäuse- und perspektivisch auch Menschenleben zu retten vermag. Auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, ist enorm sinnstiftend. Seither gelte ich gemeinhin als «Wissenschaftsenthusiast».
Das Gefühl, für etwas ausserhalb seiner selbst zu brennen, ist grossartig. Man sollte meinen, es hülfe, sich in seiner albernen Sterblichkeit nicht so wichtig zu nehmen. Welcher konkrete Bereich hatte Sie erregt?
Während des Studiums und der Doktorarbeit wollte ich verstehen, wie Blutzellen Signale verarbeiten und sich vermehren. Das Wunderbare am systembiologischen Ansatz ist, dass er sich übertragen lässt. Ich wollte schlichtweg nochmals das Thema und die Methodiken wechseln, um einen ganzheitlichen Blick auf die Lebenswissenschaften zu erhalten. Jetzt fühle ich mich bereit, die grossen Fragen zu adressieren …
Ihre Doktorarbeit: «Identification of regulatory mechanisms controlling signal processing in erythroid progenitor cells using mathematical modeling» lese ich gerade. Ist ein Doktortitel wichtig, um später lehren zu können, um ernst genommen zu werden? Oder ist es beides, mit dem Zusatz, dass man eine schöne Klingelschild-Beschriftung hat?
Die Doktorarbeit dient der Qualitätskontrolle. Wem es gelingt, drei bis fünf Jahre an einem Thema zu forschen und die Ergebnisse halbwegs beachtlich zu veröffentlichen, der qualifiziert sich für Höheres. Das bedeutet konkret, dass man in den Projekten nach seiner Doktorarbeit noch mehr Eigenverantwortung erhält, wenn es darum geht, das Vorgehen strategisch zu planen, Gelder einzuwerben und Teammitglieder anzuweisen. Daneben existieren noch genügend Aufgaben, die von weniger qualifizierten Mitarbeitenden erledigt werden können: Biochemie- oder IT-Services zum Beispiel. Denn man benötigt keinen Doktortitel, um Puffer anzusetzen oder Datenbanken zu verwalten.
Ist meine Vorstellung von der friedlichen einsamen Welt der Wissenschaftlerinnen falsch? Ich höre immer wieder von Eitelkeit, Neid und Intrigen. Haben Sie davon schon etwas gespürt?
Nein, aber vielleicht bin ich dafür auch zu sehr Wissenschaftsromantiker. Meinem Gefühl zufolge sind Hackordnungen oder steile Hierarchien allerdings eher gruppenspezifisch und nicht systemisch. Die meisten Naturwissensschaffenden, die mir begegnet sind, legen keinen allzu grossen Wert auf Titel und können wohl eher als schnodderig denn als eitel gelten.
Jetzt arbeiten Sie am Weizmann-Institut in Israel. Es muss ein Traum für einen Post-Doktoranden sein. Das Bällebad der Wissenschaftler sozusagen.
Als ich vor etwas mehr als einem Jahr zum ersten Mal den paradiesischen Campus in Israel betrat und ich mit den exzellenten Forschenden zwischen topausgestatteten Laboren, Hochleistungsrechnern, Palmenhainen und Springbrunnen ins Gespräch kam, da war meine Entscheidung gefallen. Die Atmosphäre am Weizmann-Institut war einzigartig: offen, kollegial, freundlich. Dennoch war sofort klar, dass Wissenschaft einen hohen Stellenwert besitzt und die Ansprüche entsprechend gross sind. Enorme Anforderungen und Erwartungen werden mit einem Wirgefühl jedoch in Motivation und Enthusiasmus umgemünzt. Das passt sehr gut zu mir. Nach wie vor. Trotz anderer lukrativer Angebote bereue ich den Schritt nicht im Geringsten.
Gibt es wissenschaftliche Arbeiten, die Sie bewundern oder auch deren Brillanz Sie glauben nie erreichen zu können?
Alles, was Grenzen überschreitet, ist bewunderns- und erstrebenswert. Sobald es interdisziplinär wird, wenn Mathematiker mit Biologen zusammenarbeiten oder Ärzte mit IT-Spezialisten in den Austausch treten: Das schafft Innovation. Wissenschaft funktioniert nur im Team; je diverser, desto besser. Darum sollte man auch nicht einer Person oder einem Forschungsansatz nacheifern. Stattdessen lohnt es, auf Verbünde und Synergien zu schauen. Interdisziplinäre Kooperationen sind intellektuell nachhaltig und stimulierend. Ausserdem sind sie geboten in Anbetracht der Komplexität der Herausforderungen, vor denen wir stehen. Alleine kann die Probleme niemand lösen. Auch ich nicht.
Nun, ich wäre dazu in der Lage, aber es kommt immer etwas dazwischen. Menschen meistens. Haben Sie noch Hoffnung für diese launige Spezies?
Ja. Die Hoffnung auf einen gemeinsamen Wertekanon, was ethische Standards und gesellschaftsrelevante Fragen betrifft. Diskussionen müssen sachlich und auf Grundlage von Fakten geführt werden, allerdings offen und öffentlich; nicht hinter verschlossenen Türen der Elfenbeintürme. Wissenschaft existiert nur für und wegen der Gesellschaft, egal ob Grundlagen- oder anwendungsorientierte Forschung. Ich träume von einem freien Dialog. Dann kann unsere Arbeit ihre ganzheitliche Relevanz demonstrieren.
