Wie Demokratien sterben
Ein neues Buch geht der Frage nach, woran Demokratien zugrunde gehen. Ein hochaktuelles Thema.
Von Daniel Binswanger, 10.02.2018
Kampfhelikopter kreisen über dem Präsidentenpalast. Panzer fahren auf. Das gewählte Staatsoberhaupt, eine Kalaschnikow in der Hand, verschanzt sich mit den letzten Getreuen. Doch die Generäle machen kurzen Prozess: Nur Stunden später ist der Präsident tot, und die Militärjunta übernimmt die Macht. Mit einem Gewaltakt wird eine Demokratie über Nacht liquidiert.
So vollzog sich der Staatsstreich von Augusto Pinochet am 11. September 1973 in Santiago de Chile. Er ist prägend für die Vorstellung, wie eine Demokratie von einer Diktatur beseitigt wird: blutig, gewaltsam, im Kugelhagel. Das Problem mit dieser Vorstellung ist jedoch, dass ein Militärputsch im 21. Jahrhundert atypisch ist dafür, wie eine Demokratie zu Tode kommt. Meistens vollzieht sich der Prozess schleichend, stufenweise, ohne dass es zu spektakulären Gewaltausbrüchen käme. Meistens sind nicht blutrünstige Generäle, sondern ein versagendes Establishment, ein gleichgeschalteter Justizapparat, eingeschüchterte Medien und eine geschwächte Zivilgesellschaft dafür verantwortlich, dass demokratische Grundregeln erst geritzt, dann missachtet und schliesslich ausser Kraft gesetzt werden.
So lautet jedenfalls die These von «How Democracies Die» («Wie Demokratien sterben»), einem Buch der beiden Harvard-Professoren Steven Levitsky and Daniel Ziblatt, das in den USA die Bestsellerlisten erobert hat. Die beiden Spezialisten für vergleichende Politikwissenschaft liefern quer durch Epochen und Weltregionen – von Hitler und Mussolini bis zu Chávez, Fujimori, Erdogan und Putin – präzise Analysen dazu, auf welche Weise scheinbar funktionierende Demokratien in den Autoritarismus abgleiten. Sie zeigen, wie voraussetzungsreich und verwundbar das Funktionieren eines demokratischen Staatswesens ist. Und sie demonstrieren, wie brüchig und fragil die politische Kultur in der wichtigsten Demokratie der Welt – den USA – inzwischen geworden ist.
«Wenn Ihnen vor 25 Jahren jemand von einem Land erzählt hätte, in dem Präsidentschaftskandidaten damit drohen, ihre Konkurrenten ins Gefängnis zu werfen, in dem politische Gegner die Regierung anklagen, Wahlen zu fälschen und eine Diktatur zu errichten, in dem Parteien ihre Parlamentsmehrheit missbrauchen, um Impeachment-Verfahren zu lancieren oder sich selber Sitze am obersten Gericht zuzuschanzen, dann hätten Sie an Ecuador oder Rumänien gedacht, aber sicherlich nicht an die Vereinigten Staaten», meinen die Autoren lakonisch.
Beeindruckend an dem Buch ist zweierlei: Erstens erstellt es einen scheinbar für alle Länder gültigen Katalog von Machtmitteln, mit denen gewählte Volksvertreterinnen eine Demokratie in ein autoritäres Regime verwandeln können. Zweitens zeigen die Autoren, wie fundamental die Veränderungen sind, die Amerika über die letzten fünfzig Jahre geprägt und die die politische Kultur des Landes zur Unkenntlichkeit entstellt haben. Trump, so sagen sie, ist nicht der Grund, sondern das Symptom des politischen Sittenzerfalls in den USA. Er ist das Schaumkrönchen zuoberst auf der gigantischen Welle von autoritären Kräften, die in Washington an Macht gewonnen haben. Die Bedrohung der amerikanischen Demokratie ist älter als das Trump-Phänomen – und wird nicht vorüber sein, wenn er wieder aus der Landschaft verschwinden sollte.
