Studentinnen bei einer der regelmässigen Zivilschutzübungen. Eigentlich sollten dann alle Fahrer ihre Autos anhalten und alle Passanten in die Luftschutzbunker rennen. Eigentlich. Chung Sung-Jun/Getty

Südkorea verstehen

Die Winterspiele sind in vollem Gang. Was ist das für ein Land, in dem sie stattfinden? Was treibt die Menschen an, warum gilt der neue Präsident als ein asiatischer Macron, und überhaupt: Wie wurde alles, wie es ist? Der Korea-Experte Hannes B. Mosler erklärt das Land.

Von Ariel Hauptmeier, 13.02.2018

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Herr Mosler, regelmässig heulen in den südkoreanischen Grossstädten die Sirenen – Probealarm, um sich auf einen möglichen Angriff des Nordens vorzubereiten. Warum stört sich daran heute kaum noch jemand?
Als ich 1994 das erste Mal in Korea war, herrschte noch ein bisschen Disziplin: Alle Autos fuhren rechts ran, einige Passanten rannten in die U-Bahnschächte, die man sehr tief gebaut hatte, damit sie auch als Luftschutzbunker dienen. Das macht heute fast niemand mehr. Und wer es eilig hat, Taxifahrer etwa oder Motorradkuriere, hält noch nicht mal an, da können die Polizisten auf den Kreuzungen noch so viel gestikulieren.

Haben sich die Südkoreaner an die Bedrohung gewöhnt?
Seit Jahrzehnten droht der Norden, provoziert, aber dann wurde es doch wieder nicht brenzlig. Entsprechend abgehärtet sind die Menschen. Wobei die jeweils neuesten Aktionen des Nordens natürlich auch in Südkorea die Schlagzeilen bestimmen. Bis heute ist der Umgang mit Nordkorea der innenpolitische Zankapfel schlechthin. Daran scheiden sich die Geister von Konservativen und Liberalen.

Im Mai 2017 schlug das politische Pendel nach links: Das Land wählte Moon Jae-in zum neuen Präsidenten, einen Liberalen, der sich Grosses vorgenommen hat.
Das kann man wohl sagen. Um nur einige Themen zu nennen: Den Mindestlohn will er anheben, von umgerechnet sechs auf knapp zehn Franken in der Stunde, Studiengebühren verringern, Kitas erschwinglich machen. Auf den Norden zugehen, die hohe Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und die gesetzliche Wochenarbeitszeit reduzieren: von 68 auf 52 Stunden.

Moon Jae-in bei einer Wahlkampfveranstaltung im Mai 2017. Wenige Tage später wurde er zum Präsidenten gewählt. Seine Vorgängerin sass da schon im Gefängnis. Yonhap/Epa/Keystone

Die Amtszeit seiner Vorgängerin – der rechtskonservativen Tochter des früheren Diktators Chung-hee Park – endete desaströs.
Schon ihre Wahl war überschattet gewesen von Manipulationen durch Geheimdienst und Militär. Später liess sie Zeitungsredaktoren unter Druck und regierungskritische Künstler auf eine schwarze Liste setzen, tauschte Fernsehintendanten aus und liess einen japanischen Journalisten wegen «Verleumdung» anklagen. Demonstrationen wurden verboten, Demonstranten mit Wasserwerfern verletzt; ein Mensch starb dabei. Als dann noch herauskam, dass sich die Präsidentin Korruption, Geheimnisverrat und Nötigung vorwerfen lassen musste, ja, dass sie sich von einer obskuren Freundin hatte beraten lassen – da gingen erst Hunderttausende, später Millionen Koreaner an den Wochenenden auf die Strasse, in der Hand eine Kerze tragend, eine Tradition seit den Demonstrationen gegen die Diktatur. Staatsanwälte nahmen Ermittlungen auf, am Ende verfügte das Verfassungsgericht eine Amtsenthebung. Seitdem ist Frau Park in Untersuchungshaft. Ihre Regierungsführung war ein Rückfall in schlimme Zeiten. Beruhigend, dass so viele dagegen auf die Strasse gingen.

