Der Schrecken der Nächte
Verhandeln bis zum Umfallen: vier Gründe, warum Angela Merkel zur mächtigsten Unterhändlerin der Welt wurde. Und warum der Nimbus der Unbezwingbarkeit ihr nun schaden könnte.
Von Andreas Rinke, 14.01.2018
12. Februar 2015: Erschöpft, aber zufrieden betritt Bundeskanzlerin Merkel das EU-Ratsgebäude in Brüssel, wo Europas Staatschefs zusammengetroffen sind, um über die Griechenlandkrise zu beraten, unter anderem. Merkel kommt aus Minsk, gerade hat sie 17 Stunden lang zusammen mit Frankreichs Präsidenten Hollande das Friedensabkommen für die Ostukraine ausgehandelt. «Es ist mucksmäuschenstill», als Merkel und Hollande von der langen Nacht in Minsk berichten, erzählt ein EU-Regierungschef danach. Als die beiden beschreiben, wie zäh und erbittert die Unterhandlungen mit Russlands Präsidenten Putin und dessen ukrainischem Kontrahenten Poroschenko waren. Der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borisow, der blumige Ausdrücke liebt, lobt später die «heroischen Anstrengungen».
Doch als Angela Merkel an jenem Abend von Journalisten gefragt wird, wie es ihr gehe, ist von Pathos keine Spur. Sie antwortet lapidar: «Mir geht es nicht schlecht. Und die Woche ist auch noch gar nicht zu Ende. Morgen ist ein Arbeitstag.» Ein Arbeitstag, an dem sie unter anderem mit dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras über die Konditionen des Euro-Rettungsprogramms ringen wird.
Auf diesem EU-Gipfel im Februar 2015 steht Angela Merkel ganz oben. Sie hat den Zenit ihrer Macht erreicht. Sie regiert Deutschland mit einer souveränen Mehrheit, hält die Fäden in Europa zusammen und hat sich einen Ruf als weltbeste politische Verhandlerin erobert. Die «New York Times» räsoniert, ob Angela Merkel die eigentliche Anführerin der freien Welt sei. Und nicht etwa US-Präsident Barack Obama.
Angela Merkel ist eine harte und zugleich grosszügige Verhandlerin. Sie ist unerbittlich in ihrer Konsequenz, Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen, detailversessen bis ins Kleinliche. Und zugleich eine, die auch darauf achtet, dass die Gegenseite zufrieden ist. Dass es zu einer Win-win-Situation kommt, mit dem beide Seiten leben können. Diese Mischung aus Härte und Kompromissbereitschaft hat sie weit gebracht.
Doch nun scheint ihr Stern zu sinken. Und paradoxerweise ist daran auch ihre Unbezwinglichkeit schuld. Aus Sicht ihrer innenpolitischen Konkurrenten und Zwangspartner war es immer Angela Merkel, die am Ende gut dastand. Wer mit ihr koalierte, verlor Wählerstimmen. Die SPD wurde aufgerieben in den langen Jahren zweier Grosser Koalitionen unter Merkel. Die FDP erlitt 2013 gar das Trauma, am Ende einer schwarz-gelben Koalition unvermittelt aus dem Bundestag zu purzeln.
Das hinterlässt Spuren. Ende November platzten die Jamaika-Sondierungen für ein Bündnis zwischen CDU und CSU, FDP und Grünen – und die Liberalen gaben Merkel dafür die Schuld. Als alles in Scherben lag, gab FDP-Chef Christian Lindner zu Protokoll: Er habe erwartet, dass die Kanzlerin so agieren werde wie in Brüssel. «Sehr grosse Verhandlungsgruppen, ständig wechselnde Formate, sehr lange Gesprächsdauer, um am Ende dann unter Druck der öffentlichen Erwartung Ergebnisse zu erzielen.» Jenes Rezept, mit dem Merkel so viele Krisen gelöst hat. Doch genau das wolle man nicht, sagte Lindner und liess Jamaika platzen.
Wie wurde Angela Merkel zu einer der mächtigsten und erfolgreichsten Verhandlerinnen der Welt? Und wie gefährlich ist dieser Nimbus für sie heute?
