Rausgewunden
Stammtischpolterer in elegant: Wie Entscheidungsträger sich mit allerlei Floskeln um eine sinnvolle Debatte über Digitalisierung drücken – ein Erfahrungsbericht.
Von Adrienne Fichter (Text) und Leonard Rothmoser (Illustration), 18.01.2018
Ich bin in den letzten Monaten viel herumgekommen. Anlass war meist die Publikation meines Buches «Smartphone-Demokratie» im Herbst 2017. Das Kernthema – die Digitalisierung der Politik – interessiert und scheint einen Nerv zu treffen, was mich sehr freut. Die Fragestellung war fast immer dieselbe. Dafür unterschieden sich die Anlässe. Ich sass auf Podien von Kolloquien zu sicherheitspolitischen Themen, referierte an medienpolitischen Debatten der Grünen, bei einer Gesprächsreihe des «Zentrums für Geschichte» im Cabaret Voltaire in Zürich und bei bürgerlichen Stiftungen. Das Publikum bestand aus Krawattenträgern oder einem fast homogenen Grauschopfmeer, starrte entweder auf das Smartphone oder war völlig analog unterwegs, alt, jung, mit Kindern oder Gehstock, sehr geschlechterdurchmischt. Dies gab mir die Chance, regelmässig aus der eigenen Filterblase auszubrechen.
Doch mir ist eine Konstante aufgefallen, die mich zunehmend besorgt: Die Debatten zur Digitalisierung in diesem Land werden immer noch, nach so langer Zeit, regelmässig komplett lahmgelegt durch Akteure, die ich mangels eines eleganteren Begriffs hier Altfürsten nennen will. Diese Altfürsten sitzen auf allen Podien, sie dominieren die Bühnen, vor allem aber tun sie eines: Sie verunmöglichen seit Jahren, dass die Schweiz, ein eigentlich techaffines und politisch aufgewecktes Land, beim Thema Digitalisierung vorankommt. Das gelingt ihnen mithilfe einer ganz bestimmten Rhetorik, die jede brauchbare Diskussion sofort lahmlegt. Ich glaube, dass sich das jetzt endlich ändern muss – wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.
Populismus im Purpurmantel
Was macht sie aus, diese Altfürsten und ihre Rhetorik? Und was bewirkt sie? In meinen Fällen – viele andere haben ähnliche Erfahrungen gemacht – war der jeweilige Altfürst auf dem Podium, manchmal waren es auch zwei oder drei, rund zwanzig Jahre älter als ich, männlich und in einer hochrangigen beruflichen Position tätig. Ein Politiker, Philosoph, Journalist – jemand mit viel Erfahrungswissen jedenfalls, der belesen war und rhetorisch brillierte. Genau diese Brillanz setzen die Herren jeweils ein, um sich bei jedweder Diskussion sofort auf eine abstrakte, mit vielen Floskeln umrahmte Meta-Ebene zu flüchten, und das derart faktenfrei, dass eine fruchtbare Debatte schlicht unmöglich wird. Ihr Ziel dabei ist es nicht selten, die Welt möglichst rasch in angebliche Technologiefreunde und angebliche Technologiehasser einzuteilen – wobei sie selbst sich natürlich als Erstere inszenieren, man ist ja schliesslich jung geblieben und potent. Es ist nichts anderes als das, was auch Stammtischpolterer tun, einfach in elegant: Populismus im Purpurmantel. Was will man da mit Fakten oder gar Zahlen kommen? Auf Präzision beharren? Das macht doch nur die Stimmung kaputt.
Damit ich mich nicht desselben Vorwurfs schuldig mache: hier drei ganz konkrete Klassiker, die ich in den vergangenen Wochen erlebt habe.