Überhaupt ist es ja erstaunlich, dass die Tochter eines Diktators Präsidentin werden kann. Schwer vorstellbar, dass in Spanien eine Frau Franco regieren könnte, in Portugal ein Herr Salazar.
Im Blauen Haus, dem Präsidentenpalast, gibt es eine Art Ahnengalerie mit Porträts aller zwölf bisherigen Präsidenten. Das Erstaunliche: Die Diktatoren hängen in einer Reihe mit den demokratisch gewählten Präsidenten. Die Vergangenheit wird von den Konservativen noch immer verklärt, die Diktatur eben als Wirtschaftswunder. Während der Preis, den man dafür gezahlt hat, all die Verhaftungen und Unfreiheiten, häufig unter den Teppich gekehrt wird.

Und nun kommt Moon Jae-in, und der will alles ganz anders machen.
Er ist ein Populist – im positiven Sinne. Im Sinne von: volksnah, mobilisierend. Er hat einen gesellschaftlichen Heilungsprozess angestossen, der nach den Fehlgriffen seiner Vorgängerin sehr nötig war. Die Enttäuschung, die Wut über die Eliten: Die musste man erst einmal abholen, und Moon macht das sehr geschickt. Nur ein Detail: Zu Anfang seiner Amtszeit hat er seine Staatskarosse wiederholt anhalten lassen und sich unter die Leute gemischt, um mit ihnen zu diskutieren und Selfies zu schiessen. Das kennt man hier nicht, und das kommt sehr gut an. Und seinen Amtssitz plant er aus dem hermetisch abgeriegelten Blauen Haus ins Regierungsgebäude in der Innenstadt zu verlegen – dort, wo die Demonstrationen waren.

Moon war lange Menschenrechtsanwalt. Als junger Mann wurde er von der Uni geworfen, weil er gegen die damalige Diktatur protestiert hatte. Während seines Militärdienstes gab es einen Zwischenfall an der Grenze: Nordkoreanische Soldaten töteten zwei US-Soldaten, die eine Pappel im Grenzgebiet stutzen sollten, weil sie die Sicht versperrte. Drei Tage später gehörte Moon zu den südkoreanischen Soldaten, die den Baum fällen mussten.
Und auch sonst hat er die Teilung des Landes am eigenen Leib erlebt: Seine Familie war nach dem Krieg aus dem Norden geflohen. Moon hat gesagt, es sei der sehnlichste Wunsch seiner greisen Mutter, ihre Verwandten in Nordkorea noch einmal zu sehen. Vor wenigen Tagen hat Präsident Moon die Schwester des nordkoreanischen Diktators im Blauen Haus empfangen – der offizielle Teil wurde komplett abgeschrieben und auf die Facebook-Seite des Blauen Hauses gestellt. Auch hier übt er sich in Sachen Transparenz. Dieses elitäre, geheimniskrämerische Gehabe, das seit den Zeiten der Diktatur die Politik geprägt hat, versucht er stückweise zu reduzieren.

Schon einmal gab es ja, um den Jahrtausendwechsel, eine Art Tauwetter mit Nordkorea.
Das war unter der ersten liberalen Regierung ab 1998. Aber die hat, aus konservativer Sicht, ihren Reformeifer überrissen und ist zu schnell auf Nordkorea zugegangen. Moon war Anfang der Nullerjahre Präsidialsekretär, er konnte aus nächster Nähe verfolgen, was damals schiefging. Und er hat daraus gelernt. «Konservativ-progressiv», das scheint mir sein Grundprinzip zu sein. Bei allem Reformeifer ist er immer auch vorsichtig und zurückhaltend.

Eines seiner Wahlversprechen war: aus der Atomenergie auszusteigen.
Und auch da verabreicht er die richtige Medizin. Als es Kritik am Atomausstieg gab, entschied er, das nicht von oben herab durchzusetzen, sondern richtete eine Art Bürgerforum ein, in dem Experten und Bürger miteinander diskutierten. Das Ergebnis war, dass der Ausstieg schrittweise erfolgen wird.