Erster Grund: Ausdauer und Vorsicht
Fragt man Angela Merkel, was sie geprägt hat, dann antwortet sie: ihre Jugend in der DDR und ihre wissenschaftliche Ausbildung. Elf Jahre lang arbeitet sie am Zentralinstitut für physikalische Chemie in Ostberlin, wo sie 1986 in Physik promoviert. Sie wächst in einem evangelischen Pfarrershaushalt in Brandenburg auf, ihr Vater steht ausserhalb des politischen Systems. Von klein auf lernt Angela Merkel, wie man sich in einem Spitzelstaat behauptet. Dass Schweigen manchmal Gold ist und Reden Silber. Dass man besser nicht vorprescht, sondern lieber erst mal abwartet. Dass man lernen muss, auf der Hut zu sein, vorsichtig und misstrauisch.
Als die Mauer fällt und Angela Merkel in die gesamtdeutsche Politik eintritt, wieder als Aussenseiterin, betrachtet sie verwundert, wie souverän und wie selbstsicher westdeutsche Politiker agieren. Spürte, dass sie auch hier Vorsicht walten lassen muss, um politisch zu überleben. Es gelingt. Nicht lange, da schiesst Kanzler Kohl sie in den engsten Machtorbit, wo man ihr, der jungen Ostdeutschen, einerseits einige Anfängerfehler verzeiht, sie andererseits die Mechanik des Herrschens aus nächster Nähe kennenlernen lässt. Angela Merkel ist 36, als Kohl sie zur Bundesministerin für Frauen und Jugend macht, 37, als sie an allen CDU-Präsidiumssitzungen teilnimmt, 44, als sie zur CDU-Generalsekretärin aufsteigt und Einblick erhält in die letzten, auch dunklen Ecken der Partei.
Und Merkel lernt fleissig: Im März 1995, da ist sie 40, leitet sie als Umweltministerin die internationale Klimakonferenz in Berlin, mit 160 Delegationen aus aller Welt. Erstmals kann sie proben, sehr grosse Verhandlungsgruppen zu leiten. Immer seltener passieren ihr nun Fehler. Wie der vom Mai 1995, nur wenige Monate später, als sie auf einer Kabinettssitzung in Tränen ausbricht, weil Kohl sie nicht bei ihrem Plan eines Sommersmog-Gesetzes unterstützt.
Das deutsche Parteiensystem sortiert Spitzenpolitiker auch nach ihrer Standfestigkeit aus: Nur wer endlose Partei- und Vorstands- und Koalitionsausschuss-Sitzungen souverän übersteht, kommt nach ganz oben. Merkel hat das nötige Sitzfleisch. Bis heute steckt sie endlose Brüsseler Nachtsitzungen mühelos weg. Während Silvio Berlusconi in EU-Ratssitzungen schon mal sanft entschlummert, läuft Merkel nachts zur Hochform auf. Auf dem EU-Gipfel im Dezember 2017 plauscht sie nach den Beratungen des ersten Tages bis kurz vor vier Uhr morgens mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron an der Bar – um am nächsten Morgen pünktlich um 9 Uhr wieder vor dem EU-Ratsgebäude vorzufahren.
Zweiter Grund: Frau Doktor seziert
Merkels Vorgänger Gerhard Schröder rüttelte vor seiner Amtszeit einmal am Zaun des Bonner Kanzleramts und rief: «Ich will hier rein!» Auch Angela Merkel hat diesen Machthunger, aber der Satz, der sie kennzeichnet, geht ganz anders. Er lautet: «Der Job einer Politikerin ist es, Probleme zu lösen.» Das hat sie in ähnlicher Form viele Male gesagt. Fast scheint es, als sei Merkel vom Lösen politischer Krisen ähnlich fasziniert wie andere vom Lösen kniffliger Denksportaufgaben. «Ich finde, dass die Arbeit der Bundeskanzlerin dahingehend eine sehr schöne und inspirierende Arbeit ist, dass man immer wieder neue Probleme hat», sagte sie etwa 2013 ohne einen Anflug von Ironie.
Politikerinnen aller Parteien loben, wie souverän und systematisch Angela Merkel verwickelte Themen angeht. Gerade so, wie sie es als Wissenschaftlerin gelernt hat. Oft zerlegt sie komplexe Aufgaben in kleinere Arbeitseinheiten, die sie dann Schritt für Schritt löst. «Sie ist gut im Abschichten grosser Probleme», bekennt ein SPD-Politiker, der oft mit ihr in Koalitionsausschüssen gesessen hat. «Sie schafft es, dass sich die Leute argumentativ annähern.»