Da sass auf einem Podium der Philosoph, der von der Idee des «digitalen transnationalen deliberativen Demos» schwärmte, die er (der übrigens selber über kein Social-Media-Profil verfügt) im Zusammenhang mit Social Media mit aller Vehemenz verteidigt. Selbstverständlich ist das eine wunderbare Utopie aus dem Lehrbuch: die Idee des Internets als freien Horts der demokratischen Debatte. Das kennen und lieben wir doch alle. Die ernüchternde Realität ist aber eine andere – nämlich diejenige der Kommerzialisierung des Internets. Die Zahlen sprechen hier eine deutliche Sprache: Die Mehrheit des Internetdatenverkehrs, satte siebzig Prozent, geht auf das Konto zweier Konzerne – Google und Facebook. Das ist die Realität, der man sich mit Geschwurbel und Ideologie nicht entziehen kann. Facebook ist gerade deswegen beliebt, weil es uns ermöglicht, darin dank Filteralgorithmen in ideologisch homogenen Gemeinschaften zu leben – und die soziale Komfortzone weder zum Zeitungslesen noch zum Einkaufen verlassen zu müssen. Daran ist rein gar nichts «transnational-deliberativ», sondern ganz viel wohl eher hyper-granular-kommerziell.
Allgemeinplätze statt Präzision
Ein anderes Beispiel ist der Politiker, der früher Journalist war und durch ebendiese Erfahrung seine Positionen ausreichend legitimiert sieht. (Auch er hat kein Social-Media-Profil.) Er fabulierte in einem siebenminütigen Monolog darüber, weshalb Fake-News kein echtes Problem für die Gesellschaft seien. Weil es diese nämlich erstens schon immer gegeben habe (ein jederzeit einsetzbares Totschlagargument) und weil zweitens die Propaganda früher noch viel perfider ausgefallen sei, nicht zuletzt wegen der Parteipresse. Auch dieser Herr verweigerte sich mit Allgemeinplätzen einer präzisen Debatte. Ja, Fake-News sind als Kategorie kein neues Phänomen. Fakt ist aber auch, dass Fake-News-Geschichten auf Facebook im US-Wahlkampf nachweislich (im Gegensatz zu früher lässt sich das inzwischen mit eindeutigen Klicks messen) mehr gelesen worden sind als jene der 19 grössten Qualitätsmedien wie etwa die der «New York Times». Fakt ist auch, dass die meisten Internetnutzer trotz des Hinweises, es könne sich um unwahre Inhalte handeln, diese Inhalte weiterhin ungerührt teilen. Fakt ist, dass der kommerzielle Markt für die Produktion frei erfundener Inhalte nach wie vor höchst attraktiv ist. Die gross angekündigten Gegenmassnahmen greifen kaum. Jeder kann sich mit seiner Website bei den Werbenetzwerken von Google und Facebook registrieren und wird nach der Anzahl Klicks bezahlt – unabhängig davon, ob die Inhalte wahr oder falsch sind.
Natürlich ist dies kein Grund für eine pauschale Verunglimpfung der Technologie. Man kann sich all dem aber auch nicht einfach mit Erfahrungen von «früher» und mit einem vagen Hinweis auf die Deutschschweizer Medienlandschaft von vor einer Generation entziehen. In unseren Breitengraden mögen Negativkampagnen auf Social Media vielleicht nicht mehr als kurz irritieren – in nicht-westlichen Ländern ohne robuste Medienlandschaft geht es bei Falschmeldungen brutal direkt um die Verteilung der politischen Macht. Und teilweise sogar um Leben und Tod. Laut einem Bericht der Organisation Freedom House tobt in 17 Ländern ein Informationskrieg. Etwa in Burma, wo buddhistische Hassprediger in den sozialen Medien die perfekte Plattform für Hetzkampagnen fanden – gegen die Minderheit der Rohingya. Oder auf den Philippinen, wo Kritiker des Präsidenten an den Pranger gestellt werden. Solche Entwicklungen verdienen eine ernsthafte Diskussion.
Noch ein dritter Fall: der Kommunikationsexperte oder Historiker, der stets dazu ermahnt – das Stichwort «mehr Bildung» ist beim Thema Digitalisierung ein Garant für Publikumsapplaus oder mindestens Kopfnicken –, man müsse diese Technologien «einfach nur besser nutzen». Dann lösten sich unsere Probleme wie Filterblasen, Fake-News, Bots, Populismus und Technofaschismus ganz von allein.