Der Satz, den man für gewöhnlich als Erstes über Südkorea liest, lautet: 1953, nach dem Koreakrieg, war es eines der ärmsten Länder der Welt, eine Art zweites Burkina Faso, während es heute zu den führenden Industrienationen zählt. Dabei wird eines unterschlagen: Die Japaner, die Korea seit 1910 besetzt hatten, industrialisierten das Land – und legten den Grundstein für das Wirtschaftswunder.
Das stimmt einerseits. Die Japaner bauten in der Tat Eisenbahnlinien, Rathäuser und Schulen. Allerdings entwickelten sie vor allem den Norden, denn dort waren die Bodenschätze, während im Süden Felder waren, die von den Japanern ausgebeutete Reiskammer. Wobei im furchtbaren Koreakrieg – bei dem rund drei Millionen Menschen starben und Seoul gleich mehrfach in Schutt und Asche gelegt wurde – die Infrastruktur fast komplett zerstört wurde. Und so bedurfte es der massiven Hilfe der Amerikaner – die hier, neben Deutschland, ein zweites Bollwerk gegen den Kommunismus errichten wollten –, bis die Wirtschaft in Fahrt kam. Übrigens dauerte es trotzdem bis Mitte der 1970er-Jahre, ehe der Süden den Norden wirtschaftlich überholte.

Lassen Sie uns in der Geschichte noch einmal einen Schritt zurückspringen. Jahrhundertelang hatte sich die Halbinsel abgeschottet. Im Westen hiess Korea darum «The Hermit Kingdom», das Einsiedlerreich. Warum die Selbstisolation?
Das hat vor allem mit der geopolitischen Lage zu tun. Korea liegt auf der Halbinsel zwischen China und Japan wie eine, so geht eine geläufige Metapher, «Garnele zwischen zwei Walen». Schon immer hat es Begehrlichkeiten geweckt, wiederholt gab es brutale Invasionen der Japaner und der Mandschu-Chinesen. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts verfolgte man eine strenge Isolierung von der Aussenwelt, die mit den Überfällen durch französische und US-amerikanische Schiffe Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal verschärft wurde.

Ausserdem: Der Konfuzianismus wurde Ende des 14. Jahrhunderts zur Staatsphilosophie, in einer viel strengeren Auslegung als in China. Leitbild war der gebildete Mensch, das Ideal, sich selbst zu kultivieren. Ein König war umso besser, je mehr er seinen Untertanen mit gutem Beispiel voranging. Man erging sich in Tugendhaftigkeit. Und so war dann, aus koreanischer Sicht, der Rest der Welt mit Barbaren bevölkert. Ein Grund mehr, sich abzuschotten.

1854 wurde Japan, bis dahin ähnlich verschlossen, von den Amerikanern zwangsgeöffnet – und setzte wenig später den Dosenöffner bei Korea an.
In der Tat, so muss man das sehen: Japan lernte am schnellsten vom imperialistischen Westen. Die Aggression, die seit der Zwangsöffnung von Japan ausging, hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung in Südostasien. Nicht lange, da begann Japan seine industrielle Aufholjagd – und wollte schon bald ein «Reich gründen wie die europäischen Länder». Korea war das erste Opfer. 1875 entsandte Japan, getreu nach amerikanischem Vorbild, ein Kriegsschiff zur Insel Kanghwa und liess das Feuer eröffnen. Im Jahr darauf wurde Korea der «Japanisch-Koreanische Freundschaftsvertrag» aufgezwungen.

1900: In langen Reihen ziehen japanische Truppen durch Korea. Mit jedem Jahr wurde die Besatzung schärfer. Sogar japanische Namen annehmen mussten die Koreanerinnen und Koreaner. Art Media/Print Collector/Getty

Der Dornröschenschlaf war vorbei. Und die Japaner wollten nun immer mehr.
Zunächst musste Korea drei Häfen für den Handel öffnen, bald zogen japanische Berater in die Ministerien ein. Man krempelte das Justizwesen um und die Kleidervorschriften und verbot die lange Pfeife, ein Statussymbol der koreanischen Oberschicht. 1895 erstach ein von den Japanern gedungener Mörder Königin Min und zwei Hofdamen. Nicht lange, da besetzte Japan das Land und begann mit dem Bau einer Eisenbahn – um Russland besser attackieren zu können. Der Annexionsvertrag 1910 war dann nur noch der Gnadenstoss. Damit endete auch die Joseon-Dynastie, die mehr als 500 Jahre überdauert hatte.

Wurde die Zwangsherrschaft der Japaner immer strenger und brutaler?
Ab 1930 lernten alle Schüler Japanisch, wenig später wurde Koreanisch weitgehend verbannt, die Bürgerinnen und Bürger mussten japanische Namen annehmen. Aber es gab auch Widerstand: Im März 1919 zogen Hunderttausende mit Nationalfahnen und dem Ruf «Lang lebe Koreas Unabhängigkeit!» durch die Städte. Sie kamen nicht weit: Japanische Soldaten schossen die Demonstranten nieder, geschätzte 7500 starben. Zugleich gründeten Politiker, die nach Shanghai geflüchtet waren, am 11. April 1919 eine provisorische Regierung. Von dort aus organisierten sie den Widerstand gegen die Besatzer.