Wie erleben Sie gerade die Abnahme der Intelligenz der Menschheit? Man sagt, durch Umwelthormone und die Abhängigkeit von mobilen Endgeräten seien die Hirnareale für Kreativität drastisch beeinflusst worden.
Es liegt in meiner Verantwortung als Wissenschaftler, dem entgegenzutreten. Dafür nutze ich jede Bühne, die mir geboten wird. Das Internet, klar. Aber ich toure auch durch die Lande und versuche, den Leuten in zehn Minuten meine Forschung unterhaltsam nahezubringen. Das Format nennt sich Science-Slam. Dabei rappe ich auch immer – als Überraschungsmoment:
Daneben versuche ich, auf allerlei öffentlichen Veranstaltungen mit der Allgemeinheit ins Gespräch zu kommen, was nicht immer einfach ist, aber stets lohnenswert.
Macht die Abwertung der Wissenschaft durch Populisten Ihnen Angst? Die Befeuerung des Vorurteils von Menschen, die zu träge sind, ihre Intelligenz zu schulen, dass Wissenschaft schlicht nicht existiere?
Das ist wohl die grösste Gefahr für die Wissenschaft. Wissenschaft scheitert nicht daran, dass Forschungsergebnisse unerwartet sind, sondern daran, dass Forschungsergebnisse ignoriert werden. Die Qualitätssicherungsstandards in den Wissenschaften sind enorm hoch. Aber solide Befunde mit einer bestimmten Begrifflichkeit, wie Fake-News oder Filterblase, abzutun und sich als gesellschaftliche Mehrheit der Debatte zu entziehen, ist äusserst fahrlässig. Die sich aufschaukelnden Extreme der Ignoranten bereiten mir sehr grosse Angst.
Immer wieder ist von der Verbesserung der Lebensbedingungen auf der Erde die Rede. Gefühlt scheinen die Menschen der westlichen Welt aber in der schlechtesten aller Zeiten zu leben. Ist es mangelnde Information oder die Anmassung des seine Individualität überbewertenden Menschen, zu meinen, dass ihm alles zustünde, ohne dafür Ausserordentliches zu leisten?
Faktisch ging es den Erdenbürgern im Durchschnitt wohl nie besser als heute. Nun kann man aber niemandem vorschreiben, wie man sich zu fühlen habe, zumal das statistische Mittel nicht notwendigerweise das Individuum repräsentiert. Und bei allem Fortschritt der Wissenschaft existieren noch immer für viel zu wenige Krankheiten Erfolg versprechende Behandlungsmöglichkeiten, die allen Betroffenen auf der Welt zugänglich sind und helfen könnten.
Und in Deutschland?
Deutschland geht es gut; zumindest die Forschungslandschaften blühen. Bei allen löblichen Bemühungen, sich im internationalen Vergleich weiter zu verbessern, ist die Skepsis in der Bevölkerung unverhältnismässig gross. Das ist ein riesiges Problem, denn Wissenschaft muss wie gesagt in breiter gesellschaftlicher Akzeptanz verwurzelt sein, sonst fehlen uns auch perspektivisch die nachfolgenden Generationen an Forschenden. Deshalb müssen wir dringlichst die Wissenschaftskommunikation stärken. Vorbehalte und Ängste abbauen, in den Dialog treten und für Wissenschaft werben!
Welche Aspekte Ihrer Arbeit taugen denn zur Rettung der Menschheit?
Übergewicht, Fettleibigkeit und Diabetes stellen eine enorme Bürde für das Gesundheitssystem auf unserem Globus dar, mit weitreichenden sozioökonomischen Folgen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte existieren momentan mehr fettleibige Menschen auf der Welt als unterernährte. Abgesehen davon, dass sich Erstere ungern vorschreiben lassen, was beziehungsweise wie viel sie zu essen haben, kann man das Problem nicht so eindimensional darstellen. Denn jeder Mensch ist individuell und reagiert unterschiedlich auf Gegessenes. Was wir essen, wird im Darm zunächst von einer Vielzahl an Bakterien zersetzt und verstoffwechselt. Arten und Anzahl der Bakterien sind von Mensch zu Mensch verschieden. Übergewicht wird von einer niederschwelligen Entzündungsreaktion der Immunzellen im Fettgewebe begleitet, die wiederum durch die Stoffwechselprodukte unserer Darmbakterien ausgelöst werden könnte. Wenn wir die patientenspezifische Verbindung zwischen Ernährung, Darmbakterien, Stoffwechselprodukten und Immunzellen im Fett verstehen, stellt das die Grundlage dar für individuelle, computergestützte Behandlungsmöglichkeiten. Wenn meine Experimente und Simulationen funktionieren, kann damit der grossen Mehrheit der Menschen auf unserem Planeten geholfen werden.
Na ja. Sie könnten auch einfach weniger Mist essen. Aber das ist im kapitalistischen System nicht vorgesehen. Haben Sie noch einen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann?
Für die freie Forschung existiert anders als für die Pharmaindustrie keine Lobby. Ich würde mir wünschen, dass die breite Öffentlichkeit die Stellung der Wissensschaffenden stärker anerkennt. Dabei befinde ich mich als Wissenschaftler natürlich zunächst selbst in der Bringschuld: Ich muss den Menschen etwas liefern. Man biete mir eine Bühne …
Wird erledigt! – Herr Adlung, vielen Dank für Ihre Zeit.
Illustration Alex Solman