Ei Vater, sieh den Hut dort auf der Stange
Eine Ständeratskommission mischt sich mit einem Brief beim Bundesgericht ein. Das ist nur die neuste ärgerliche Episode im Trauerspiel um sogenannte Raserdelikte.
Von Marcel Alexander Niggli, 31.01.2018
Die ständerätliche Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen soll im Herbst laut Medienberichten dem Bundesgericht einen Brief geschrieben haben. Darin äussert sie offenbar den Wunsch, dass bei sogenannten Raserdelikten keine unverhältnismässigen Strafen verhängt, Härtefälle vermieden und richterlichem Ermessen und Einzelfall mehr Gewicht zugemessen werden sollen. Die Brisanz des Schreibens liegt darin, dass die Kommission zwar vorhat, die entsprechenden Gesetze zu ändern, dies aber noch nicht getan hat – das Gericht wurde quasi vorauseilend ermahnt. Das ist höchst erstaunlich und in mehrerer Hinsicht ärgerlich.
Dieser Brief ist nur die jüngste Episode in einem schon länger andauernden Trauerspiel. Der Reihe nach.
Lassen wir die unzulässige Vorwirkung (Regeln sollen gelten, bevor sie gelten) beiseite, so ist da vorweg die offensichtliche Verletzung der Gewaltenteilung durch den Gesetzgeber, konkret eine Kommission des Ständerats. In der Schweiz macht das Parlament zwar Gesetze, die Rechtsprechung ist aber immer noch nicht seine Sache, sondern die der Gerichte. In der Verkehrskommission sitzen immerhin vier Juristen; sie zumindest hätten die anderen über die Problematik solcher Briefe aufklären können. Aber vielleicht sehe ich das ja zu eng – und die Politiker orientieren sich bloss an einer bezüglich Gewaltenteilung um sich greifenden allgemeinen Gleichgültigkeit.
Von wegen «geritzt»
Gern – auch in diesem Fall wieder – heisst es jeweils öffentlich, die Gewaltenteilung sei möglicherweise «geritzt» worden. Das verniedlicht die Sache und verschleiert sie. Natürlich kann man ein Prinzip nicht «ritzen», und schon gar nicht ein für den Rechtsstaat so fundamentales. Man kann es verletzen und missachten; Verben, die einigen offenbar unangemessen hart erscheinen. «Ritzen» soll wohl ein Verletzen meinen, das vielleicht doch gar nicht so schlimm ist (manch einer wird sich möglicherweise erinnern, wann dieses Verb erstmals medialen Glanz erreicht hat).
Das nächste Ärgernis an der ständerätlichen Aktion ist, dass die betreffenden Regeln erst gerade per 2013 im Rahmen von Via sicura eingeführt worden sind. Entweder das Parlament hat innerhalb von fünf Jahren seine Meinung geändert, wofür die netteste Bezeichnung «wankelmütig» wäre. Oder es hat tatsächlich so lange gebraucht, um zu erkennen, dass die damals gefassten Beschlüsse Mumpitz waren. Das allerdings hätte man schon früher in aller Deutlichkeit sagen können und wurde auch gesagt: Links und Rechts versuchten damals – harmonisch geeint in ihrem Misstrauen der Justiz gegenüber –, deren Ermessen so stark wie möglich einzuschränken.
Je rigider eine Regel, desto ungerechter ist sie jedoch notwendigerweise im einzelnen Fall. Dass eine solche Mechanik auch noch mit massivsten Strafen kombiniert wurde, macht das Ganze noch ärgerlicher: Eingeführt wurden Strafen von einem bis zu vier Jahren. Das ist mehr als für fahrlässige Körperverletzung oder Tötung – für abstrakte Gefährdungen. Und damit sind wir beim wohl Ärgerlichsten an dieser ganzen unglücklichen Geschichte.
Es hätte ja etwas passieren können
Gemäss den damals beschlossenen Regeln geht bis zu vier Jahre ins Gefängnis, wer mit einer bestimmten Geschwindigkeit fährt. Dies auch dann, wenn er oder sie niemanden anfährt, verletzt oder tötet, selbst wenn gar niemand in der Nähe ist, der gefährdet wird, ja sogar dann, wenn er die Fahrbahn absperrt und durch Helfer sicherstellt, dass niemand gefährdet werden kann. Eine abstrakte Gefahr ist keine – könnte bloss eine sein.
Diese Logik des Strafens ist etwa so, als würde ich Männer dafür bestrafen, dass sie Männer sind. Denn aus der Tatsache, dass achtzig Prozent aller Delikte und fast sämtliche Gewaltdelikte von Männern begangen werden, ergibt sich ja, dass das Mannsein einhergeht mit der abstrakten Gefahr gewalttätigen Verhaltens. Mit anderen Worten: Abstrakte Gefährdungsdelikte sind Gesslerhüte, die es zu grüssen gilt, auch wenn gar niemand da ist – Regeln, die zu befolgen sind, weil sie befolgt werden müssen.
All dies war lange vor Einführung der Via sicura bekannt. Die neue Idee aber, das Schlamassel auch noch durch eine Verletzung der Gewaltenteilung (gepaart mit unzulässiger Vorwirkung) zu krönen, setzt dem Gesslerhut noch die Feder auf.
Illustration Alex Solman