In diesen Jahrzehnten wandelte sich Südkorea von einem vormodernen Feudalstaat zu einem modernen Nationalstaat. Machte also jenen Schritt, den man mit der Pubertät eines Menschen vergleichen könnte. Und dieser Entwicklungsabschnitt wurde den Koreanern komplett verwehrt, weil sie von Japan besetzt waren. Ein Umstand, der so manche «Unreife» der heutigen Gesellschaft erklärt, in der traditionelle und postmoderne Versatzstücke nebeneinanderstehen.

Und dann begann der grosse Krieg in Asien – und das ganz grosse Leid.
Die Japaner zwangsrekrutierten Millionen Koreaner und schickten sie an die Front, auch Frauen mussten zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Tokios Heeresministerium riss ab 1938 rund 200’000 Mädchen und Frauen aus Dörfern und Schulen und verfrachtete sie in die rund 2000 Militärbordelle in den von Japan besetzten Gebieten. Nicht wenige wurden zu Tode vergewaltigt, infiziert, exekutiert oder nahmen sich selbst das Leben – und keine von ihnen wurde nach dem Krieg von Japan finanziell entschädigt.

1950 brach der Koreakrieg aus. Hier machen sich fünf verwundete Soldaten des Südens auf den Rückweg von der Front. Bis zu drei Millionen Zivilisten starben während der Kämpfe zwischen Nord und Süd, Amerikanern und Chinesen. Hulton-Deutsch Collection/CORBIS/Getty Images

Der Weltkrieg endete für Korea damit, dass es von amerikanischen und sowjetischen Truppen befreit wurde.
Korea war ein Opfer des Krieges, kein Täter. Eigentlich wollte man die Halbinsel nach einer gewissen Zeit sich selbst überlassen. Doch schon bald sah Washington in Südkorea vor allem ein antikommunistisches Bollwerk – und setzte im Kampf gegen den Kommunismus auf die ehemaligen Kollaborateure, jene Offiziere, Beamte und Grossgrundbesitzer, die gemeinsame Sache mit den Japanern gemacht hatten. Heute würde man sagen, die einstigen Widerstandskämpfer hätten den moralischen Anspruch gehabt, das Land zu führen. Aber sie blieben aussen vor.

Die Teilung des Landes war also nicht zwangsläufig?
Es gibt in der Geschichte kein «Was wäre gewesen, wenn …». Es kam, wie es kam. Aber ja, theoretisch hätte es Alternativen gegeben. Doch es gab Kreise, die das verhindern wollten, angeführt von Rhee Syng-man. Ein machthungriger Politiker, ausgebildet in den USA, zugleich ein glühender Antikommunist. Er drängte, mit Unterstützung der Uno, auf rasche Wahlen. Und wurde 1948 der erste Präsident Südkoreas.

Nur wenig später versank das Land erneut im Krieg – der in die Teilung mündete. 1961, nach einem chaotischen Jahr, putschte sich im Süden General Park an die Macht – und begründete die berühmt-berüchtigte südkoreanische Entwicklungsdiktatur.
Er war ein Offizier, ausgebildet von den Japanern, und er plante die Industrialisierung wie eine Schlacht. Vor allem setzte er auf «Chaebols», Firmenkonglomerate, er schützte den Binnenmarkt durch hohe Einfuhrzölle und ermöglichte es den Unternehmen, ungestört von ausländischer Konkurrenz, hohe Profite im Inland zu erwirtschaften. Gleichzeitig zwang die Regierung die Unternehmen, diese Profite zu reinvestieren und ihre Produkte zu exportieren und sie so dem internationalen Wettbewerb auszusetzen. Das machte sie fortwährend besser. Wenn Arbeiter gegen schlechte Arbeitsbedingungen demonstrieren wollten, wurden sie als Kommunisten gebrandmarkt, wer in jenen Jahren als Staatsverräter galt, konnte mit dem Tod bestraft werden. Gewerkschaften waren verboten oder staatlich gelenkt, entsprechend effizient konnten die Arbeiter ausgebeutet werden.