Dritter Grund: Gnadenlos im Detail
Auch engere Parteifreunde seufzen, dass diese Strategie allerdings eine unangenehme Folge hat – sie kostet Zeit. «Gespräche mit ihr können auch dann zwei Stunden dauern, wenn ich schon nach 15 Minuten das Gefühl habe: ‹Es reicht›», bekennt ein CDU-Vertrauter. Ein Grund dafür ist Merkels berüchtigte Liebe zum Detail. Angela Merkel durchdringt Themen bis in ihre letzten, feinsten Verästelungen, das bestätigen Politiker jeglicher Couleur. Nicht immer ist damit ein Lob verbunden. Oft steckt darin auch Kritik: dass sich die Kanzlerin durch ihre Detailversessenheit auf Nebenschauplätzen verzettele.
Merkel erklärt ihre Detailliebe einerseits damit, dass sie immer anstrebe, besser vorbereitet in Gespräche zu gehen als ihr Gegenüber. Weil Wissen einen Vorsprung verschafft und die Kenntnis der Gegenargumente Stärke. «Besser ist es. Dann habe ich weniger Ärger», beschrieb sie schon 2009 die Vorteile einer minutiösen Vorbereitung. Umgekehrt gibt Merkel offen zu, wenn sie beeindruckt ist von der Detailkenntnis und der guten Vorbereitung anderer. Wie etwa bei Wladimir Putin oder bei den Grünen, die stets perfekt gerüstet bei den Jamaika-Sondierungen erscheinen. Merkel zieht daraus dann jeweils den Schluss: sich beim nächsten Mal noch besser vorzubereiten.
Im Lauf von zwölf Jahren Kanzlerschaft ist andererseits ihr Widerwillen gegen halbfertige Lösungen gewachsen. Merkel verhandelt lieber einige Stunden oder Tage länger, anstatt ein wolkiges, gut klingendes Einigungs-Konstrukt wenige Monate später wieder aufschnüren zu müssen. In der EU hat gerade diese Eigenschaft der Kanzlerin den Ruf einer unerbittlichen bis nervigen Verhandlerin eingetragen. Eine, die Entscheidungen immer wieder hinauszögert, weil sich die Gegenseite nicht im Detail festlegen will.
2015, in Minsk, geraten die Verhandlungen nach 14 Stunden in eine Sackgasse und drohen zu scheitern: Die prorussischen Separatisten pochen auf eine Einigung über den Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe. Während andere kurz davor sind, genervt das Handtuch zu werfen, arbeitet sich Merkel in die Details ein. Weitere drei Stunden später ist die «Minsker Einigung» perfekt. Sie gilt bis heute und hat in der Ostukraine, trotz aller Probleme, dafür gesorgt, dass aus den vielen kleinen Scharmützeln kein grosser Krieg geworden ist.
Vierter Grund: Bereit zum Kompromiss
Was Merkel dem politischen Gegenüber in Verhandlungen an Detailversessenheit und Zeit abverlangt, das fordert sie von ihren eigenen Leuten an Kompromissfähigkeit. Die Folge: Seit Beginn ihrer Amtszeit begleitet sie der Dauervorwurf konservativer Kreise, sie würde «Kernanliegen» der CDU verraten – auch wenn die Wehrpflicht vor allem auf Druck eines CSU-Verteidigungsministers abgeschafft wurde. Merkel verteidigt sich dann mit dem Hinweis, der «Kern» des Unionsdenkens bleibe bei ihren Entscheidungen sehr wohl erhalten. Aber sie sieht durchaus, dass ihr Politikansatz eine Zumutung für Dogmatiker aus den eigenen Reihen ist.
«Natürlich kann man in einer Sache über Jahre immer auf seinen Maximalforderungen bestehen und keinen Kompromiss eingehen. Ich entscheide mich sehr oft dafür, die Dinge wenigstens einen Schritt weiterzubringen, auch wenn ich weiss, dass ich dafür keinen ungeteilten Beifall erhalte», sagte sie etwa 1995 und bekannte eine für ihre Gegner provozierende Bereitschaft, am Ende alleine dazustehen. «Vielleicht ist ein Kompromiss eben gerade dann gut, wenn alle Beteiligten am Ende schlechte Laune haben – da muss ich mich dann alleine freuen.»