Levitsky und Ziblatt identifizieren vier Merkmale, die Politikerinnen auszeichnen, welche antidemokratischen Impulsen folgen: Sie bekennen sich nur halbherzig zu demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln oder weisen sie offen zurück. Sie bestreiten die Legitimität von politischen Gegenpositionen. Sie rufen auf zu Gewalt oder tolerieren diese zumindest. Sie sind bereit, die Grundrechte ihrer Gegner einzuschränken, insbesondere die der Medien. Wenn ein Machthaber nur eines dieser Kriterien erfüllt, ist die Demokratie in ernster Gefahr. Das zeigt die historische Erfahrung. Trump erfüllt alle vier.
Besonders bitter an der Sache ist, dass Demokratien heute nicht im Namen totalitärer Ideologien und wilder Utopien zerstört werden – sondern im Namen der Demokratie. «Die grosse Ironie des Sterbens von Demokratien liegt darin, dass die sogenannte Verteidigung der Demokratie häufig den Vorwand liefert zu ihrer Zerstörung», schreiben die Politologen. Um den Tod der Demokratie vermeintlich zu verhindern, wird sie de facto euthanasiert. Das ist eine Strategie, die sich autoritäre Populistinnen rund um den Globus zunutze machen.
Das Grundproblem liegt darin, dass alle Demokratien dieser Welt darauf beruhen, dass sich die politischen Opponenten an eine gewisse Kultur, an ungeschriebene Regeln, an informelle Normen halten. Verfassungstexte und Institutionen können das Funktionieren einer Demokratie nicht garantieren. Das kann nur ein über die Zeit gewachsener, informeller Verhaltenskodex des Respekts. Levitsky und Ziblatt nennen das «institutionellen Langmut und gegenseitige Toleranz».
Mit institutionellem Langmut ist gemeint, dass demokratische Politikerinnen stets versuchen müssen, heute einen Deal zu finden, der es ihnen ermöglicht, auch morgen wieder zusammenzuarbeiten. Gegenseitige Toleranz sollte ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein, verträgt sich aber schlecht mit übermässiger Polarisierung. Wenn einzelne Parteien beginnen, ihre Gegner als «Verräter» zu brandmarken, entsteht ein Problem. Um einen Verräter zu bekämpfen sind alle Mittel legitim – auch diktatorische.
Ernüchternd sind die Gründe, die Ziblatt und Levitsky anführen, weshalb Toleranz und Langmut aus der amerikanischen Politik praktisch verschwunden sind. Aus ihrer Sicht setzte in den Sechzigerjahren ein Wandlungsprozess ein. Damals waren achtzig Prozent der amerikanischen Wähler und Wählerinnen weiss, verheiratet und christlich. Es gab zudem keine religiösen oder ethnischen Unterschiede in der Zusammensetzung der Wählerschaft der Republikaner und der Demokraten. Heute gilt das Gegenteil: Ethnische Minderheiten wählen grossmehrheitlich demokratisch. Evangelische Christen wählen nur noch republikanisch. Der demografische und soziale Wandel hat eine gesellschaftliche Diversität erzeugt, die das amerikanische System an seine Grenzen bringt.
Levitsky und Ziblatt sind überzeugt, dass die US-Demokratie diese Herausforderung bestehen muss und bestehen kann. Dass der demokratische Geist stärker ist als die Kräfte der Polarisierung. Aber Entwarnung geben wollen sie nicht. Donald Trump ist nun ein Jahr im Amt. Doch der historische Rückblick zeigt: Die Liste der Staatschefs, die demokratisch gewählt wurden, sich die ersten Jahre an die Spielregeln hielten und dann zu Despoten und aktiven Zerstörern des Rechtsstaates mutierten, ist lang.
Illustration Alex Solman