Was die Mafia dem Skorbut zu verdanken hat
Jedes Kind kennt die sizilianische Mafia. Doch wie kam es vor rund 150 Jahren zur Entstehung der Organisation? Ein kleines Lehrstück über Bourbonen und Banditen, einen Schiffsarzt – und: Zitronen.
Von Mark Dittli (Text), 22.01.2018
Die sizilianische Mafia ist aus der heutigen Realität Italiens nicht mehr wegzudenken. Doch um die Entstehung der Cosa Nostra ranken sich diverse – edle und weniger edle – Mythen. Zum Beispiel, dass die Mafia aus einer mittelalterlichen Widerstandsbewegung gegen die französische Fremdherrschaft entstanden sein soll. Oder aus einer Gruppe von Landarbeitern, die gegen die Grossgrundbesitzer auf der Insel rebelliert haben.
Doch so richtig verbürgt ist das alles nicht. Fest steht einzig, dass die Organisation um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Westen Siziliens, im Hinterland von Palermo und Trapani, entstanden ist.
Nun haben drei Wirtschaftshistoriker in einem Beitrag im «Journal of Economic History» eine der bereits bestehenden Theorien mit neuen empirischen Daten unterlegt. Ihre These: Die Zitronen sind schuld. Und eine Mangelkrankheit namens Skorbut. Und schwache staatliche Institutionen.
Eine kleine Geschichte des Zufalls. Hier ist sie:
Schwache Institutionen, unzuverlässiges Rechtssystem
Anfang des 19. Jahrhunderts ist Sizilien arm. Die Insel ist Teil des vom Haus Bourbon kontrollierten Königreichs Neapel, von 1805 bis 1815 folgt ein kurzes Intermezzo mit französischer Besetzung, nach dem Wiener Kongress wird aus dem Königreich Neapel das Königreich beider Sizilien. 1861 stösst die Insel zum vereinigten Königreich Italien.
Allen Epochen ist gemein: Wer immer über Sizilien herrscht, er kümmert sich wenig darum. Die Staatsmacht ist schwach und fern. Sizilien ist für die Bourbonen – genau wie später für Rom – eine Nebensache.
Während Jahrhunderten herrscht auf der Insel das Feudalwesen. 1812 erhält Sizilien unter ausländischem Druck eine neue, moderne Verfassung. Das Feudalsystem wird abgeschafft, Ländereien versteigert. Viele ehemalige Gutsarbeiter werden zu Gutsbesitzern. Doch die Realität bleibt dieselbe: Die staatlichen Institutionen bleiben schwach, das Rechtssystem unzuverlässig. Banditen – «briganti» – streifen durch die Hügellandschaft. Wer seinen Besitz schützen will, stellt Sicherheitsleute ein, die sogenannten «campieri».
Sizilien ist eine Agrarwirtschaft. Oliven, Weizen, Wein, Orangen. Und: Zitronen. Die Zitruspflanze, wahrscheinlich auf die Insel gebracht von den Arabern im 10. Jahrhundert, gedeiht prächtig auf dem Lavaboden im gemässigten Klima Siziliens. Bis Ende des 18. Jahrhunderts spielt die Zitrone wirtschaftlich allerdings keine grosse Rolle.
Doch das sollte sich bald ändern. Und verantwortlich dafür ist ein Mann namens James Lind.
Mit Säure gegen den Tod
Der Schotte, 1716 in Edinburgh geboren, Schiffsarzt in den Diensten der Royal Navy, versucht während Jahrzehnten, ein Heilmittel gegen den Skorbut zu finden. Die Mangelkrankheit befällt regelmässig die Besatzungen auf langen Schiffsfahrten. Die Männer leiden unter Mundfäulnis, Zahnausfall und offenen, eitrigen Wunden am Körper.
Skorbut ist tödlich: Admiral George Anson verliert 1740 während einer Weltumsegelung 1400 seiner 1900 Männer. Die meisten davon an den Skorbut.
Lind ist überzeugt, dass den Männern auf monatelangen Seefahrten wichtige Nährstoffe fehlen. Er experimentiert mit Apfelwein, Schwefelsäure, Essig, Biermaische. Und mit Zitronensaft. Als James Cook 1768 auf seine Expedition um die Welt aufbricht, nimmt er auf Anweisung von Lind Sauerkraut, Kartoffeln, Orangen- und Zitronensaft als Skorbutmittel für seine Mannschaft mit.
1794 wird das entscheidende Jahr für die Zitrone. Auf einem Schiff der Royal Navy, der Suffolk, werden auf einer 23-wöchigen Reise nach Indien in einem kontrollierten Experiment der Mannschaft täglich 20 Milliliter Zitronensaft abgegeben. Es kommt zu keinem einzigen ernsthaften Ausbruch von Skorbut. Im folgenden Jahr nimmt die Admiralität Zitronensaft in den Verpflegungsplan der Flotte auf.
Von 1795 bis 1814 kauft die britische Admiralität mehr als 7,2 Millionen Liter Zitronensaft im Mittelmeerraum. Spätestens ab 1814, nach dem Ende der napoleonischen Kriege, etabliert sich Sizilien als bedeutendster Produktionsstandort für Zitronen. 1837 werden im Hafen von Messina 740 Fass Zitronensaft für den Export verladen. Dreizehn Jahre später sind es bereits 20’707 Fass.
Wer auf Sizilien Zitronen anbaut, wird nun rasch reich. Sehr reich. Es ist das alte Gesetz der Ökonomie: Die Nachfrage explodiert, das Angebot bleibt beschränkt – weil Zitronenbäume nur langsam wachsen. Also schiesst der Preis in die Höhe. Ein sizilianischer Gutsbesitzer erzielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einer Hektare Zitronenbäume einen 35-mal höheren Gewinn als mit einer Hektare Olivenbäume. Weizen und Wein geben noch weniger Profit.
Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann
Doch mit dem Reichtum wachsen die Probleme. Eine Zitronenplantage ist überaus wertvoll – ungleich wertvoller als eine Olivenplantage, ein Rebberg oder ein Kornfeld. Das Dilemma ist bloss: Zitronen sind einfach zu stehlen, viel einfacher als Oliven oder Weizen. Eine Banditenbande kann in einer Nacht eine Zitronenplantage leerräumen.
Auf Sicherheit durch den Staat können die Gutsbesitzer nicht hoffen. Das Rechtssystem bleibt schwach, auch nach der Vereinigung Italiens 1861. Also müssen sich die Gutsbesitzer selbst helfen. Sie rüsten ihre Sicherheitskräfte auf. Bewaffnete «campieri» patrouillieren fortan auf den Plantagen.
Doch es dauert nicht lange, bis die Männer erkennen, wie wertvoll ihre Dienste sind: Von der Produktion der Zitronen auf den Plantagen bis zum Transport an die Häfen sind die Gutsbesitzer auf Schutz angewiesen. Dieser Schutz lässt sich teuer verkaufen.
So entstehen Organisationen, die den Zitronenproduzenten ihre Schutzdienste verkaufen. Wer darauf nicht eingeht, wird bald Opfer eines Raubes, eines Brandes, eines Unfalls, verliert seine Zitronenernte auf dem Weg zum Hafen.
Geld gegen Schutz und sichere Geschäfte: ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. Die Mafia ist geboren.