General Park Chung-hee bei seiner Vereidigung zum Staatspräsidenten im Dezember 1963. Zwei Jahre zuvor hatte er sich an die Macht geputscht. Nun pushte er das Land nach vorn – die «Entwicklungsdiktatur» begann. United Archives/Keystone

Warum war die Diktatur so stabil?
Weil es den Menschen tatsächlich bald besser ging. Wer fleissig arbeitete, konnte aufsteigen, und das hat die Leute natürlich ruhiggestellt. Hinzu kam die Propagandamaschinerie, die «Neue-Dörfer-Bewegung», vorgeblich eine Stärkung der Dörfer und Kommunen, war zugleich natürlich auch ein Kontrollinstrument. Und zweitens holte auch Park den Konfuzianismus aus der Schublade. Einer der Lehrsätze davon ist ja, dass man den Vater ehren soll. Er steht der Familie vor, nach ihm kommt der Sohn, erst danach die Ehefrau. Während der Diktatur wurde dieses alte Denken zur Doktrin: Der Fabrikdirektor war nun der gute Vater, die Arbeiter mussten sich unterordnen, weil es sich nun mal schickt, sich für das Wohlergehen der Familie einzusetzen. Ähnliches gilt für den «Vater der Nation» – den Diktator, der ganz oben steht. Der Konfuzianismus ist keineswegs das «Wesen der Asiaten», wie es im Westen gern gesehen wird. Nein – er wurde gerade während der Diktatur zur Ideologie.

1979 wurde Park von seinem eigenen Geheimdienstchef erschossen. Im Jahr darauf gingen Bürger und Studenten im ganzen Land auf die Strasse. Sie hatten genug von der Diktatur. In der Stadt Gwangju kam es zu einem Massaker. Dort ist, sozusagen, der «Platz des Himmlischen Friedens» Südkoreas. Wie viele Demonstranten wurden erschossen?
Zwischen 200 und 2000. Man weiss es nicht.

Warum nicht?
Weil die Ereignisse der Diktatur bis heute nicht restlos aufgearbeitet sind. 1998 kam eben jene erste liberale Regierung an die Macht, zum ersten Mal waren die konservativen Eliten nicht daran beteiligt. Nun sollte Licht ins Dunkel der Vergangenheit kommen. Gesetze wurden verabschiedet, Kommissionen eingesetzt, um die japanische Besatzungszeit, die Kriegsverbrechen, die Diktatur aufzuklären. Die Gesellschaft war gespalten. Bürgerinitiativen von links und rechts wurden gegründet, Erstere wollten schonungslos aufklären, Letztere warnten davor, die Vergangenheit «aus dem Grabe» zu holen. Bis heute gibt es diesen scharfen «Kampf um die Vergangenheitsbewältigung».

Welcher Bereich der Vergangenheit ist besonders umstritten?
Die Kollaboration mit den japanischen Besatzern. Denn sie betrifft den Lebensnerv der Rechtskonservativen, die in direkter Linie zur Diktatur stehen – und zu den Kollaborateuren. Auch hier wurde 2005 mit der Aufklärung begonnen, auch gegen drei der grössten südkoreanischen Tageszeitungen.

Schon einmal, 1949, kurz nach der Staatsgründung, hatte eine Kommission eine Liste mit 7000 Kollaborateuren erstellt, die verhaftet und bestraft werden sollten. Doch die rechtskonservative Regierung kassierte die Liste. Ja, mehr noch: Sie organisierte Attentate gegen Kommissionsmitglieder, nahm sie unter dem Vorwand der Spionage fest, und als im Juni 1949 dann noch der einstige Präsident der Shanghaier Exilregierung ermordet wurde, brach die Arbeit der Kommission zusammen.

Und dann herrschte über 50 Jahre lang Ruhe?
Erst 2005 wurde wieder eine Liste mit den Namen von Kollaborateuren veröffentlicht. Viele Bürgerinnen waren schockiert: Plötzlich entdeckte man, dass verehrte, bedeutende Persönlichkeiten mit den Japanern gemeinsame Sache gemacht hatten. 2008 übernahmen die Konservativen erneut das Ruder. Und beendeten ein weiteres Mal den staatlich geförderten Blick in die Vergangenheit.