Merkel hält den Kompromiss schlicht für die Grundlage einer funktionierenden bundesrepublikanischen Demokratie, der EU und einer zunehmend verwobenen Welt. Dahinter steht auch ihr Wunsch, ihrem Gegenüber bei abweichenden Meinungen und Positionen das Gesicht wahren zu lassen. Es sei denn, er verletzt aus ihrer Sicht fundamentale Werte. Ihre Grundüberzeugung: Damit ein Verhandlungsergebnis hält, müssen auch die Interessen der anderen Seite berücksichtigt sein. Merkel setzt beim Verhandeln auf die Politik der kleinen Schritte, nicht auf Revolution. Ihre teilweise gelobte, teilweise kritisierte grosse Geduld ist die zwangsläufige Folge: Denn Verhandlungen und Entscheidungen sind in ihrem Denken immer nur Zwischenschritte.
Politik ist für sie letztlich ein endloser Prozess, in dem immer wieder neue Rahmenbedingungen für eine sich ändernde Realität geschaffen werden müssen. Journalisten sind schnell darin, einen EU-Gipfel ohne Ergebnis für gescheitert zu erklären. Merkel widerspricht. Für sie ist so ein Treffen – immerhin sind 28 Regierungen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Interessen beteiligt – ein wenn auch enervierender, so doch nötiger Zwischenschritt auf dem Weg zum nächsten Kompromiss.
Sie habe ihren Vorgänger Schröder immer darum beneidet, dass dieser so intuitiv und schnell Entscheidungen treffen konnte, hat Merkel einmal bekannt. Sie selbst agiert ja ganz anders: kühl, beharrlich, rational. Merkel: «Als Beruhigung habe ich einmal bei Henry Kissinger gelesen, jede Entscheidung sei, wenn sie gut sei, zu 51 Prozent richtig und zu 49 Prozent falsch, also jede Entscheidung für etwas ist auch eine Entscheidung gegen etwas, wo ich weiss, dass ich jemand Unrecht tue.» Das sagte sie bereits 1995. Eine Haltung, die Ideologen und Populisten jeglicher politischer Couleur provoziert, für die das Abweichen von einer einmal gefassten Meinung stets einen Verrat bedeutet.
Was nun?
Doch die Zeiten haben sich geändert. Angela Merkels Machtfülle ist Anfang 2018 nicht mehr dieselbe wie 2015. Nach einem schlechten Wahlergebnis amtiert sie als geschäftsführende Bundeskanzlerin. Eine neue Koalition lässt auf sich warten. Ihr Dilemma: Ihre Strategien funktionieren nur in einem Umfeld, in dem die Gegenseite nach denselben Regeln spielt. Denn als Kanzlerin einer Koalition, als eine Regierungschefin von 28 in der EU ist sie gar nicht in der Lage, anderen wirklich ihre Bedingungen zu diktieren und die «Basta»-Kanzlerin zu spielen. Auch wenn die US-Zeitschrift «Forbes» sie regelmässig zur mächtigsten Frau der Welt kürt: Schon der bayerischen Schwester- und Regionalpartei CSU gelingt es, ihr in jeder Legislaturperiode zwei, drei Kompromisse abzupressen, die ihr gegen den Strich gehen.
Jahrelang war dies alles kein Problem. Es war Konsens, dass demokratische Parteien und demokratisch verfasste Staaten nun einmal in einem fort nach Kompromissen suchen müssen. Doch dann kamen Erdogan und Putin, kam US-Präsident Donald Trump, der offen bekennt, kein Interesse an einer Win-win-Situation zu haben. Sondern darauf besteht, sein «America first» durchzusetzen. Oder Erdogan, der nach dem gescheiterten Putsch innenpolitische Härte zeigt – ohne Rücksicht auf aussenpolitische Verluste. Oder Putin, der zwar über die Ostukraine reden will, nicht aber über die Krim-Annexion, einen völkerrechtlichen Tabubruch. Oder der Brexit und eine britische Regierung, die das Grossprojekt EU für sich platzen lässt, weil sie glaubt, ohne die EU eigene Interessen besser durchsetzen zu können.
