Binswanger

Crash in Zeitlupe

Deutschland steht für Stabilität, Vernunft, Mässigung. Doch die letzten Monate war das Regierungssystem damit beschäftigt, sich selber zu demontieren. Was ist da in Gang gekommen? Und wo wird es enden?

Von Daniel Binswanger, 17.02.2018

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Epochenwechsel unterliegen dem Gesetz der Plötzlichkeit. Der 11. September, die Lehman-Pleite, die Wahlnacht, an deren Ende Trump als Präsident feststand: Alle diese Ereignisse haben eine Vorgeschichte, aber als sie eingetroffen sind, haben sie das Gesicht der Welt mit einem Schlag verändert. Sie erschienen wie überraschende Unfälle, welthistorische Crashs, mit denen keiner gerechnet hatte. Sie hinterliessen eine traumatisierte Weltöffentlichkeit und produzierten einen Ozean an Kommentaren, Einordnungen, Erklärungsversuchen.

Gewisse historische Crashs vollziehen sich jedoch in Zeitlupe. Sie erreichen nie einen Kulminationspunkt, der die Geschichte in ein Vorher und ein Nachher unterteilt, sondern entfalten sich stufen-, portionen-, scheibchenweise. Sie schaffen keine plötzlich neu definierte Weltlage, sondern ziehen Folgen nach sich, die lange diffus bleiben. Bis man begriffen hat, dass die Situation sich fundamental verändert hat, können Monate oder auch Jahre ins Land gehen. Ein solcher Crash in Zeitlupe dürfte die deutsche Regierungsbildung sein.

Blenden wir zurück: Nach dem Regimewechsel in Washington, nach den verschiedenen Trump-Erklärungen zum neuen amerikanischen Unilateralismus, zur Überflüssigkeit der Nato, zur Überflüssigkeit der EU, zur Freundschaft mit Russland, zum atomaren Schlagabtausch mit Nordkorea, nach dem Austritt aus dem Klimaabkommen und der stillschweigenden Beerdigung des TTIP – nach sämtlichen Anschlägen auf die bestehende Weltordnung schien sich immer dieselbe Konklusion aufzudrängen: Der Fortbestand der westlichen Welt ruht künftig auf den starken Schultern der deutschen Kanzlerin.

Die strategische Verwirrung der Trump-Administration mag dem «amerikanischen Jahrhundert» ein Ende setzen, aber Europa unter Führung von Angela Merkel wird wenigstens teilweise an Amerikas Stelle treten. Washington mag Amok laufen, aber nichts wird die Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Kontinuität und Mässigung der deutschen Regierung in Gefahr bringen. Die Kanzlerin, so wurde behauptet, sitzt felsenfest im Sattel. Angela Merkel erschien als das unverrückbare Fundament, auf das die westliche Wertegemeinschaft nun bauen muss.

Von all dem ist heute nichts mehr übrig. Das unverrückbare Fundament hat sich ohne Knall, ohne Dramatik, ohne Schicksalstag – im Zug von Verhandlungen, die ins Leere führten, von personalpolitischen Querelen, die aus dem Ruder liefen, von Winkelzügen und Unentschiedenheiten – stückchenweise in Luft aufgelöst. Merkels politisches Überleben hängt nun an einer SPD-Urabstimmung über die Grosse Koalition, deren Ausgang völlig offen ist. Selbst wenn die Sozialdemokraten einer erneuten Regierungsbeteiligung zustimmen, bleibt schwer abzuschätzen, über wie viel politischen Spielraum die Kanzlerin unter den neuen Bedingungen noch verfügen wird. Wie gross ist ihre verbliebene Autorität innerhalb der CDU? Wie bedrohlich wird sich die AfD-Opposition entwickeln? Wie stark wird die FDP die deutsche Politik polarisieren? Die Bundesrepublik ist in eine neue Epoche eingetreten – durch die Hintertür, ohne dass man es recht zur Kenntnis genommen hätte.

Die neue Situation, die in Zeitlupe allmählich Form angenommen hat, wird durch zwei Faktoren geprägt. Zu einem ist es der Erfolg der AfD, der dem deutschen Sonderfall ein Ende setzt. Es ist zwar denkbar, dass die neuen Rechten sich selber zerfleischen werden, dass eine Entspannung der Flüchtlingskrise ihnen den Wind aus den Segeln nimmt, dass die rechtspopulistische Dynamik wieder abflacht. Aber ein fundamentales Tabu ist gebrochen. Eine hypernationalistische Partei mit rechtsradikalen Anbindungen ist Teil der offiziellen Politik der Bundesrepublik geworden. Der Banalisierungseffekt ist unausweichlich. Zum anderen zeigen gerade die endlosen Koalitionsverhandlungen, dass die Epoche der Grossen Koalitionen an ihr Ende kommt.

Deutschland erschien vor allem deshalb als Fels der Stabilität, weil es bis anhin das am stärksten in der Mitte zentrierte Parteiensystem vorweisen konnte. Eine verhältnismässig linke CDU/CSU und eine äusserst rechte SPD drückten dem Land den Stempel der Konsenskultur auf, schon lange bevor es zur Grossen Koalition kam. Dieser Konsens ist infrage gestellt, weil erstens der Rechtsradikalismus auf dem Vormarsch ist, zweitens weder die SPD noch die CDU momentan politische Erfolge feiern können und drittens die FDP die Polarisierung als Strategie entdeckt hat. Was auch immer kommen mag: Die deutsche Politik wird hässlicher werden. Viel weniger langweilig. Und viel weniger stabil.

Eine schlechte Nachricht dürfte das für die EU sein. Die europäische Politik, und insbesondere Emmanuel Macron, haben die letzten Monate mit «Warten auf Angela» zugebracht. Es wäre höchste Zeit, dass die Berliner Regierung wieder ihre Führungsrolle erfüllt. Der ausgehandelte Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD enthält jedoch nur vage Zustimmung zu Macrons Reformvorschlägen. Das ist besser als nichts. Und eine Regierung mit SPD-Beteiligung wird sicherlich europafreundlicher werden, als es eine Koalition mit Einschluss der FDP jemals hätte sein können. Aber erstens ist ein europäisches Investitionsprogramm weiter nicht in Sicht, und zweitens ist das Letzte, was Europa jetzt gebrauchen kann, eine schwache Kanzlerin. Genau das aber wird es voraussichtlich bekommen.

Der Harvard-Politologe Yascha Mounk (der gerade ein weiteres höchst bemerkenswertes Buch über Populismus publiziert hat) veröffentlichte in «Slate» eine vernichtende Analyse von «Deutschlands Trump-Moment». «Die politischen Institutionen des Landes versagen, aber niemand handelt, um etwas dagegen zu tun», ist seine Zusammenfassung der Situation. Wir haben gehofft, Merkels Deutschland sei der Gegenpol zu Trumps Amerika. Jetzt könnte Deutschland zur Slow-Motion-Version der USA werden.

Illustration Alex Solman