Wie ist eigentlich das Verhältnis zu den Amerikanern?
1980 gab es eine Welle des Antiamerikanismus: Die US-Streitkräfte haben bis heute den Oberbefehl über die südkoreanische Armee. Es kann keine grössere Truppenbewegung geben, ohne dass die Amerikaner davon wüssten. Das Massaker von 1980 haben sie vielleicht nicht befürwortet – aber sie sind auch nicht eingeschritten. Das führte dazu, dass sich die Studentenbewegung in Südkorea radikalisiert hat. Für sieben Jahre war dann noch einmal Ruhe. Doch 1987 war es so weit. Wieder gingen Hunderttausende gegen die Diktatur auf die Strasse. Den Herrschenden war klar, dass es keine Option war, noch einmal Panzer auffahren zu lassen. Und so wurde Südkorea doch noch zur Demokratie.

Aber es gab auch danach grosse Demonstrationen gegen die Amerikaner?
2002 wurden zwei Schulmädchen von amerikanischen Militärfahrzeugen überrollt, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden. Da gab es riesige Kerzendemonstrationen. Und erneut 2008, als die damalige Regierung unkontrolliertes Rindfleisch aus den USA importieren wollte. Heute hat sich dieser Antiamerikanismus aber weitgehend zerstreut. Linksliberale werfen Washington zwar vor, die Härte gegen Nordkorea mache das Regime dort nur stärker – während Rechtskonservative, wenn sie auf die Strasse gehen, neben der südkoreanischen Flagge immer auch die amerikanische schwenken.

Etwas ganz anderes: Bei den Pisa-Studien schneiden die südkoreanischen Schüler – zusammen mit den Japanerinnen – regelmässig am besten ab. Die Kehrseite: Schon Zehnjährige haben einen 18-Stunden-Tag, eine Mittelklassefamilie gibt bis zu einem Viertel des Einkommens für Bildung aus, und dieser erbarmungslose Leistungsdruck führt zu grossem Unglück – die Selbstmordrate unter Jugendlichen ist die höchste in den Industriestaaten. Wie diskutiert man heute in Südkorea darüber?
Das ist natürlich ein Thema. Viele haben erkannt, wie ungesund das ist. Zumal ja mit der Asienkrise von 1997 etwas Grundlegendes zerbrochen ist. Bis dahin war es beständig bergauf gegangen: Wer auf einer Elite-Uni studiert, wer einen Job in einer grossen Firma gefunden hatte, konnte davon ausgehen, dass die Firma ein Leben lang für ihn oder sie sorgen würde – jedes Jahr mit mehr Geld. Dieser Automatismus ist zerbrochen, der südkoreanische Traum ist geplatzt. Ab da hielten Arbeitslosigkeit, Unsicherheit und Stagnation auch in Südkorea Einzug.

Schülerinnen bei der Aufnahmeprüfung für eine renommierte Highschool. Seit Jahren haben sie darauf gelernt, der Druck ist extrem: Nur wer hier reüssiert, kommt vielleicht später auf eine gute Universität, findet so einen guten Job, kann einen erfolgreichen Partner heiraten. Ed Jones/AFP

Darum steht heute am Ende des Lernens eben nicht mehr der garantierte Eintritt in ein grosses Unternehmen. Obgleich man über Jahre 18 Stunden täglich gelernt, eine Elite-Universität besucht hat, ist damit nichts garantiert. Wobei, was sollen die Familien denn machen? Die Option «Weil ich es vielleicht doch nicht schaffe, lasse ich es lieber gleich» gibt es ja auch nicht. Und so ist das Problem erkannt, und alle sagen, es müsse sich etwas ändern. Aber das sind meist Lippenbekenntnisse.

Seit Jahren versucht die Regierung zudem, den Mittelstand zu fördern, um überdimensionierten Konkurrenzkampf abzuschwächen, um dieses Nadelöhr – Uni-Abschluss, Eintritt in einen renommierten Konzern – aufzulösen. Aber das ist gar nicht so einfach. Bis heute gilt es als unschick, bei einem Kleinunternehmen zu arbeiten. Alle wollen ins tolle Hochhaus eines der Grosskonglomerate. Wie zum Beispiel Samsung.*

Samsung, der grösste südkoreanische Konzern, macht alles: Fernseher und Handys, Computerchips und Apartments. Ed Jones/AFP