Nun, einige dieser Phänomene sind überhaupt erst wegen dieser politischen Achselzuckhaltung entstanden. Noch mehr Wegschauen, Nichtstun und ein bisschen Bildung setzt uns der realen Gefahr aus, dass noch mehr nationale Demokratien in Zukunft gehackt werden: von ausländischen Akteuren, inländischen Manipulationsarmeen oder einer Kombination davon. Mehr Bildung im Sinne der Altfürsten bedeutet nämlich mehr Anpassung an geheim gehaltene Algorithmen anstatt Widerspruch und Aufklärung. Auch hier wieder: Klare Antworten zu finden, ist nicht einfach. Sich mit funkelnden Verweisen auf den «transnationalen Demos», die auch nicht so guten alten Zeiten oder Bildung aus der Affäre zu ziehen, bringt uns aber sicher nicht weiter.
Was kann man dagegen schon sagen?
Den vielen Altfürsten, die sich derzeit auf Digitalisierungspodien im ganzen Land tummeln, ist der Schaden möglicherweise nicht bewusst, den sie mit ihrer nonchalanten Verweigerungstaktik anrichten. Oder vielleicht nehmen sie ihn auch in Kauf, getreu dem Motto: Nach der Redeflut die Sintflut. Mich machen solche Altfürsten-Auftritte immer zuerst einen Moment lang sprachlos. Wegen des unerschütterlichen Selbstvertrauens, mit dem die Ansichten vorgetragen werden. Vor allem aber wegen der Schamlosigkeit, mit der sie sofort jede Debatte ersticken. Ins Feld geführt werden nicht konkrete Argumente oder Fakten, die man angreifen oder widerlegen könnte. Ins Feld geführt werden der eigene Status, die eigene Abgebrühtheit angesichts der ach so aufgeregten Welt, die eigene feuilletonistische Schöngeistigkeit. Diese Rhetorik entzieht sich dem Diskurs. Was kann man dagegen schon sagen?
Nun, meine Taktik ist anstrengend, aber ich hoffe, dass sie irgendwann wirkt: Ich nehme ein umfassendes, möglichst wasserdichtes empirisches Arsenal mit.
Im Wahlkampf gegen Trump prägte Michelle Obama den Slogan: «When they go low, we go high!» Doch das schlug fehl. Besser funktioniert das Gegenteil: «When they go high, I go low!» Ich frische mein Wissen im Vorfeld eines Podiumsgesprächs nochmals gründlich auf, mit jüngsten und bekannten Studien aus Technologie-Blogs, stets mit dem Hinweis «Was wir bis jetzt wissen». Denn der Wissensstand kann sich bei diesem dynamischen Thema jederzeit ändern. Ich bringe auch möglichst konkrete Vorschläge mit, um eben doch eine präzise Diskussion zu erzwingen: Transparenz bei Algorithmen, das Recht auf Kopie der eigenen Daten oder ein Checks-and-Balances-System für eine digitale Gesellschaft, bei der immer mehr automatisierte algorithmusbasierte Entscheidungen getroffen werden. Statt mehr Bildung im Sinne von Unterwerfung an kommerzielle Spielregeln zu fordern, braucht es mehr kontrollierende Institutionen rund um Codezeilen und die Aufklärung darüber. Für meine Gesprächspartner hört sich das meist nach Science-Fiction an. Oder pauschal nach Bürokratie und Regulierung. Doch diese Reformideen stammen nicht von mir, sondern von klugen Köpfen, die in Institutionen täglich über die Wechselwirkungen von Gesellschaft und Technologien nachdenken. Ich trage sie bloss an ein grösseres Publikum heran. Fertige Antworten sind bei diesen Themen ohnehin unmöglich. Es würde reichen, wenn wenigstens endlich einmal eine differenzierte, kritische Debatte gelänge.
Bei der Digitalisierung geht es – nicht nur, aber auch – um nackte Zahlen. Vieles ist messbar. Wir sollten es nicht mehr länger akzeptieren, dass Altfürsten mit wolkigen Worten und vagen Meinungen diese längst überfälligen Debatten abklemmen – nicht auf Podien, nicht in Firmen und erst recht nicht in Politik und Medien.
Zu «Rausgewunden II – der Crashkurs für Altfürsten»
So weit die Polemik. Weil wir konstruktiv sein wollen – und auch durchaus erfahrene und verdiente Herren nicht aus der Debatte ausschliessen wollen –, folgt hier ein Sechs-Punkte-Kurzbriefing für neugierige Altfürsten. Darin: Zahlen und Fakten, hinter die nicht zurückgehen kann, wer eine sinnvolle Digitaldebatte führen will.