Merkel argumentiert zwar weiter, dass ihr Win-win-Ansatz noch immer gilt, gerade wegen der Erfahrungen mit Trump und dem Brexit. Dass globale Probleme wie der Klimawandel nur gemeinsam gelöst werden können. Und mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron hat sie nun wieder einen starken Partner an ihrer Seite für internationale Verhandlungen. Doch die Zahl der dezidiert nationalistisch denkenden Regierungen nimmt zu. Da erscheint Merkels Kritikern ihr Pochen auf einen rationalen Interessenausgleich als zu schwach. Oder als zu naiv.
Auch in der deutschen Innenpolitik hat sich der Wind gedreht. Vor allem durch die Flüchtlingskrise hat Merkel ihr Image als Anti-Polarisiererin eingebüsst, das sie parteiübergreifend genoss. Zwar sind ihre Zustimmungswerte, und das nach zwölf Jahren Kanzlerschaft, immer noch hoch. Aber AfD und FDP haben sich inzwischen als vehemente Anti-Merkel-Parteien aufgestellt. Sie wittern, dass sich derzeit ein Teil der deutschen Wählerinnen mit einer offenen Positionierung gegen die Kanzlerin gewinnen lässt.
Seit dem Abbruch der Jamaika-Sondierung fordern führende Liberale, dass sich die CDU «erneuern» müsse – ohne Merkel. Da schimmert immer noch eben jenes Trauma der FDP von 2013 durch, als die Partei, eben noch Teil einer schwarz-gelben Koalition, jäh an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und aus dem Bundestag flog. Das FDP-Spitzenpersonal lastet diese Niederlage bis heute Merkels erstickenden Umarmungen an. In der SPD sehen das viele ähnlich. Unionspolitiker widersprechen vehement – und betonen, wie viel die Kanzlerin beiden Parteien in den jeweiligen Koalitionen zugestanden habe.
Es gibt einen weiteren Grund, warum Merkels Stärke in Verhandlungen immer häufiger in Schwäche umgedeutet wird: Beharrlich pocht sie auf Verschwiegenheit, ist aber oft die Einzige, die sich daran hält. Das führt dazu, dass die Kanzlerin seltsam wehrlos wirkt, wenn die FDP plötzlich deren Verhandlungsstil als langatmig und nicht zielführend attackiert. So blieb unerwähnt, dass sie den drei Jamaika-Parteien mehrfach anbot, es könne gern mal jemand anderes die Sondierungen moderieren – was die anderen dankend ablehnten. Und es war CDU-Vize Julia Klöckner, die darauf verwies, wie etwa der FDP-Politiker Volker Wissing nach dem Scheitern von Jamaika sein Fähnchen in den Wind hängte. Eben noch hatte dieser Merkels Verhandlungsstil öffentlich als «sehr sachlich und konstruktiv» gelobt. Einen Tag später kritisierte er Merkels Verhandlungsstil als «chaotisch». Und die Kanzlerin? Schwieg auch dazu.
Längst haben Auguren eine «Kanzlerinnen-Dämmerung» ausgerufen. Denn auch die Gespräche mit der SPD zur Bildung einer ungeliebten dritten Grossen Koalition unter ihrer Führung bergen grosse Risiken und können jederzeit scheitern, etwa bei der SPD-Mitgliederbefragung. Merkels Image als «Madame Fix it», als Personifizierung für Stabilität, könnte dadurch weiter leiden. Allerdings: Noch ist die Zählebigkeit der Politikerin nicht wirklich ausgetestet. Ständige Abgesänge haben sie durch ihre gesamte Amtszeit begleitet. Und denjenigen in SPD und FDP, die auf einen Abtritt der versierten Verhandlerin im Falle des Scheiterns von Koalitionsgesprächen hoffen, hat Merkel bereits einen Dämpfer erteilt: Im Falle von Neuwahlen werde sie auf jeden Fall wieder Spitzenkandidatin der Union sein, kündigte sie an. Die versteckte Botschaft: Dann könnt ihr auch gleich jetzt mit mir verhandeln. Ihr werdet mich eh nicht los.
Auch das ein Verhandlungskniff.