Wie sehen die Koreaner Samsung?
Einerseits ist Samsung der Traumarbeitgeber für jeden jungen Koreaner. Samsung ist ja der grösste Konzern des Landes, ein weitgefächertes Konglomerat mit mehr als sechzig Unternehmen, die Häuser und Fernseher bauen, Waschmaschinen und Computerchips, es gibt Werften, Chemie- und Biotech-Unternehmen, Hotels, Freizeitparks und ein Museum. Manche sprechen von der «Samsung-Republik»: Rund 15 Prozent des Brutto-Inlandprodukts kommt allein von diesem Konzern. Der, ähnlich wie Hyundai, LG oder Lotte, ein Überbleibsel der oben erwähnten «Chaebol» ist, der familiengeführten Grossunternehmen. Samsung ist also die koreanische Firma schlechthin, extrem innovativ, man verdient dort gut. Andererseits ist es auch ein Albtraumarbeitgeber: Es gibt keine richtigen Gewerkschaften, im Halbleiterwerk sind die Schutzmassnahmen schlecht, immer wieder sterben dort Leute an Leukämie, ohne dass Samsung bereit wäre, dafür Entschädigungen zu zahlen.

Der jüngste Lee, Samsung-Boss in dritter Generation, kam kürzlich aus dem Gefängnis frei. Er war in den Korruptionsskandal um die Ex-Präsidentin verstrickt. Und wurde nun in zweiter Instanz freigesprochen.
Von jeher ist diese führende Schicht der Konglomerate eng mit der politischen Elite verknüpft – und immer wieder kann sie den Kopf aus der Schlinge ziehen. Eben weil diese Unternehmen so gross sind, dass sie zum Wohlergehen des Landes beitragen, und weil sie dann jeweils den Teufel an die Wand malen: Wenn der und der nicht mehr da ist, dann bricht alles zusammen.

Die nächste Anekdote: Vor einigen Jahren erklärte eine Studentin in einer Talkshow: «Ich mag keine kleinen Männer. Grösse bedeutet Konkurrenzfähigkeit, und ich denke, kleine Männer sind Verlierer.» Der Skandal war gewaltig: Zuschauer erstatteten Anzeige wegen Beleidigung, eine Regierungsbehörde rügte eine «Verletzung der Menschenrechte». Was lernen wir daraus?
Dass Korea eine gnadenlose Konkurrenzgesellschaft ist. Das ist ein Ausdruck davon. Eine junge Frau aus allerbester Familie hat sich einmal in einem Internetforum damit verteidigt: Reiche Eltern zu haben, ist auch eine Leistung. Das ist genau so dreist, wie öffentlich zu sagen: Ich mag keine kleinen Männer. Zugleich steht es für das extrem gewachsene Selbstbewusstsein der gebildeten, jungen Frauen.

Eben war Korea noch eine patriarchalisch organisierte Gesellschaft, in der die Frau, frei nach Konfuzius, gleich dreifach gehorchen musste: ihrem Vater, wenn sie jung ist, ihrem Gatten, wenn sie verheiratet ist, ihrem Sohn, wenn sie verwitwet ist. Auch das ist heute anders.
Ja. Gerade die gebildeten Frauen lassen sich keineswegs mehr bevormunden – und haben so hohe Ansprüche an ihre Partner, dass sie lieber allein bleiben, als sich einen kleinen Macho ins Haus zu holen. Auch das trägt dazu bei, dass die Heiratsrate eine der niedrigsten ist unter den OECD-Ländern. Früher reichte es, ein Mann zu sein, um das Sagen zu haben, und wer dann noch einen guten Job hatte, dem war eine hübsche Frau sicher. Das ist heute keineswegs mehr so.

Ein Zitat aus dem «Stern»: «Das Wort Liebe gibt es im Koreanischen erst seit Ende des 19. Jahrhunderts – als Reaktion auf einen erfolgreichen, westlich beeinflussten Bestseller. Gebräuchlicher ist jeong: die gewachsene Zuneigung zwischen Eheleuten.» Was ist heute üblicher – die Liebesheirat oder die Zweckheirat?
Grundsätzlich gilt für all diese Phänomene die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen». Sie werden in der koreanischen Gesellschaft heute alles finden: Keuschheit, bis die Eltern den richtigen Partner gefunden haben – und schrankenlosen Hedonismus. Heiraten als Zweck und Heiraten aus Liebe. Kinder, die ihre Väter siezen, Jugendliche, die sich von ihren Eltern lossagen. Und das liegt eben daran, dass der Sprung in die Hypermoderne so unglaublich schnell war.

