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Binswanger

Die Ungleichheit, die wir wollen

Ein Bericht von Forschern um Thomas Piketty zur Ungleichheit liefert eine neue Grundlage zur Beurteilung der globalen Entwicklung. Doch statt Debatten gibt es Polemik.

Von Daniel Binswanger, 20.01.2018

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Thomas Piketty ist einer der bedeutendsten Ökonomen unserer Zeit. Verschiedene theoretische Aspekte seines Bestsellers «Das Kapital des 21. Jahrhunderts» werden kontrovers diskutiert. Dass seine umfassenden Statistiken über Einkommens- und Vermögensentwicklung die Debatte über Ungleichheit fundamental verändert haben, kann jedoch niemand bestreiten. Auch der riesige Korpus von Daten, den Piketty in seinem Hauptwerk präsentiert hat, ist in einzelnen Punkten kritisiert worden, teilweise zu Recht. Aber obwohl in den letzten Jahren kein anderes Werk so intensiv debattiert worden ist, konnten für die relevantesten Abschnitte seines Buches, nämlich die Darstellung der globalen Verteilungsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg, bisher keine entscheidenden Mängel nachgewiesen werden.

Noch wichtiger: Pikettys wissenschaftliches Ethos ist über jeden Zweifel erhaben. Die Schwachstellen seines Hauptwerks hat er nie zu kaschieren versucht. Und jetzt legt er gemeinsam mit einer über hundert Mitarbeiterinnen zählenden Forschergruppe einen neuen «Bericht zur weltweiten Ungleichheit» vor. Auch diese Daten sind nicht ohne Lücken, auch sie sind nicht perfekt. Für den Augenblick jedoch gibt es nichts Vergleichbares. Wer auf der Höhe der Forschung sein will, muss hier anknüpfen.

Umso absurder erscheint, dass Piketty für konservative Medien zum absoluten Feindbild geworden ist. Die NZZ erachtete es im letzten Oktober sogar als titelseitenwürdig, dass der Wirtschaftshistoriker Richard Sutch Piketty für gewisse Datenextrapolationen kritisierte – obwohl Sutch weder die wissenschaftliche Integrität seines Kollegen noch die Grundthese, dass seit dreissig Jahren die Vermögenskonzentration stark zunimmt, infrage stellt. Nach dem Erscheinen des neuen «Berichts zur weltweiten Ungleichheit» hat die NZZ den Ökonomen nun gar als «Hohepriester aller Antikapitalisten» bezeichnet – obwohl er keine Gelegenheit auslässt, den Kapitalismus explizit als das beste Wirtschaftssystem zu verteidigen. Allerdings fügt Piketty hinzu, die Demokratie müsse die Kontrolle über den Kapitalismus behalten. Ein doktrinärer «Wirtschaftsliberalismus» empfindet eine solche Position ganz offensichtlich als fürchterliche Provokation.

Was bringt der «Bericht zur weltweiten Ungleichheit» Neues? Erstens verlässlichere Zahlen: Erstmalig werden Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, von Steuerstatistiken und von Haushaltserhebungen systematisch kombiniert. Zweitens erfasst der Bericht auch Weltregionen, zu denen bisher nur wenige Daten vorlagen, zum Beispiel den Nahen Osten. Drittens wird im Gegensatz zu früheren Studien nicht nur die Entwicklung der obersten Einkommenskategorien analysiert, sondern auch diejenige der mittleren und unteren Lohnsegmente. Viertens werden nicht nur Einkommen, sondern auch die Vermögen statistisch erfasst. Die Daten des Berichts, die auch auf der Website der «World Wealth & Income Database» abrufbar sind, liefern eine umfassende Diskussionsgrundlage.

Das fundamentalste Ergebnis der Studie ist eine gute Nachricht. Sie bestätigt erneut, dass die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung ihre Situation seit 1980 stark verbessern konnte. Der Aufstieg der indischen und chinesischen Mittelklasse hat zur Folge, dass die unteren fünfzig Prozent der Weltbevölkerung heute im Durchschnitt rund doppelt so gut leben wie 1980.

Die schlechte Nachricht lautet: Es gibt auch relative Verlierer, nämlich die gesamte Unter- und Mittelschicht der industrialisierten Länder. Ihre durchschnittlichen Einkommensfortschritte sind viel bescheidener ausgefallen. Stark profitiert hat in den Industrienationen nur das oberste Prozent.

Entscheidend ist jedoch, dass zwischen einzelnen Industrienationen enorme Unterschiede bestehen. Das beweist, dass die Einkommensverteilung nicht gott- beziehungsweise marktgegeben ist. Sie wird geprägt von der Politik.

Der Vergleich zwischen den USA und Westeuropa ist besonders erhellend. Im Jahr 1980 – vor Präsident Ronald Reagan – unterschieden sich die Verteilungsverhältnisse in den beiden Weltregionen nur unerheblich. Das oberste Prozent verdiente in Westeuropa zehn Prozent des gesamten Volkseinkommens (vor Steuern). In den USA waren es elf Prozent. 2016 sieht es ganz anders aus: Während das oberste Prozent in Westeuropa zwölf Prozent des Gesamteinkommens beansprucht, sind es in den USA sagenhafte zwanzig Prozent. Sowohl Westeuropa als auch die USA sind ungleicher geworden. Aber in den USA ist die Veränderung viel brutaler.

Und das hat Konsequenzen: In Westeuropa ist der Anteil der Einkommen der unteren fünfzig Prozent in diesem Zeitraum von 23 auf 22 Prozent zurückgegangen. In den USA hingegen fiel er von 21 Prozent auf noch gut 12 Prozent. In den USA ist das Markteinkommen der unteren Hälfte der Bevölkerung während dreissig Jahren praktisch gar nicht mehr gewachsen. Die Einkommen der untersten zwanzig Prozent gingen sogar um einen Viertel zurück. Für Westeuropa liegen keine aggregierten Zahlen vor, aber einige Länder haben die Früchte des Wachstums relativ ausgewogen verteilt: In Frankreich zum Beispiel hat die untere Hälfte der Lohnempfänger um über dreissig Prozent zugelegt. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Lohn-, Steuer- und Sozialpolitik.

Pikettys neuer Bericht skizziert deshalb drei Szenarien für die künftige globale Entwicklung. Szenario 1: Die Welt folgt ihrem heutigen Entwicklungspfad wie bisher. Dann wird im Jahr 2050 die globale Ungleichheit voraussichtlich deutlich zugenommen haben. Szenario 2: Die Welt folgt dem Entwicklungspfad der EU-Länder. Dann käme es besser: Der Anteil der unteren Hälfte der Weltbevölkerung am Welteinkommen stiege um etwa einen Drittel. Szenario 3: Die Welt folgt dem Entwicklungspfad der USA. Dann wird dieser Anteil um etwa vierzig Prozent sinken – und die Welt wird noch einmal massiv ungleicher.

Das dürfte die sowohl gute als auch schlechte Nachricht sein: Es ist letztlich eine politische Frage. Wir hätten es in der Hand.

Illustration: Alex Solman