Noch ein Zitat: «Kürzlich gingen zwei koreanische TV-Stars nach wenigen Tagen auseinander, weil das Apartment, das er einbrachte, nur 90 Quadratmeter mass. Meine Tochter ist eine Wohnung mit 170 Quadratmetern wert, sagte die Schwiegermutter.»
Das ist nicht so verrückt, wie es vielleicht im ersten Moment klingt. Noch vor einigen Jahrhunderten bewiesen bei entlegenen Stämmen auf Borneo die jungen Männer ihre Heiratsfähigkeit, indem sie die Köpfe von getöteten Feinden an ihre Hütte hängten. Um allen zu zeigen, dass sie ihre Frau und Familie verteidigen können. Heute ist der Konkurrenzkampf nicht weniger gnadenlos. Und da müssen die jungen Männer eben zeigen, dass sie ihrer Angebeteten ein standesgemässes Dach über dem Kopf bieten können. Das Drama dabei: Viele junge Männer sind arbeitslos – und wer nichts hat, der kann nicht damit rechnen, dass ihn eine junge Frau erhört.

Kein Wunder, dass die Geburtenrate eine der niedrigsten der Welt ist.
Das hängt mit all dem Genannten zusammen. Und ganz allgemein mit der Unsicherheit. Wer will, wer kann in dieser Gesellschaft eine Familie gründen?

Letzte Frage – wie geht es mit Südkorea weiter?
Wenn ich das wüsste. Sicher ist – der neue Präsident war eine gute Wahl. Er möchte auf Nordkorea zugehen, und das ist ja innenpolitisch der zentrale Zankapfel. Die Rechtskonservativen versuchen gerade, ihm jeden möglichen Stein in den Weg zu legen, um diese Aussöhnung zu verhindern. Sie kritisieren ihn jeden Tag. Er sei der «Pressesprecher von Kim Jong-un». Wenn sich Moon hier durchsetzt, wenn es besser mit Nordkorea läuft, dann hätte der Präsident einen grossen Erfolg in der südkoreanischen Gesellschaft verbucht. Weil damit quasi bewiesen wäre: Es geht doch, anders als die Rechtskonservativen behaupten.

Allerletzte Frage – was hat Ihre Liebe zu Korea entfacht?
Ich bin kurz vor dem Abitur für sechs Wochen dorthin gereist und habe mich ziemlich schnell in das Land und seine Leute verliebt. Und in die wunderbare Natur. Es ist im Westen nicht so bekannt, aber es ist ein sehr schönes Land. Nicht nur die Strände und die Steilküste, auch die Berge haben es mir angetan, mit denen das Land zu drei Vierteln überzogen ist. Volkssport ist bekanntlich das Wandern. Zwar muss es auch da immer schnell gehen, der Weg interessiert wenig, das Ziel zählt, das fast schon tonnenweise geschulterte Essen soll zelebriert werden. Aber wenn das Picknick erst einmal ausgepackt ist, dann nimmt man sich Zeit zum Trinken, Lachen, Singen und Tanzen. Das habe ich sehr gemocht. Auch wenn man allein unterwegs ist, wird man sehr höflich gedrängt, doch bitte mitzuessen. Da ist der hektische Alltag weit weg, und auch Fremde werden mit offenen Armen aufgenommen. Das mag ich an den Koreanern: Ihre Herzen sind meist am rechten Fleck und ziemlich gross.


* Hier folgte in einer früheren Version die Frage nach einer Aktion von Samsung: Die Firma soll eine patentrechtliche Strafe von einer Million Dollar mit 30 Lastwagenladungen, gefüllt mit Fünf-Cent-Münzen bezahlt haben. Dies ist offensichtlich eine Falschmeldung. Wir entschuldigen uns dafür und bedanken uns bei Verleger Jens-Christian Fischer, der uns auf den Fehler aufmerksam gemacht hat.

Zur Person

Hannes B. Mosler. zvg

Hannes B. Mosler lehrt als Juniorprofessor am Institut für Koreastudien und an der Graduate School of East Asian Studies der Freien Universität Berlin. Zusammen mit Eun-Jeung Lee hat er 2015 den 700-seitigen «Länderbericht Korea» herausgegeben. Er forscht zu Parteien und Wahlen, dem politischen System und der Justiz in Korea und Ostasien.